Ein junger Mann tippt auf einem Smartphone eine WhatsApp Nachricht.
Mobbing, Missbrauch, Drogen, Liebeskummer - Themen, die Kinder und Jugendliche völlig aus der Bahn werfen können. Wenn sie nicht mehr wissen, wie es weitergehen soll, können sie sich an die Mail-Beratung U25 in Dresden wenden. Bildrechte: picture alliance/dpa | Karl-Josef Hildenbrand

Krisenberatung Suizid-Prävention "U25" in Dresden: "Es geht darum, dass jemand zuhört"

05. Februar 2024, 21:53 Uhr

Suizid gilt als zweithäufigste Todesursache der unter 18-Jährigen in Deutschland. Hinter dem Gedanken, nicht mehr weiterleben zu können oder zu wollen, stecken ganz verschiedene Schicksale: Psychische Erkrankungen, persönliche Krisen oder Missbrauch sind nur einige von ihnen. Dass es fast immer einen Ausweg aus dieser schwierigen Lage gibt, will das Projekt "U25" zeigen. Per Mail können sich junge Menschen an gleichaltrige Beraterinnen und Berater wenden. Eine von ihnen ist die 23 Jahre alte Aylin. Im Interview mit MDR SACHSEN gibt sie Einblicke in ihre Arbeit.

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Sie arbeiten in einer Beratungsstelle für suizidgefährdete junge Menschen und sind selbst erst Anfang 20. Was hat Sie zu ihrem Ehrenamt bei "U25" in Dresden gebracht?

Aylin: Ich war selbst schon mal von diesen Problemen betroffen und weiß, wie unschön das ist, wenn man niemanden hat oder nicht viele Personen hat, mit denen man offen darüber reden kann. Ich versuche, für die Menschen da zu sein, damit sie sich nicht so alleine fühlen - alleingelassen mit ihren Problemen.

Was ist "U25"?

"U25" ist ein Projekt der Caritas. Es richtet sich an Kinder, Jugendliche und junge Menschen bis 25. Seit 2013 gibt es die Beratung am Standort Dresden. Deutschlandweit gibt es insgesamt elf Standorte. Das Konzept des Projekts basiert auf digitaler Beratung: Junge Menschen helfen Gleichaltrigen in Krisen und bei Suizidgedanken.

Ziel ist es, Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene durch Krisen zu begleiten und für sie da zu sein. Das Projekt ersetzt allerdings keine Therapie, sondern versteht sich als niedrigschwelliges Beratungsangebot. Die sogenannten Peers (englisch: Gleichberechtigte oder Ebenbürtige) durchlaufen eine mehrwöchige Schulung, bis sie Beraterinnen und Berater werden.

Quelle: U25

Und diese Probleme sind sicherlich vielfältig - oder melden sich ausschließlich suizidgefährdete Menschen bei Ihnen?

Wir beraten häufig nicht nur Menschen mit Suizidgedanken. Es kommen auch viele andere Themen dazu: Alkohol, Drogen, sexueller Missbrauch, Liebeskummer. Themen, die im Kindes- und Jugendalter präsent sind und auch meistens hinter den Suizidgedanken stehen, denn die kommen ja in den meisten Fällen nicht einfach so.

Verzweifelter Mann hinter staubiger, zerkratzter Glasscheibe 1 min
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MDR SACHSEN Mo 05.02.2024 19:16Uhr 00:48 min

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Mail-Beratung in einer persönlichen Krise, wie kann man sich das vorstellen. Wie läuft das ab?

Ganz am Anfang kommt die Erst-Anfrage einer Person, dann wird geschaut: Zu wem könnte die Person passen? Da geht's ums Alter, um die Themen, die vielleicht schon angesprochen wurden in der ersten Anfrage. Es ist zum Beispiel unpraktisch, wenn eine 25-Jährige mit einer Zwölfjährigen schreibt. Das ist sehr weit auseinander.

Die Erst-Mail lese ich durch und lasse das sacken, um meine Gedanken zu sammeln. Beim zweiten Lesen mache ich Stichpunkte: Was könnte ich zurückschreiben? Und an einem anderen Tag formuliere ich dann meine Mail dazu. Das sind zwei Stunden, wenn man das zusammenrechnet – es kommt aber sehr auf die Anfrage an. Und danach wird auf die Antwort des Klienten gewartet.

Kommt die in der Regel?

In ungefähr 50 Prozent der Fälle kommt keine Antwort. Das liegt dann aber meistens nicht an uns, sondern es wurde zum Beispiel das Passwort vergessen. Das kann man bei U25 nicht speichern oder wieder zurücksetzen mit einer Passwort-Vergessen-Option, das ist dann weg.

Wenn eine Antwort kommt, dann bekomme ich die und schreibe wieder eine Antwort. Die geht aber bei mir derzeit noch ins Feedback, weil ich noch nicht so lange dabei bin. Da lesen die Hauptamtlichen noch mal drüber und geben Rückmeldung: Das kannst du verbessern oder das finde ich gut. Wenn alles gut ist, wird die Antwort so abgeschickt. Wenn noch was zu verbessern ist, dann wird es dazugeschrieben, geht noch mal ins Feedback und dann geht die Mail raus.

Wer nutzt Ihre Beratung, also wer schreibt Ihnen Mails?

Ich würde es "gescheiterte Existenzen" nennen - das ist nicht negativ gemeint. Diese Menschen haben keinen festen Boden mehr unter sich. Die wissen nicht mehr, wie sie weiter machen sollen: 'Habe ich überhaupt noch eine Perspektive?' Aber auch Menschen, die fest im Leben stehen, denen aber irgendetwas passiert, wo sie sich nicht mehr sicher sind, ob sie damit weitermachen können oder wollen. Die Altersspanne ist zwischen 12 und 25.

Sie lesen da sicherlich auch sehr belastende Geschichten. Wie schaffen Sie es, das nicht mit nach Hause zu nehmen?

Meistens habe ich nicht das Problem, dass ich es mit nach Hause nehme. Wenn ich den Laptop zuklappe, dann bin ich wieder in meinem Leben und der Rest bleibt in meinem Computer.

Aber wenn man einen Fall hat, wo es schwierig ist, gucke ich, dass ich mit Familie oder Freunden darüber rede – aber immer so, dass der Datenschutz gewahrt ist. Das ist sehr wichtig. Ansonsten hilft es auch, einen lustigen Film zu schauen oder eine Serie, auszugehen oder spazieren zu gehen.

Ein Mädchen schaut auf ein Mobiltelefon, dass auf einem Schulheft liegt
Jugendliche, die persönliche Probleme haben, können sich anonym und kostenlos per Mail beraten lassen, wenn sie nicht mehr weiter wissen. Eine E-Mail-Adresse ist dafür nicht unbedingt notwendig. Bildrechte: Colourbox.de

Wo liegen die Grenzen in dem Angebot von "U25"?

Wir sind keine professionelle Therapie, wir sind Peers. Das heißt, wir sind Gleichaltrige, die versuchen da zu sein und neue Perspektiven zu zeigen.

Auch wenn die Person sich entanonymisiert, also den kompletten Namen schreibt, dann ist das eine Grenze von "U25". Und wenn Suizidankündigungen kommen.

Was passiert wenn jemand einen Suizid ankündigt?

Wenn die Person vorher ihren Namen geschrieben hat oder wo sie sich töten möchte, wird die Polizei informiert. Aber ansonsten können wir dann nicht viel machen.

Ist das schon vorgekommen?

In meiner Beratungszeit ein Mal. Da war ich erst wenige Monate dabei und es war entsprechend schwierig. Aber man bekommt das gemeistert. Die Hauptamtlichen sind auch immer für einen da, wenn etwas schwierig ist.

Und wie gehen Sie mit den anderen Klienten um, die ihren Namen nennen?

Es gibt zwei Möglichkeiten: Die Person kann sich noch mal neu anmelden und kommt dann höchstwahrscheinlich an einen anderen Peer. Oder aktives Vergessen, wenn beispielsweise der Vorname genannt wird und man für sich als Peer sagt: 'Ich kann das vergessen, wir machen weiter', kann die Beratung auch weitergehen.

Wichtig ist am Ende, dass die Anonymität gewahrt wird. Nicht nur von den Klienten, sondern auch die von uns. Deshalb beantworten wir auch immer mit einem Pseudonym die Mails.

Warum legen Sie so großen Wert auf diese beidseitige Anonymität?

Es ist nicht gewollt, dass beispielsweise ein Klient einen Peer auf Social Media finden kann oder versucht, mit der Person zu schreiben. Es ist eben eine reine Mail-Beratung.

Was suchen die Menschen, die sich an Sie wenden? Hilfsangebote oder eher ein offenes Ohr?

In erster Linie geht es darum, dass jemand zuhört, ein offenes Ohr hat, dass jemand da ist. Das hilft teilweise schon extrem. Wenn es ganz spezielle Probleme sind wie Wohnungsnot, fragen wir die Klienten, ob wir ihnen eine andere Beratungsstelle nennen sollen, wo sie sich hinwenden können. Oder ob wir ihnen einen Link zu dem Thema schicken sollen, über den sie sich informieren können. Aber das passiert immer in Absprache mit den Klienten und mit ihrem Einverständnis.

Sie sind jetzt etwa ein halbes Jahr Peer bei "U25". Konnten Sie als Beraterin tatsächlich etwas "zurückgeben"?

Ja, ich kann insofern viel zurückgeben, als dass ich die Situation oft verstehe. Gerade Menschen, die selbst so etwas erleiden mussten, können sich viel besser in die Person hineinversetzen. Das heißt aber nicht, dass Menschen, die noch nie etwas damit zu tun hatten, sich nicht hineinversetzen können.

Was ich noch wichtig finde: Suizid ist ein viel zu starkes Tabu-Thema, obwohl extrem viele Menschen in irgendeiner Weise schon mal davon betroffen waren. Alle Menschen, die ich kenne, hatten damit schon mal etwas zu tun – und das sind verdammt viele.

Vielen Dank für das Gespräch!

Mehr zum Thema "Tabuthema Suizid" sehen Sie in der Sendung "Fakt ist!" aus Dresden ab 22:10 Uhr im MDR Fernsehen und in der ARD-Mediathek.

Weitere Hilfe bei Suizidgedanken, persönlichen Krisen und Depressionen Sie haben Selbsttötungsgedanken oder eine persönliche Krise? Die Telefonseelsorge hilft Ihnen rund um die Uhr: 0800 1110-111 und 0800 1110-222. Der Anruf ist anonym und taucht nicht im Einzelverbindungsnachweis auf.

Wenn Sie das Gefühl haben, an einer Depression zu leiden, hilft Ihnen das Info-Telefon Depression unter 08003344533 oder die Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Weitere kostenfreie Angebote hat die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention aufgelistet - beispielsweise für Jugendliche (116111) und Eltern (0800 111 0 550).

Hinterbliebene nach einem Suizid können Hilfe beim Verein AGUS unter 0921 150 03 80 oder auf der Internetseite www.agus-selbsthilfe.de finden.

MDR (pri)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | FAKT IST! | 05. Februar 2024 | 22:10 Uhr

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