Rückblick Weißwassers OB Pötzsch: "Will man die Lausitz als gebeutelte Region unterstützen oder hinhalten?"
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31. August 2024, 05:00 Uhr
Eine CDU-Bundestagsabgeordnete im Vogtland, der parteilose Landrat von Mittelsachsen und auch der OB von Weißwasser geben die Politik auf, weil sie seit Jahren angefeindet und bedroht werden. Und weil sie sich dem nicht mehr aussetzen wollen. In 14 Jahren Kommunalpolitik hat Torsten Pötzsch für Weißwasser "alle Kraft gegeben", sagt er. Warum er zum Ende seiner Amtszeit trotzdem enttäuscht ist und sich von Dresden und Berlin mehr erhofft hat, erzählt er im Gespräch mit MDR SACHSEN.
Wenn Oberbürgermeister Torsten Pötzsch durch Weißwasser/O.L fährt, blickt er an Bäumen und Laternenmasten auf Wahlplakate zur OB-Wahl am Sonntag. Seinen Lockenkopf sieht er auf den Pappen nicht. Stattdessen die aktuelle Stadtkämmerin, die für die Wählervereinigung Klartext antritt, die Pötzsch vor 20 Jahren mitgegründet hatte. Zudem die SPD-Ortsvereinsvorsitzende, die als Parteilose ins Rennen geht, und einen AfD-Kandidaten, gebürtiger Thüringer und seit 2023 in der Oberlausitz. Er soll nach MDR-Recherchen Mitglied der Reichsbürgergruppierung "Königreich Deutschland" sein, was bundesweit mediale Aufregung provozierte.
Auf das Wahlergebnis am Sonntag ist Torsten Pötzsch sehr gespannt. Auch wenn "es ungewiss ist, verbinde ich damit die Hoffnung, dass die verschiedensten Ideen, die wir im Stadtrat, in der Verwaltung und in der Stadt angestoßen haben, fortgesetzt werden". Wenn diese "Gedanken, Ideen und Pläne gestoppt würden, wäre das nicht gut für Weißwasser." Seit 2010 ist er Oberbürgermeister, tritt aber kein drittes Mal zur Wahl an. Die Gründe dafür hat Pötzsch Anfang Juni in einer sehr persönlichen Mitteilung erklärt.
Gerüchte, Drohungen und Stress
Öffentliche Anfeindungen und Morddrohungen in Briefen, SMS und Mails und Gerüchte seien ein Grund. "Das geht seit Jahren schon. Ich hab' immer versucht, das vom Familienleben fernzuhalten", sagt der 53 Jahre alte zweifache Vater. Pötzsch nennt auch Bandscheibenprobleme und die Trennung seiner langjährigen Partnerin als Gründe, nicht wieder als OB für seine Heimatstadt zu kandidieren. "Dieses besondere Amt benötigt mentale Stärke und einen sicheren familiären Hafen als Basis und dies gerade in der heutigen, so stark gewandelten Zeit und der gesellschaftlichen Veränderungen", schreibt er. "Ohne den persönlichen Rückenhalt meiner Familie" könne er seine "Werte und Leitbilder nicht weiter nach außen vertreten".
Hadern und Frust
Als diese Mitteilung morgens um 4 Uhr am 6. Juni öffentlich wird, habe der zu dem Zeitpunkt rückenschmerzkranke Pötzsch vorher stundenlang mit sich gehadert, den Enter-Knopf zum Absenden zu drücken. Freunde rieten ihm dringend davon ab, das sei alles zu viel und zu persönlich. Er solle doch weitermachen. Aber Pötzschs Körper sendete unübersehbare Stopp-Signale - nach 13,5 Jahren Lokalpolitik mit fast 200 Stadtrats- und Sondersitzungen, Wahlkämpfen, Kritik an seiner Person, mit Foren und Versammlungen zum Braunkohleausstieg. Ein Politik-Quereinsteiger, gelernter Bankkaufmann und Sparkassen-Betriebswirt, Mit-Organisator des Tags der Sachsen 2005, einer, der sich für Soziokultur und mobile Jugendarbeit einsetzt und selten Hemd und Schlips trägt beim Händeschütteln, schon gar nicht beim Eishockey. So einer eckt auch an in der Stadtgesellschaft.
Nach einer Bandscheiben-OP und Reha im Sommer ist Pötzsch wieder im Dienst. Wenn er über seine Entscheidung spricht, schwingt auch viel Frust über Berlin und Dresden mit von einem, der über sich sagt: "Als ich vor 14 Jahren angetreten bin, habe ich das nicht so kritisch gesehen, aber wir sind zu oft enttäuscht worden."
Keine Illusionen über drei OB-Kandidaten
Enttäuscht sind auch manche Einwohner. In der schrumpfenden Stadt leben rund 15.000 Menschen. 1990 waren es noch 35.430 Menschen. Zur OB-Wahl am Sonntag sagt eine junge Verkäuferin: "Die Kandidaten kenne ich alle nicht. Es kann nur besser werden." In Gesprächen mit MDR SACHSEN wünschen sich die Einwohner mehr Arbeitsplätze, mehr Spielplätze, Angebote für Jugendliche und mehr Jugendclubs. Ein Rentner wünscht sich, dass der oder die Neue im Rathaus "mit Mut rangeht und nicht gleich aufgibt". Den Abschied von Poetzsch sieht ein Endfünfziger, der nur "Herr Pr." genannt werden will, etwas differenzierter: "Gemeckert wird bei uns schnell."
Über die OB-Kandidaten mache ich mir keine allzu großen Illusionen.
Dass Pötzsch nicht wieder als OB antritt, findet er schade. "Er hat's ja ganz offen begründet. Das gilt es zu akzeptieren", sagt der Mann aus Weißwasser, der an der Tankstelle seinem SUV in der Waschanlage beim Trocknen zusieht. Von den drei OB-Kandidaten erwartet er "nicht viel". Die Schlagzeilen über den AfD-Kandidaten "zeigen ja, was da für Leute zu uns kommen". Der Lausitzer wünscht sich, dass mehr Strukturwandel-Gelder in der Stadt hängen bleiben. "Aber machen wir uns nichts vor: Wir liegen am Rande von Sachsen und Deutschland. An uns gehen viele Dinge vorbei."
Städte fühlen sich alleingelassen
Das ärgert auch den Noch-Oberbürgermeister Pötzsch: "Die Behörden schütten uns Kommunen mit Aufgaben und Projektanträgen zu. Wir legen los, aber Dresden und Berlin ziehen oft nicht mit. Kein einziges sogenanntes Leuchtturmprojekt kommt nach Weißwasser."
Der Kommunalpolitiker verbirgt seinen Unmut darüber nicht, dass Görlitz Millionen für Forschung und Infrastruktur bekommt, zum Beispiel das Deutsche Zentrum für Astrophysik angesiedelt wird, das Klinikum Fördergelder kriegt, Görlitz Modellstadt für den ÖPNV mit Wasserstoff-Straßenbahn wird. "Oder der neue Bundeswehrstandort in Bernsdorf bei Bautzen. Wir, die Umlandgemeinden und der Kreis Görlitz haben so viel Kraft in Gespräche, Bewerbungen, Zuarbeiten und Befahrungen mit Politikern und hohen Militärs gesteckt. Und dann? Wieder nichts. Wir sind sehr enttäuscht."
Wir dürfen nicht wieder die Fehler der 1990er-Jahre machen und nur sogenannte Leuchtturmprojekte stärken. Jeder Leuchtturm wirft auch Schatten. Man sollte die Lausitz als ganze Stadt mit viel Grün betrachten und fördern.
Frustrierend sei auch der Rückzug des Investors 2022 gewesen, der ein Werk für medizinisches Glas aufbauen wollte. Wegen der Energiepreise hatte der Hersteller das weit gediehene Vorhaben abgesagt. Pötzsch nennt noch einen Grund für Unternehmen, nicht in Weißwasser zu investieren: "Der letzte Glas produzierende Betrieb Stölzle hat vor wenigen Monaten sein neues Werk wenige Kilometer von Weißwasser jenseits der Neiße in Polen eröffnet, weil wir in Sachsen zu unflexibel auf Gesetze schauen und Waldgebiete nicht für Gewerbe umwidmen wollen, baut er sein Glaswerk in Polen."
Ideen für Bildung ja, aber...
Damit habe auch der Plan für eine Ausbildungsoffensive in Form eines Aus- und Weiterbildungszentrums Ingenieursausbildung in der ehemaligen Ingenieurschule keinen Schub bekommen. Leider verstehen zu wenig Menschen unsere langfristige strategische Herangehensweise bei vielen Themen", sagt Pötzsch und verweist auf ein zweites Beispiel.
Seit Jahren wollen Akteure in Weißwasser eine Sport- und Bildungsakademie mit dem Anker Eishockey aufbauen. "Das stockt alles. Der Freistaat sagt: 'Bildung ist nicht Aufgabe der Kommune, Schulnetzplanung macht das Land.'" Pötzsch findet, da müsse das Land in die Gänge kommen und Weißwasser und Zukunftskonzepte mit in die Pläne aufnehmen.
Klartext auch an Berliner CDU-Spitze
Seit sieben Jahren kämpften rund 60 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in der Lausitz in Sachsen und Brandenburg, die direkt an den Abbruchkanten der Braunkohletagebaue liegen, um Mitsprache und kompetenten Einsatz der Strukturwandel-Gelder. Pötzsch ist einer von zwei Sprechern dieses kommunalen Bündnisses, das er mit Kollegen angeschoben hatte. Bei einem Wahlkampftermin der CDU in Brandenburg ist Pötzsch als Vertreter dieser Lausitzrunde und Oberbürgermeister in Sachsen eingeladen. CDU-Chef Friedrich Merz will die Sorgen der Lausitz besser verstehen, sagt sein Wahlkampfteam. "Herrn Merz kenne ich nicht, mal sehen", meint Pötzsch vor dem Treffen.
Von Pötzsch bekommt Merz keine Lobrede auf rekultivierte Seen zu hören, sondern: "Wir brauchen Berufsausbildungszentren in den Orten. Die jungen Leute wandern in die Großstädte ab. Wir brauchen die aber bei uns und müssen sie halten. Dafür haben wir Projekte eingereicht, die liegen alle auf Eis." Merz hört zu und lädt Vertreter der Lausitzrunde nach Berlin. Dass dieser Termin stattfinden wird, steht für Pötzsch fest. "Solche Gespräche helfen uns und sind als politisches Signal wichtig."
Will man die Lausitz als gebeutelte Region unterstützen oder hinhalten?
Bedauern bei Kollegen in Lausitzrunde
Es klingt nicht so, als hätte der 53-Jährige seinen politischen Abgang nach der OB-Wahl im Blick. Daran will auch der Bürgermeister im gut 52 Kilometer Luftlinie von Weißwasser entfernten Guben in Brandenburg nicht denken. "Mir wird der Mensch Torsten fehlen", sagt Fred Mahro (CDU). Mahro habe immer beeindruckt, dass er mit Pötzsch auch via Whatsapp-Nachrichten Probleme lösen konnte. "Seine Erfahrungen und sein Elan werden uns in der Lausitzrunde fehlen." Aber: "Er hat ja gravierende Gründe genannt, warum er nicht weitermacht."
Am 7. November 2024 könnte eine neue Chefin oder ein neuer Chef die Rathausführung und Leitung der rund 249 kommunalen Mitarbeiter in Weißwasser übernehmen. An dem Tag wird Torsten Pötzsch bei einem Kongress der engagierten Städte in Offenbach sein. Weißwasser "darf auch diesen Namen tragen", betont er. "In all den Jahren wollte ich immer die Aufmerksamkeit für die Stadt und unsere Region wecken. Oft fehlt ja die Idee, sich auf den Weg zu machen. Aber wer nie anfängt, kann auch nie ankommen."
Ich wollte Vorbild sein für die Menschen und die Stadt voranbringen, den Menschen zeigen, dass wir gesehen werden und uns abheben von anderen Kleinstädten in Deutschland.
Trotz des Frustes in der Abschiedsstimmung nach 14 Jahren ist Torsten Pötzsch auch stolz darauf, was Weißwasser alles erhalten konnte: Tierpark, Schwimmbad, Schwimmhallle, Eisarena, Bibliothek und Museum zählt er auf. Dann schiebt er nach: "Zeigt mir die Stadt unserer Größe, die all das noch hat."
Ab November mehr Zeit für Kinder und Musik
Was genau Pötzsch ab November beruflich macht, stehe noch nicht genau fest. Die Interessen seien breit, der Kopf voller Ideen. Für seine beiden Kinder wolle er mehr da sein, sich ehrenamtlich einsetzen und "endlich auch das Arbeitszimmer zu Hause aufräumen". Denn da stehe noch ein Original verpacktes DJ-Controller-Mischpult. Der Mann, der auch als Rathauschef gelegentlich als "DJ OB" Platten auflegte, will wieder mehr Musik machen. "Seit drei Jahren nehme ich mir vor, dieses Gerät aufzubauen."
MDR (lgü)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Regionalnachrichten aus dem Studio Bautzen | 30. August 2024 | 07:30 Uhr