Innere Sicherheit Sachsens Verfassungsschutz: Protestbewegungen werden radikaler
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21. Februar 2023, 13:39 Uhr
Der Verfassungsschutz in Sachsen stellt fest: Protestbewegungen werden radikaler. Gleichzeitig suchen extreme Ränder den Anschluss in der Mitte. Das gelte auch für die eher von Linken dominierte Klimabewegung, sagte Behördenchef Christian. Die Hauptgefahr bleibe aber weiterhin der Rechtsextremismus in Sachsen. Das Protestpotenzial in Sachsen gilt als latent stabil. Zwar nicht bei den Themen, die je nach persönlicher Betroffenheit wechseln, aber in der Anti-Haltung zur Bundesregierung.
Die Protestbewegungen werden radikaler, stellt Sachsens Verfassungsschutz fest. "Sowohl die Corona-Proteste als auch die Anti-Flüchtlings-Proteste haben zu einer Entgrenzung in der Mitte der Gesellschaft geführt. Rechtsextremisten propagieren Themen und finden damit Anschluss in der bürgerlichen Mitte", sagte der Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV), Dirk-Martin Christian, der Deutschen Presse-Agentur. Menschen aus der Mitte der Gesellschaft würden extremistischen Positionen nicht widersprechen und hätten nichts dagegen, gemeinsam mit Rechtsextremisten an der Seite zu demonstrieren.
Mitte der Gesellschaft wird brüchig
In Sachsen gebe es unverändert ein latentes Protestmilieu. Zuletzt seien Leute auch wegen des Ukraine-Krieges und der Energiepreise auf die Straßen gegangen. Die Proteste hätten aber bei weitem nicht Ausmaße erreicht wie während der Corona-Pandemie oder zur Flüchtlingskrise 2015.
Christian: "Wutwinter ist ausgeblieben"
Bereits Ende November 2022 stellte der Soziologe und Protestforscher an der Universität Leipzig, Alexander Leistner, fest, dass die Mobilisierung zu Energiepreisen und dem Krieg gegen die Ukraine Schwung verloren habe. Er empfahl abzuwarten, "wie sich mittelfristig die Kostensteigerungen auswirken werden und was die Entlastungspakete der Regierung bringen". Ein Vierteljahr später bilanziert Verfassungsschützer Christian: "Der 'Wutwinter' ist bisher ausgeblieben. Das heißt aber nicht, dass das Protestpotenzial verschwunden ist."
Die Empörten: Das Protestpotenzial in Sachsen
Je nachdem, welches Thema sich als Initialzündung eigne, könnten Proteste jederzeit aufflammen. Dirk-Martin Christian vom Verfassungsschutz erklärte weiter: "Wir haben es mit Personen zu tun, die auf Themen mit Empörungspotenzial reagieren. Das sind zum Teil die gleichen Leute, die schon früher gegen Flüchtlinge auf die Straße gingen. Jetzt ist ihr Thema beispielsweise die Ampel-Koalition im Bund."
Corona-Protestler wieder Demo-Publikum
So sieht das auch der Leipziger Soziologe und Protestforscher Leistner. Der harte Kern demonstriert offenbar weiter, vor allem in kleineren und mittelgroßen Städten. "Was bleibt, ist das Kernmilieu." Dieses Milieu ist sich Leistner zufolge einig: nicht bei den Themen des Protests, sondern in Bezug auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, der "Positionierung als regierungskritisch". Und: "In Ostdeutschland rekrutiert sich das Publikum aktuell vor allem aus den Akteuren, die schon gegen die Pandemiemaßnahmen auf die Straße gegangen sind." Der Forscher verweist darauf, dass vielerorts die Organisation der Proteste von rechten Gruppen und Einzelpersonen ausgehe.
Wie Rechte das Friedensthema vereinnahmen
Nach den Corona-Protesten hätten überdies Gruppen der extremen Rechten und von rechtsoffenen Rändern der Friedensbewegung versucht, das Friedensthema zu besetzen. Ihre "Frieden mit Russland"-Aufmärsche hätten ab Mitte 2022 an Bedeutung gewonnen, urteilte der Soziologe Leistner. Er rechnet damit, dass am Freitag zum ersten Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine, diese rechtsextremen Proteste neben der klassischen Friedensbewegung laufen werden - bewusst gegen pro-ukrainische Demos.
Oder in Worten des Verfassungsschützers Christian: "Die Themen sind beliebig austauschbar, sie müssen einen nur im persönlichen Leben erfassen." Das Protestmilieu bleibe vorhanden und sei jederzeit abrufbar. "Deshalb kann man keine Entwarnung geben."
Die Themen sind beliebig austauschbar, sie müssen einen nur im persönlichen Leben erfassen. Viele Menschen bleiben in ihrer Protesthaltung.
Rechtsextremismus größte Gefahr für Demokratie
Christian zufolge bleibt der Rechtsextremismus die größte Gefahr für die Demokratie. Als Beleg nannte er den Umgang mit "völkischen Siedlern". Das sind Rechtsextremisten, die in entlegenen Gebieten eine "intakte Volksgemeinschaft" anstreben und sich so dem "Multi-Kulti-Leben" in Großstädten entziehen wollen.
Derartige Bestrebungen gebe es bundesweit, in Sachsen vor allem bei Leisnig im Kreis Mittelsachsen. "Die Bevölkerung hält sie für ordentliche Leute, für fleißige junge Menschen mit Kindern. Auf diese Weise verschaffen sich die Rechtsextremisten eine Akzeptanz. Doch wenn die Mehrheit sich nicht abgrenzt, haben Extremisten ein leichtes Spiel."
Politikwissenschaftler Steffen Kailitz vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (HAIT) sieht mit Sorge auf die Wahlergebnisse für die AfD in Sachsen. Im Interview mit MDR SACHSEN sagte er: "Hier in Sachsen haben wir beispielsweise eine Partei, die AfD, die im Kern rechtsextremistisch ist und bereits bei drei nationalen Wahlen hintereinander stärkste politische Kraft war. Hier besteht schon ein gewisser Grund zur Sorge." Bedeutende Teile der Bevölkerung würden Grenzen überschreiten - mit gefährlichen Folgen.
Hier in Sachsen gehen bedeutende Teile der Bevölkerung in eine Richtung, in der Grenzen überschritten werden und Positionierungen entstehen, die mit der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, wie wir sie in gegenwärtiger Form haben, nicht mehr vereinbar sind.
Klimabewegung als Ganzes nichtextremistisch - aber distanzlos zu Extremisten
Laut Landesamt für Verfassungsschutz ist die Radikalisierung nicht auf "Rechts" beschränkt und zeichne sich auch in der Klimabewegung ab. "Bei Klimaaktivisten stellen wir eine gewisse Distanzlosigkeit gegenüber linksextremistischen Positionen fest. Es gibt Aktionsformen bis hin zu schweren Straftaten, die von Teilen der Klimabewegung nicht oder nur halbherzig zurückgewiesen werden. Linksextremisten versuchen, Bewegungen wie 'Ende Gelände' oder 'Fridays for Future' für ihre verfassungsfeindliche Agenda zu instrumentalisieren und Szene-Nachwuchs zu gewinnen".
Behördenleiter Christians Fazit: "Die Bewegung ist sehr heterogen und in ihrer Gesamtheit nichtextremistisch. Extremisten sehen beim Thema Klima aber eine hohe Anschlussfähigkeit."
Digitaler Extremismus
Vor allem junge Leute würden an der Demokratie und dem bundesdeutschen System zweifeln. "Es gibt ein tiefes Misstrauen gegenüber klassischen Medien", lautet ein weiterer Befund des LfV-Präsidenten. Immer mehr Leute würden sich nur noch über soziale Medien informieren. "Das ist eine Gefahr, denn in sozialen Medien wird auch Meinungsmache organisiert. Die Menschen befinden sich in ihren jeweiligen Blasen und schaukeln sich darin hoch." Christian nennt das "digitalen Extremismus". Die verbale Radikalisierung in der Gesellschaft werde vor allem über diese Kanäle weitergehen.
Soziale Medien seien bei unkritischer Nutzung ein Problem, denn: "Sie verändern unser Menschenbild, die Art des Umganges miteinander und auch das politische Denken".
MDR (kk)/dpa
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Nachrichten | 21. Februar 2023 | 13:00 Uhr