Alltag in Apotheke "Es tut mir leid, wir haben Ihr Medikament nicht"

14. Juni 2023, 13:00 Uhr

Am Mittwoch ist der bundesweite Protesttag der Apotheken. Viele Apotheken bleiben deshalb geschlossen. Die Apotheker fordern unter anderem einen finanziellen Ausgleich durch den Mehraufwand, der durch Lieferengpässe entsteht. Ein Görlitzer Apotheker hat MDR SACHSEN vorab einen Blick hinter die Kulissen gewährt und zeigt, mit welchen Problemen er zu kämpfen hat. Vor allem die Bürokratie macht ihm und seinen Kollegen zu schaffen.

  • Viele Medikamente sind zurzeit nicht lieferbar.
  • Für Apotheker und Ärzte entsteht dadurch ein großer Mehraufwand.
  • Tom Wersig fordert deshalb mehr Entscheidungsfreiheit für Apotheker, um sich nicht bei jeder Kleinigkeit bei einem Arzt rückversichern zu müssen.

Ein älterer Herr betritt die Linden-Apotheke in Görlitz, geht an den Schalter und fragt, ob sein Diabetes-Medikament nun endlich da sei. Er war in den letzten vier Wochen schon mehrmals da. Solange ist es nämlich her, dass seine Ärztin ihm das Medikament Ozempic verschrieben hat. Tom Wersig, der stellvertretende Leiter der Apotheke, steht am Schalter und muss dem 70-Jährigen nun zum wiederholten Male erklären, dass das Arzneimittel, dass der so dringend benötigt, nicht vorhanden ist.

Wersig kann nur auf eine Warteliste verweisen. Der Herr reagiert mit Kopfschütteln und Unverständnis und verlässt enttäuscht die Apotheke. Dabei gibt er nicht der Apotheke die Schuld, sondern schimpft auf die Politik. Wersig berichtet, dass sich solche Situationen in letzter Zeit häufen. Fünf bis zehn Prozent seiner Kunden müsse er ohne Medikament wieder wegschicken, schätzt er.

619 Medikamente sind nicht lieferbar

In einem kleinen Büro hinter dem Verkaufsbereich sitzt Katja Schmidt. Sie ist für die Bestellung von neuen Medikamenten zuständig. In der oberen rechten Ecke ihres Bildschirms wird eine Zahl angezeigt, die das Problem verdeutlicht: 619. So viele Medikamente, die sie bestellen möchte, sind nicht lieferbar.

Für Schmidt bedeutet das viel zusätzlichen Aufwand, denn sie muss nach Alternativen suchen. Und wenn das Medikament dann doch wieder auf ihrem Bildschirm als lieferbar angezeigt wird, muss sie schnell sein, denn manchmal ist innerhalb weniger Minuten alles weg. Dabei kauft die Apotheke bereits bei fünf Großhändlern ein. Bis vor zwei Jahren habe es noch gereicht, bei zwei Großhändlern einzukaufen, sagt Wersig.

Lieferschwierigkeiten bei Psychopharmaka

Wieviel Mehraufwand durch nicht lieferbare Medikamente entsteht, wird einige Räume weiter noch deutlicher. Katrin Helmes leitet die Abteilung, in der die Bestellungen von Pflegeheimen und Pflegediensten eingehen und bearbeitet werden. Zurzeit gebe es Lieferengpässe bei diversen Psychopharmaka, berichtet Helmes. "Gerade bei Melperon haben wir arge Probleme. Tabletten gibt es gar nicht, in flüssiger Form geht es dem Ende entgegen."

Stelle man das Medikament einfach um, könne es bei den Patienten zu Psychosen kommen, erklärt sie. "Deshalb stehen wir unter Druck, dass wir das ran bekommen für die Patienten und alles möglich machen, was nur geht. Da puckert uns immer mal das Herz", sagt sie.

Helmes erklärt, dass sie und ihre Kollegen zunächst versuchen, die Medikamente bei den Großhändlern oder direkt bei den Herstellern zu bekommen. "Wenn das dann nicht der Fall ist, dann gehen wir in das Gespräch mit den Ärzten und sagen ihnen, was möglich ist, in welchen Stärken wir was eventuell bekommen können oder was wir vorrätig haben. Dann gucken sie, wie sie an der Dosierung etwas drehen können", erklärt Helmes.

Deshalb stehen wir unter Druck, dass wir das ran bekommen für die Patienten und alles möglich machen, was nur geht. Da puckert uns immer mal das Herz.

Katrin Helmes Linden-Apotheke Görlitz

Mehraufwand auch für Ärzte

Katja Mrusek, die ebenfalls in der Abteilung arbeitet, nimmt einen kleinen Stapel Rezepte in die Hand und zeigt: "Das ist alles nicht lieferbar". Im Durchschnitt würde sie ein bis eineinhalb Stunden pro Tag mit Ärzten telefonieren und mit ihnen besprechen, auf welche Alternativen man ausweichen kann. "Und die Ärzte am anderen Ende sagen auch, die sind nur noch beschäftigt damit, mit der Apotheke zu telefonieren", erzählt Mrusek.

Wenn der Arzt einverstanden ist, dass ein Patient ein Medikament zum Beispiel in anderer Dosierung oder anderer Darreichungsform bekommt, ist die Arbeit damit nicht getan: Denn es muss ein neues Rezept erstellt werden oder das alte muss abgeändert und vom Arzt unterschrieben werden. Ein Bote muss also für die Apotheke von Arzt zu Arzt fahren, um Rezepte abändern oder neu ausstellen zu lassen.

Wersig fordert mehr Entscheidungsfreiheit für Apotheker

Tom Wersig sagt, er würde sich wünschen, dass die Apotheker mehr Befugnisse hätten, selbst zu entscheiden, welche alternativen Medikamente sie Patienten geben, wenn das vom Arzt verschriebene Medikament nicht verfügbar ist. "In 90 Prozent der Fälle wissen wir, was wir tun müssen, um dem Patienten zu helfen. Dafür sind wir ausgebildet worden und die Ärzte hier in Görlitz wünschen sich das auch so. Die haben ganz, ganz viele andere Dinge, die sie nicht schaffen. Sie brauchen nicht diese drei, vier Stunden extra Telefonate pro Tag."

Vor allem sei die mit den Änderungen verbundene Bürokratie aufwendig. Es müsse alles ganz genau dokumentiert werden. Sonst könne es passieren, dass die Krankenkasse das Medikament nicht erstattet. Wersig hat auch ein Beispiel dafür: Er zeigt das Schreiben einer Krankenkasse, die darüber informiert, dass sie wegen eines Formfehlers auf dem Rezept rund 7.500 Euro für ein Krebsmedikament nicht erstatten wird. "Die Onkologin hat vergessen, die Dosierung auf dem Rezept mit drauf zu schreiben. Wir müssen das kontrollieren. Das ist aber durchgerutscht", erklärt Wersig.

Schwierigkeiten für Apotheken auf dem Land

Eine seiner Forderungen an die Politik ist deshalb, dass die Möglichkeit für die Krankenkassen abgeschafft wird, aufgrund von Formfehlern eines Arztes Erstattungen zu verweigern. Die Linden-Apotheke in Görlitz ist eine große Apotheke mit 36 Mitarbeitern und einer günstigen Lage neben einem Ärztehaus. Sie verkraftete einen solchen Fall. Für eine kleine Apotheke auf dem Land können einige solcher Fehler aber das Aus bedeuten. Und die Apotheken auf dem Land und in kleinen Städten sind rar: Im nahegelegenen Reichenbach etwa gibt es nur eine, in Niesky zwei.

Um es den Apotheken leichter zu machen, sollte die Bürokratie reduziert werden, findet Wersig. Denn die sei in den letzten Jahren immer mehr geworden. "50 Prozent unserer Mitarbeiter machen keine wertschöpfende Arbeit mehr am Patienten, sondern Abrechnungsfragen, Papier, Dokumentation. Uns wäre schon sehr, sehr stark geholfen, wenn wir viel, viel weniger Bürokratie hätten", sagt Wersig.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR SACHSENSPIEGEL | 13. Juni 2023 | 19:00 Uhr

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