Oury Jalloh Graffiti an einer Hauswand
Oury Jalloh verbrannte am 7. Januar 2005 in einer Dessauer Polizeizelle. Zuvor lebte der Asylbewerber sechs Jahre, zuletzt geduldet, in Sachsen-Anhalt. Bildrechte: IMAGO / Steinach

Was im Abschlussbericht der Sonderberater steht Rassismus und Versagen im Fall Oury Jalloh – aber keine offenen Ansätze für Mordermittlungen

29. August 2020, 13:02 Uhr

Die Sonderberater Montag und Nötzel haben in Magdeburg die Ergebnisse ihres Abschlussberichts zu den Ermittlungen im Fall Oury Jalloh präsentiert. Darin sind sie vor allem den Fragen nachgegangen: Ist Jalloh durch Mord zu Tode gekommen? Haben Ermittler, Justiz und Politik versucht, die Aufklärung des Falles zu behindern und zu vertuschen? Welche Rolle spielen rassistische Motive bei den Ermittlungen? MDR SACHSEN-ANHALT fasst die wichtigsten Punkte des Berichtes zusammen.

Martin Paul im Funkhaus von MDR SACHSEN-ANHALT
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Mehr als 15 Jahre ist der Tod des Asylbewerbers Oury Jalloh ungeklärt. Jalloh verbrannte an Händen und Füßen gefesselt in einer Dessauer Polizeizelle. Prozesse wurden geführt, einer der diensthabenden Polizeibeamten wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen zu einer Geldstrafe verurteilt. Schließlich wurden die Ermittlungen eingestellt. Die Vorwürfe gegen Polizei, Justiz und Politik blieben aber bestehen.

Am Freitag ist nun ein Bericht von zwei juristischen Gutachtern zum Tod und zu den Ermittlungen im Fall Oury Jalloh im Landtag von Sachsen-Anhalt in Magdeburg vorgestellt worden.

Der Rechtsanwalt Jerzy Montag und der ehemalige Generalstaatsanwalt Manfred Nötzel waren 2018 vom Rechtsauschuss des Landtages als Gutachter beauftragt worden. Sie sollten noch einmal alle Akten sichten, mit Beteiligten sprechen und die Ermittlungen zum Tod Jallohs neu bewerten.

Zusammenfassend stellen die Gutachter nun in ihrem Abschlussbericht fest, dass der Tod Oury Jallohs hätte verhindert werden können. Es habe ein "erschreckendes Ausmaß der Missstände im Jahr 2005" gegeben. Von der Festnahme bis zum Tod Jallohs seien die polizeilichen Maßnahmen fehlerhaft oder rechtswidrig gewesen. Wären diese Fehler unterblieben, dann wäre Oury Jalloh mit allergrößter Wahrscheinlichkeit noch am Leben.

WDR-Recherche zum Tod von Oury Jalloh 👇

Im Mai 2020 hatte der Westdeutsche Rundfunk eine Reportage-Reihe der Autorin Margoth Overath veröffentlicht, welche die Ermittlungen und Widersprüche aus 15 Jahren Ermittlungen zum Tod Oury Jallohs zusammenfasst. Die Autorin kommt darin zum Schluss, dass es ein Fall sei, bei dem systematisch vertuscht wurde und es keine unabhängigen Ermittlungen gegeben habe. Die mehrteilige Reihe legt nahe, dass Jalloh von Polizisten in Dessau getötet worden ist. Anders könnten die Recherchen nicht gedeutet werden, sagte Autorin Margot Overath im Interview mit MDR SACHSEN-ANHALT. Sie stellt auch Zusammenhänge zu den Fällen Hans-Jürgen Rose und Mario Bichtemann her. Rose war 1997 in der Nähe des Dessauer Polizeireviers tot aufgefunden worden und Bichtemann 2002 in der gleichen Zelle wie Oury Jalloh in Polizeigewahrsam gestorben.

Die Ergebnisse des Berichts im Detail

Seit Januar 2020 hatten die beiden Sonderberater des Landtages Einsicht in die Akten, haben Zeugenaussagen geprüft und Beweismaterial ausgewertet – insgesamt 169 Aktenbände, 17 Aktenordner und ein Karton voller CDs mit Gesprächsmitschnitten und Protokollen.

Gibt es offene Ansätze für Mord-Ermittlungen?

Zum jetzigen Zeitpunkt sehen Nötzel und Montag keine offenen Ansätze für Mordermittlungen. Auch, dass das Verfahren im Oktober 2017 eingestellt wurde, sei "angesichts der Beweislage sachlich und rechtlich richtig", heißt es in dem Abschlussbericht.

Daran ändere auch ein Aktenvermerk des damaligen Leitenden Oberstaatsanwalts Folker Bittmann vom April 2020 nichts. Darin heißt es, es seien "umfangreiche weitere Ermittlungen erforderlich." Bittmann sah laut Bericht den Anfangsverdacht gegen Polizeibeamte wegen Mordes oder Mordversuchs gegeben. (Seite 120)

Die Autoren Nötzel und Montag schreiben weiter, dass diese Beurteilung den damaligen Erkenntnisstand wiedergibt, "die Einstellungsentscheidung entfaltet keine Rechtskraft." Eine Wiederaufnahme des Verfahrens sei jederzeit möglich. (Seite 299)

Sollte es neue Anhaltspunkte geben, müsste die Staatsanwaltschaft neu entscheiden.

War die Festnahme Oury Jallohs rechtens?

Jalloh, der eine gültige Duldungsbescheinigung bei sich trug, war von der Polizei zur Feststellung seiner Identität in Gewahrsam genommen worden. Spätestens bei einer aufmerksamen Untersuchung der Kleidung hätte man aber Dokumente finden können, die Jallohs Identität bestätigen. Somit hat aus Sicht der Berater die behauptete ungeklärte Identität nicht bestanden.

Für die Verhaftung Oury Jallohs hat es laut Bericht damit keine rechtliche Grundlage gegeben. In ihrem Gutachten halten die beiden Sonderberater auch fest, der Polizeibeamte habe bei der Verhaftung von Jalloh die "Vorlage eines Ausweisdokuments ohne Benennung eines Grundes" gefordert. Damit sei die folgende Festnahme Jallohs "eine rechtswidrige Freiheitsentziehung." (Seite 39)

In der Folge habe es außerdem keine richterliche Entscheidung "über die Zulässigkeit und Fortdauer dieser Freiheitsentziehung" gegeben. (Seite 42)

Eine Kerze und Blumen liegen vor dem Bild von Oury Jalloh. mit Video
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"Erschreckendes Ausmaß der Missstände"

Insgesamt attestieren die Berater ein "erschreckendes Ausmaß der Missstände im Jahr 2005." (Seite 296)

Dabei beziehen sie sich auf die Zustände und Vorgänge im Polizeirevier Dessau, "insbesondere im baulichen Bereich, bei der Ausbildung der Polizeibeamten und der Unkenntnis grundlegender rechtlicher Normen bis in die Reihen der Justiz hinein."

Auch seien keine Konsequenzen aus dem Fall Mario Bichtemann gezogen worden. Nötzel und Montag schreiben, die dem Polizeirevier Dessau vorgesetzten Instanzen bis hin zum Ministerium des Inneren hätten, nach Sichtung der Akten, keine Konsequenzen aus dem Todesfall Bichtemann gezogen. (Seite 89)

Wie bei Jalloh war auch bei Bichtemann kein Polizeibeamter als Gewahrsamsverantwortlicher eingesetzt worden, obwohl klar sei, dass gelegentliches Nachschauen bei "benommenen und alkoholisierten Menschen völlig ungeeignet" sei. Er sei nur in Abständen von 30 Minuten oder länger kontrolliert worden. Bichtemann, vorher hilflos vor dem Polizeirevier gefunden, war trotz seines Zustandes für "gewahrsamsfähig" erklärt worden.

Bichtemann starb im Jahr 2002 an den Folgen eines nicht erkannten Schädeltraumas in der selben Zelle, Nummer 5, wie später Oury Jalloh. "Man fand ihn nicht auf der Liege, sondern vor der Zellentüre auf dem Boden liegend auf", schreiben Montag und Nötzel.

Einige Polizeibeamte, die an dem Vorfall 2002 beteiligt gewesen sind, hatten außerdem auch am Todestag Jallohs Dienst und "unmittelbar mit Ouri Jallow zu tun", so Nötzel und Montag (Seite 87)

Welche Rolle spielte Rassismus bei der Festnahme und den Ermittlungen?

Die Berater stellen auf unterschiedlichen Ebenen Alltagsrassismus, institutionellen Rassismus und menschenverachtende Äußerungen fest. Dem Bericht ist zu entnehmen, dass Polizeibeamte Äußerungen getätigt haben, die "missachtend, verletzend und rassistisch" zu werten sind. (Seite 80)

Auch das Telefonat mit einem Arzt für die Blutabnahme "ist ein geradezu typischer Ausdruck einer rassistischen Ungleichbehandlung aus dem Bereich des Alltagsrassismus." (Seite 84)

Merkmale für institutionellen Rassismus sehen die Berater darin, dass "die zum Teil massenhafte Verwendung des Begriffs "Afrikaner" oder "Schwarzafrikaner" zu belegen ist, obwohl der Name Jallohs bekannt war.

Auch auf Polizeiführungsebene wurde rassistisch gesprochen. Zitiert wird ein Polizeioberrat mit den Worten: "Schwarze brennen eben mal länger". Ein Disziplinarverfahren in diesem Fall sei mit einem Verweis beendet worden.

Jedoch hatte das Landgericht Magdeburg keine "ausländerfeindliche oder rassistische Gesinnung bei dem Personal des Polizeireviers Dessau als mögliches Motiv für die Tötung des Ouri Jallow" feststellen können. In der Folge lehnte der Generalbundesanwalt auch die Übernahme des Verfahrens ab. Nötzel und Montag protokollieren seine Begründung: "Es bedürfe insbesondere auch keiner Auseinandersetzung mit dem Urteil des Landgerichts Magdeburg" in diesem Punkt. (Seite 120)

Sind die Ermittlungsbehörden bei der Aufklärung beeinflusst worden?

Der Verdacht einer unzulässigen Beeinflussung durch das Justizministerium auf die Ermittlungsbehörden ergibt sich laut der Gutachter Nötzel und Montag nur "in einem einzigen Fall".

Demnach soll der damalige Justizstaatssekretär Hubert Böning (CDU) um ein gemeinsames Gespräch mit dem Generalstaatsanwalt Jürgen Konrad und Oberstaatsanwältin Heike Geyer zur "strategischen Ausrichtung der Ermittlungen gebeten haben". Kurz zuvor waren die Ermittlungen von der Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau an die Staatsanwaltschaft Halle übertragen worden. (Seite 160)

Die Durchsicht der Akten habe jedoch nicht klären können, ob es zu diesem Gespräch gekommen sei. Nötzel und Montag merken an, dass sie keine Gespräche zur Klärung des Sachverhaltes führen konnten, da diese verweigert wurden.

In ihrer Zusammenfassung kommen die Berater zu dem Ergebnis, dass "diesem Vorgang eine erhebliche Bedeutung" zukomme. Die Bitte um ein Gespräch über die strategische Ausrichtung der Ermittlungen falle genau in die Zeit, in der die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau weitere Ermittlungen wegen Mordes oder Mordversuchs führen wollte.

Generalstaatsanwalt Jürgen Konrad hatte zu diesem Zeitpunkt die weiteren Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Halle übertragen, die "hingegen nicht einmal einen Anfangsverdacht einer strafbaren Handlung erkennen konnte", so die Gutachter. (Seite 297)

Wurde das Parlament vollständig und wahrheitsgemäß informiert?

In ihrem Bericht stellen die Gutachter fest, dass aus den Akten drei Vorgänge zu erkennen sind, in denen der Landtag "unvollständig, tendenziös, unrichtig und damit zum Teil wahrheitswidrig unterrichtet wurde".

Unter anderem habe Justizministerin Anne-Marie Keding (CDU) am 28. September 2017 den Landtag "bewusst unvollständig und damit nicht wahrheitsgemäß" über den Stand der Ermittlungen berichtet. "Hierdurch wurde den Abgeordneten ein falsches Bild über den Stand der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen zum Zeitpunkt der Information des Landtags vermittelt", so Montag und Nötzel.

Die Erklärung der Ministerin zu dem Sachverhalt erscheint den Beratern nicht nachvollziehbar. So schreiben sie: "Keding war nach Überzeugung der Berater nicht gehindert, den Landtag am 28.09.2017 vollständig und wahrheitsgemäß zu informieren."

Dieser Vorgang wurde durch die Berater als "durchaus gewichtig" bewertet. Es sei allerdings kein dauerhafter Schaden eingetreten, "weil die zurückgehaltenen Informationen kurze Zeit später öffentlich geworden sind". (S. 293)

Auch Generalstaatsanwalt Jürgen Konrad habe den Landtag in drei Sitzungen 2017 und 2018 "in vielen Punkten falsch" unterrichtet. Dazu halten Nötzel und Montag in ihrem Bericht fest: "Den Beratern war es nicht möglich, einige – oder auch alle – diese Punkte in einem Gespräch zu klären, weil ein solches verweigert wurde. Die Berater bewerten den Vorgang ebenfalls als gewichtig, jedoch ist zu berücksichtigen, dass sich einige der Falschinformationen lediglich auf technische Abläufe innerhalb der Staatsanwaltschaft bezogen haben." (Seite 294)

Welche Reaktionen gibt es auf den Bericht?

Der Vorsitzende des Rechtsausschusses, Detlef Gürth (CDU), meint, der Rechtsweg sei ausgeschöpft, der Fall aber nicht abgeschlossen: "Der Tod eines Menschen im Gewahrsam hätte nicht passieren dürfen und bleibt auch unentschuldbar."

Der rechtspolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Sebastian Striegel, sagte, Jallohs Tod sei das Resultat individuellen Fehlverhaltens und schweren Organisationsversagens. Es habe gravierende Missstände innerhalb der Polizei gegeben, fehlende Rechtskenntnis, willkürliche Festnahmen von Betrunkenen und Alltagsrassismus.

Die AfD-Fraktion kritisiert den Bericht dagegen als "Steuergeldverschwendung".

Die innenpolitische Sprecherin der Linken-Fraktion, Henriette Quade, fordert neben politischen Konsequenzen für die Polizeiausbildung auch den Rücktritt von Justizministerin Keding.

Der rechtspolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, Jens Kolze, hob hervor, dass auch die juristischen Berater keine offenen Ermittlungsansätze zur weiteren Verfolgung eines Mordes oder Mordversuchs an Oury Jalloh gesehen hätten. Bezüglich dieser Frage sei die parlamentarische Befassung abgeschlossen.

Die SPD-Fraktion will zu Beginn der nächsten Legislaturperiode unabhängig von möglichen Koalitionsbildungen einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Fall Oury Jalloh einsetzen.

Die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh zeigte sich von dem Sonderbericht nicht überzeugt. Nadine Saeed von der Initiative sagte MDR SACHSEN-ANHALT, der Bericht sei ein weiterer Bestandteil dessen, was man seit 15 Jahren in Sachsen-Anhalt erlebe: Vertuschung, Bagatellisierung, eine Täter-Opfer-Umkehr. "Zu behaupten, es wäre ein tragischer Unfall gewesen, empfinden wir als Demütigung für das Opfer, die Familie und all die Menschen, die uns all die Jahre unterstützt haben, um die Wahrheit zu finden“, so Saeed. Die Jalloh-Initiative will weiterkämpfen – und sogar bis vor den Europäischen Gerichtshof gehen.

Wer sind Jerzy Montag und Manfred Nötzel?

Jerzy Montag ist Rechtsanwalt, Mitglied des Verfassungsgerichtes in Bayern und früherer rechtspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag.

Montag war bereits als Sonderermittler des Parlamentarischen Kontrollgremiums im Bundestag zum NSU-Komplex tätig. Er sollte in diesem Zusammenhang die Umstände des Todes des V-Mannes "Corelli" bewerten.

Manfred Nötzel war Generalstaatsanwalt in München. Er war Richter und Staatsanwalt und unter anderem Leiter der Abteilung für Wirtschaftsstrafsachen der Münchner Generalstaatsanwaltschaft.

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Teilnehmer einer Demonstration gehen mit einem Transparent mit der Aufschrift "Oury Jalloh das war Mord" auf der Straße.
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Martin Paul im Funkhaus von MDR SACHSEN-ANHALT
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Über den Autor Martin Paul ist Teil des Online-Teams von MDR SACHSEN-ANHALT und begeistert von den Möglichkeiten und Ausdrucksformen des digitalen Journalismus - Daten und Code, Visualisierung und Video, Longread und Ticker, Social-Media und Dialog. Was ihn umtreibt? Besonders die Frage, wie man das Netz frei und offen gestalten und Teilhabe garantieren kann.

Quelle: MDR,epd/mp

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 28. August 2020 | 12:00 Uhr

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