Tod von Asylbewerber in Dessau Der Fall Oury Jalloh: Warum Aufklärung nötiger denn je ist

24. Mai 2020, 13:10 Uhr

Am 7. Januar 2005 verbrannte der Asylbewerber Oury Jalloh aus Sierra Leone in Zelle 5 des Polizeireviers in Dessau. Bis heute wird darüber gestritten, wie Jalloh ums Leben gekommen ist. In zwei Prozessen wurde festgestellt, dass sich der Asylbewerber selbst angezündet hat. Eine neue Feature-Reihe im ARD-Hörfunk legt nun nahe: Jalloh ist mit großer Wahrscheinlichkeit von Polizisten in Dessau getötet worden. Ein Kommentar.

Luca Deutschländer
Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Eigentlich sagt dieser eine Satz alles: "Es wirft ein schlechtes Licht auf das Land Sachsen-Anhalt, wenn ein solcher Mord, der 2005 hätte aufgeklärt werden können, bis zum heutigen Tag vertuscht wird."

Diese Worte stammen von Gabriele Heinecke, einer Rechtsanwältin aus Hamburg. Heinecke vertritt die Familie von Oury Jalloh. Die Worte hat sie der Hörfunkjournalistin Margot Overath gesagt. Overath – eine erfahrene Journalistin, ausgezeichnet mit diversen Medienpreisen – recherchiert seit rund zehn Jahren und unter anderem für den MDR zum Tod von Oury Jalloh. Der Asylbewerber aus Sierra Leone war am 7. Januar 2005 ums Leben gekommen. Verbrannt in Zelle 5 des Polizeireviers in der Wolfgangstraße in Dessau. Jalloh war dorthin gebracht worden, weil er zuvor zwei Mitarbeiterinnen der Stadtreinigung belästigt haben soll.

Der Schluss liegt nahe: Oury Jalloh wurde ermordet

In diesen Tagen ist eine neue Feature-Reihe von Overath veröffentlicht worden. Für den Sender WDR5 legt die 73-Jährige in fünf Teilen ihre umfassenden Recherchen dar. Das Bild, das die Recherchen von Polizei und Justiz in Dessau und in Sachsen-Anhalt zeichnen, ist erschütternd. Und es legt nahe, dass Jalloh ermordet worden ist – von Polizeibeamten in Dessau, gedeckt von Justizbehörden in Sachsen-Anhalt. Seit 15 Jahren, vier Monaten und 18 Tagen.

Wenn MDR SACHSEN-ANHALT in den vergangenen Jahren über neue Erkenntnisse im Fall Oury Jalloh berichtet hat, war der Tenor vieler Leserinnen und Leser in der Kommentarspalte oft eindeutig: Das seien doch alles politisch motivierte und nicht belegbare Vorwürfe, schrieben manche. Irgendwann müsse doch bitteschön mal gut sein, meinten andere. Das koste den Staat doch alles viel Geld. Die AfD behauptete gar, die Linke im Landtag betreibe "Leichenfledderei", um Dessauer Polizisten etwas anzuhängen. Von "Propaganda-Zwecken" war die Rede.

Die neue Feature-Reihe zum Tode Jallohs legt nahe: All diese Einschätzungen waren falsch. Was die Reihe ebenfalls zeigt: Wir dürfen keine Ruhe geben. Im Gegenteil. Wir müssen darauf dringen, dass dieser Fall aufgeklärt wird. Das sind wir nicht nur Jalloh und seinen Angehörigen schuldig – sondern allen Opfern von Polizeigewalt in Deutschland. Denn obwohl die juristische Aufarbeitung des Falls abgeschlossen ist: Aufgeklärt ist dieser Fall noch lange nicht.

Die Rekonstruktion des Falls ist erschütternd

Nun wird mancher denken, das seien doch politisch motivierte Worte – wie die Feature-Reihe insgesamt. Andere werden sagen, dieser Kommentar solle doch nur von der Corona-Krise und der Einschränkung der Grundrechte ablenken. Nur: Das stimmt nicht. Wir sollten jetzt darüber reden. Nicht erst in ein paar Monaten. Zu erschütternd ist die Rekonstruktion des Falls, als dass noch weitere Zeit vergehen darf.

Zur Untermauerung drei Erkenntnisse aus den Recherchen von Margot Overath:

  • Eine vom Gericht angeforderte Liste, welche Beamte sich am 7. Januar 2005 in dem Polizeirevier in Dessau aufgehalten haben, ist inzwischen aus den Akten verschwunden.
  • Die Tatortarbeit in Zelle 5 weist erhebliche Lücken auf: Fotos von Tatortarbeit gibt es nicht, ein Video bricht nach kurzer Zeit ab – angeblich, weil der Akku der Kamera leer war. Der Brandschutt in der Zelle wurde mit Händen durchwühlt, die rechte Handfessel von Jalloh nicht asserviert. Sie wurde Tage nach dem Brand vom Hausmeister des Reviers kleingeschnitten und weggeworfen.
  • Oberstaatsanwalt Folker Bittmann – inzwischen im Ruhestand – hielt es 2017 nach einem neuerlichen Brandversuch für möglich, dass das Feuer in Zelle 5 gelegt wurde, um den gewaltsamen Tod von Oury Jalloh zu vertuschen. Bittmann wollte gegen namentlich genannte Polizisten wegen Mordverdachts ermitteln – und wurde von seinen Vorgesetzten daran gehindert. Begründung: Es sei kein Motiv erkennbar, warum Polizisten einen Menschen in einer Zelle gewaltsam zu Tode hätten bringen sollen.

Es gäbe noch genügend Anhaltspunkte, um diese Liste fortzusetzen. Dazu kommt: Der Tod von Jalloh ist nicht der einzige bis heute ungeklärte Todesfall in dem Dessauer Revier. 2002 starb dort Mario Bichtemann. In Zelle 5 im Dessauer Polizeirevier. Diagnose: Schädelbruch. Schon 1997 war der Dessauer Hans-Jürgen Rose an seinen schweren Verletzungen gestorben – kurze Zeit, nachdem Polizeibeamte ihn wegen seines hohen Alkoholpegels für einige Zeit ins Revier beordert hatten.

Beide Verfahren wurden von der Staatsanwaltschaft eingestellt. Beide Fälle wären einen Kommentar für sich wert.

Haben wir nicht gut genug hingesehen?

Deshalb zurück zu Oury Jalloh. Schon im Frühjahr 2018 hatte der forensische Toxikologe Gerold Kauert sich festgelegt: Oury Jalloh kann sich nicht selbst angezündet und somit getötet haben. Der MDR hat seinerzeit über das Gutachten von Kauert berichtet, wie viele andere Medien in ganz Deutschland. Doch die Empörung legte sich schnell, wie so oft in den vergangenen 15 Jahren. Es kann gut sein, dass wir alle in den vergangenen Jahren genauer hätten hinsehen müssen. Die unbeteiligten Polizisten, die unbeteiligten Staatsanwälte ebenso wie wir Journalisten vor Ort. Wer kann das schon sicher sagen – außer denen, die die ganze Wahrheit kennen?

Es ist gut und wichtig, dass die Feature-Reihe von Margot Overath den Fall Oury Jalloh nun wieder in die Öffentlichkeit bringt – und mit ihm das, was 15 Jahre lang offensichtlich von Staatsbediensteten vertuscht worden ist.

Die Feature-Reihe von Margot Overath endet nach gut zwei Stunden mit einer bitteren Feststellung. "Weil die Polizei in Dessau und die Justizbehörden nicht nach Tätern gesucht haben", heißt es dort, "bleibt den Angehörigen von Oury Jalloh die Wahrheit vorenthalten. Und der Gesellschaft die Chance, aus Dessauer Verhältnissen Konsequenzen zu ziehen."

Eine Chance hat diese Gesellschaft noch: Sie sollte auf die Aufklärung dieses Falls pochen. Wieder und wieder. Ruhe geben sollte sie nicht.

Luca Deutschländer
Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Über den Autor Luca Deutschländer arbeitet seit Januar 2016 bei MDR SACHSEN-ANHALT – in der Online-Redaktion und im Hörfunk. Seine Schwerpunkte sind Themen aus Politik und Gesellschaft. Bevor er zu MDR SACHSEN-ANHALT kam, hat der gebürtige Hesse bei der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeine in Kassel gearbeitet. Während des Journalistik-Studiums in Magdeburg Praktika bei dpa, Hessischem Rundfunk, Süddeutsche.de und dem Kindermagazin "Dein Spiegel". Seine Lieblingsorte in Sachsen-Anhalt sind das Schleinufer in Magdeburg und der Saaleradweg – besonders rund um Naumburg. In seiner Freizeit steht er mit Leidenschaft auf der Theaterbühne.

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Eine Kerze und Blumen liegen vor dem Bild von Oury Jalloh. mit Video
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Quelle: MDR/ld

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