Perspektivwechsel Erschöpft aber beeindruckt - (m)ein Tag als Aushilfe im Pflegeheim
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05. Juli 2023, 16:54 Uhr
Beim "Perspektivwechsel" können Menschen, die sonst andere Berufe ausüben, in einen sozialen Beruf hineinschnuppern. MDR SACHSEN-Reporterin Anett Linke hat für einen Tag die Rollen getauscht und in einem Pflegeheim in Chemnitz den Alltag einer Pflegefachkraft kennengelernt.
Pünktlich um 7:55 Uhr treffe ich am Pflegeheim "Haus am Zeisigwald" der Stadtmission in Chemnitz ein. Etwas aufgeregt bin ich schon, als mich der Heimleiter Kay Bellmann begrüßt. Was wird auf mich zukommen? Stecke ich das weg, wenn ich auf einmal mit bettlägerigen Patienten konfrontiert bin, die Hilfe beim Waschen, Toilettengang und Essen brauchen?
Zuerst bekomme ich im Keller des großen Gebäudes passende Kleidung: eine weiße Hose und einen blauen sogenannten Kasack. In der Umkleide schlüpfe ich in die überraschend bequeme Arbeitskleidung und ziehe auch meine extra eingepackten Turnschuhe an. An wunden Füßen soll das Experiment schließlich nicht scheitern. Dann bringt mich der Heimleiter auf die Station, in der ich an diesem Tag mitlaufen darf. 45 Bewohnerinnen und Bewohner leben hier.
Vom Zivi zum Wohnbereichsleiter
Marcel Herzog ist der Wohnbereichsleiter und wird mir alles zeigen. Er selbst arbeitet seit 17 Jahren in der Pflege. Dazu gekommen ist er eher zufällig. "Ich wollte meinen Zivildienst eigentlich mit so wenig Aufwand wie möglich hinter mich bringen und vielleicht zu einem Fahrdienst", erzählt er mir lachend. "Aber meine Tante, die selbst in der Pflege tätig ist, hat mich überzeugt, etwas Sinnvolleres zu tun." Am meisten Angst habe er zu Beginn vor Fäkalien gehabt. "Aber das war dann gar nicht so schlimm."
Mir wird aber doch etwas mulmig. Natürlich gehört das dazu, aber ob ich das auch so entspannt aushalte wie Herzog? Zuerst zeigt er mir die Station. So habe ich mir ein Pflegeheim eigentlich nicht vorgestellt. Alles ist hell und freundlich und die Einzel- und Doppelzimmer können die Bewohnerinnen und Bewohner ganz individuell mit ihren eigenen Möbeln einrichten. Ständig kommt uns jemand auf dem Gang entgegen und alle grüßen begeistert und freundlich. So weit, so gut. Bisher ist meine Erfahrung in der Pflege sehr angenehm.
Badezeit im Pflegeheim
Doch dann verkündet Herzog einen Ausflug zu Herrn B. Er ist mit Baden an der Reihe. Oha, worauf habe ich mich hier nur eingelassen? Nach einem kurzen Klopfen betreten wir das Zimmer. Herr B. freut sich auf sein Bad. Doch zuerst muss frische Wäsche ausgesucht werden. Herzog überredet Herrn B., doch einmal ein anderes T-Shirt anzuziehen. "Sie nehmen immer die von ganz oben und wissen gar nicht mehr, was alles unten in Ihrem Schrank liegt", sagt er. Das kann ich nachvollziehen. Geht uns das nicht allen oft so? Schließlich fällt die Entscheidung auf ein gelbes T-Shirt, das noch nagelneu ist und eine blaue kurze Hose.
Herr B. benötigt für den Weg ins Bad einen Rollstuhl. Als ich nach den Griffen greifen will, um ihn zu schieben, hält mich Herzog zurück. "Das kann Herr B. ganz super allein", erklärt er mir. "Wir helfen immer so wenig wie möglich, aber so viel wie nötig."
Wir gehen also ins Bad und Herzog zeigt mir die etwas futuristisch aussehende Badewanne. Man kann die Temperatur einstellen, mit der das Wasser eingelassen wird. Besonders praktisch ist, dass das Wasser von allein ausgeht, wenn die Wanne voll ist. So kann nichts überlaufen und man muss sie nicht permanent im Auge haben. Das würde mir für meine heimische Badewanne auch gut gefallen. Auch Herr B. ist im Bad angekommen und fängt an, sich auszuziehen. Wo schaue ich denn jetzt bloß hin? Doch da den anderen beiden die Situation so gar nicht unangenehm ist, entspanne ich mich allmählich.
Gute Ausstattung schützt vor Rückenschmerzen
Nach einem Gang auf die Toilette, bei dem Herzog und ich zu meiner Erleichterung vor der Tür warten, ist Herr B. bereit für das Bad. Er nimmt auf einem besonderen Stuhl Platz. Herzog klappt einen Haltebügel herunter und schiebt Herrn B. dann neben die Badewanne. "Wie in der Achterbahn", denke ich. Der Sitz wird hochgefahren, Herr B. baumelt fröhlich mit den Beinen in der Luft. In der Badewanne wird der Sitz abgesenkt und er sitzt bequem im Wasser.
Ich bin erstaunt. Vor meinem inneren Auge hatte ich gesehen, wie die Bewohner mit menschlicher Muskelkraft vom Rollstuhl in die Badewanne und wieder raus befördert werden müssen. Herzog lacht. "Ja, früher war das auch so", sagt er. "Aber wir sind hier sehr gut ausgestattet und müssen eigentlich gar keine schweren körperlichen Tätigkeiten mehr machen." Damit hätte ich nicht gerechnet.
Herr B. wäscht sich mit einem Waschlappen und Herzog hilft ihm beim Rücken- und Füßewaschen. Gut, dass ich nicht mit anfassen muss. Füße anderer Menschen bringen mich dann doch an meine Grenzen. Nebenbei plaudern die beiden entspannt und ich bewundere, wie selbstverständlich Herzog alles erledigt. Herr B. war früher Schlosser und hat im Schichtbetrieb gearbeitet. Nach dem Waschen lassen wir Herrn B. noch eine Weile sein Bad in Ruhe genießen. "Bei so fitten Bewohnern wie Herrn B. lasse ich sie meist noch eine Weile allein in der Wanne", sagt Herzog. Sie würden das genießen und er könne in der Zwischenzeit weitere Bewohner versorgen. Nach dem Baden hilft Herzog Herrn B. noch beim Abtrocknen und Eincremen. Sehr sommerlich und schick geht es für Herrn B. dann in seinem neuen gelben T-Shirt zurück auf sein Zimmer.
Einkaufsbummel im Supermarkt gegenüber
Unser nächster Halt ist bei Frau K. Herzog schlägt ihr vor, gemeinsam auf der anderen Straßenseite einkaufen zu gehen. Frau K. ist sich erst unsicher, ob sie genug Geld zur Verfügung hat, aber das ist alles geregelt. Herzog holt einen Einkaufsbeutel, dann geht es los: Zuerst drehen wir eine kurze Runde im Garten des Pflegeheims und wechseln anschließend die Straßenseite zum Supermarkt.
Herzog schiebt Frau K., ich den Einkaufswagen. Geduldig lässt Herzog Frau K. alles anschauen und fragt sie, was genau sie haben möchte. Ich bin beeindruckt, dass ihn nichts aus der Ruhe zu bringen scheint. Neben Saft landen auch Weintrauben, Äpfel, ein Schokopudding, Kekse und Schokolade im Wagen. "Und noch ein Piccolöchen?", fragt Herzog und Frau K. lässt ihn sechs kleine Flaschen einpacken. Mit der vollgepackten Tüte geht es zurück ins "Haus am Zeisigwald". "Lassen Sie es nur keinen sehen, sonst wollen nachher alle zu Besuch kommen", sage ich zu Frau K. Sie lacht und hält ihre Papiertüte oben zu. "Verraten Sie es keinem", raunt sie mir zu und lächelt. Ich habe die alte Dame direkt ein bisschen ins Herz geschlossen.
Geschichten, die bleiben
Nachdem wir Frau R. beim Mittagessen unterstützt und andere Bewohner zu einem Angebot oder zum Friseur gebracht sowie noch einen weiteren Abstecher zu Frau K. gemacht haben, beende ich meinen Ausflug in die Pflege. Obwohl ich eigentlich nur zugeschaut habe, hat mich der Tag geschafft. Ich habe großen Respekt vor dem Team, das so geduldig und freundlich mit den Bewohnerinnen und Bewohnern umgeht. Keiner von ihnen möchte einen anderen Beruf ausüben. "Empathie ist das Wichtigste", verraten sie mir.
Vom Personalmangel ist hier (noch) nichts zu bemerken. "Aber das kommt noch auf uns zu", erklärt mir Heimleiter Kay Bellmann. "Wir bilden zwar selbst aus, aber es werden auch viele in Rente gehen." Der Schichtdienst, in dem nicht alle arbeiten wollen, könne in der Pflege nicht einfach abgeschafft werden. "Wir brauchen ja eine 24-Stunden-Betreuung."
Ich habe so viele Eindrücke gesammelt, dass mir der Kopf schwirrt. Vor allem die Geschichten der Bewohnerinnen und Bewohner, mit denen ich ins Gespräch gekommen bin, werden mir noch lange im Gedächtnis bleiben.
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | MDR SACHSENSPIEGEL | 26. Juni 2023 | 19:00 Uhr