Interview mit Feature-Autorin 15 Jahre ungeklärt: Der Tod des Oury Jalloh
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24. Mai 2020, 13:17 Uhr
"Oury Jalloh und die Toten des Polizeireviers Dessau" – so heißt eine Feature-Serie des WDR. Sie zeichnet ein dunkles Bild der Arbeit von Polizei und Justiz. Einem Fall, bei dem systematisch vertuscht wurde und es keine unabhängigen Ermittlungen gab. Die Autorin Margot Overath spricht im Interview mit MDR SACHSEN-ANHALT vom Korpsgeist der Polizei, von verschwundenen Asservaten, Rassismus und davon, dass von Anfang an nicht ergebnisoffen ermittelt wurde.
Inhalt des Artikels:
Im Januar 2005 verbrennt Oury Jalloh, ein Asylbewerber aus Sierra Leone, in Dessau in einer Zelle des Polizeireviers in der Wolfgangstraße. Er war an Händen und Füßen gefesselt. Von Beginn an heißt es, Jalloh habe sich selbst in Brand gesteckt. Es folgen Gerichtsverhandlungen, Gutachten, Brandversuche. 2017 werden die Ermittlungen eingestellt, ein Untersuchungsausschuss im Landtag scheitert – die beteiligten Beamten, die den Fall aufklären könnten, schweigen. Zwei Sonderberater werden vom Rechtsausschuss des Landtages eingesetzt. Ihr Bericht wird für den Sommer 2020 erwartet.
Die Recherche
MDR SACHSEN-ANHALT: Sie haben in den vergangenen zehn Jahren so ausführlich zum Fall Oury Jalloh recherchiert wie kaum eine andere Journalistin. Was hat Sie dazu motiviert?
Margot Overath: Ich bin nach den Dessauer Freisprüchen in das Thema eingestiegen. Es war brisant, enthielt sehr viele Fragen, und da ich am Anfang mit der Situation konfrontiert war, dass der Staatsanwalt mein Aufnahmegerät beschlagnahmen wollte, ging ich davon aus, dass es spannend werden könnte. Das war eigentlich journalistische Neugier.
Sie haben jahrelang den Fall beobachtet und immer wieder dazu publiziert. Was hat Ihnen geholfen?
Ich habe das gemacht, was ich tun musste, um auf dem Laufenden zu bleiben. Ich habe wichtige Verhandlungstage in Magdeburg besucht, habe die Beteiligten immer wieder interviewt, habe Protokolle gelesen. Und als der Prozess zu Ende war, habe ich mir Akteneinsicht verschafft. In Magdeburg hatte ich Saliou, den Bruder von Oury Jalloh, der einer der Nebenkläger war, kennengelernt. Saliou kannte mein erstes Feature "Verbrannt in Polizeizelle Nummer 5", Mouctar Bah hatte es für ihn übersetzt. Er hatte Vertrauen zu mir und schickte mir nach seiner Rückkehr eine Vollmacht, dazu schrieb er: Wenn Sie irgendwelche Informationen brauchen, fragen Sie meine Anwälte. Das war eine sehr gute Basis für die weitere Arbeit.
Sind Ihnen während der Recherche Steine von Seiten der Behörden in den Weg gelegt worden?
Während der ganzen Zeit habe ich nie wirklich sinnvolle Auskünfte bekommen – weder von der Polizei noch von den Staatsanwaltschaften. Es wurde darauf verwiesen, dass das Verfahren noch läuft, dass man keine Auskünfte geben kann und ich sollte das Ende des Verfahrens abwarten. Und nach dem Ende des Verfahrens wurde ich an die Pressesprecher verwiesen, die natürlich die Details nicht kennen und nur wiedergeben, was man ihnen gesagt hat.
Einer Ihrer Informanten hat Ihnen bei einem Gespräch geraten, auf sich aufzupassen. Haben Sie sich bei Ihren Recherchen jemals gefährdet gefühlt?
Nein. Ich habe auch nicht daran gedacht. Wenn ich mich als Journalistin mit einem Thema beschäftige, tu ich das ohne Angst. Das muss dann Hand und Fuß haben.
Über die Autorin Margot Overath lebt in Bremen. Die mehrfach ausgezeichnete Radiofeature-Autorin beobachtet den Fall um den Tod von Oury Jalloh in Dessau seit 2009 und hat mehrfach darüber publiziert. Für MDR, NDR und Deutschlandfunk hat sie 2010 das Radio-Feature "Verbrannt in Polizeizelle Nr. fünf" und für MDR, NDR und WDR 2014 "Oury Jalloh – die widersprüchlichen Wahrheiten eines Todesfalls" produziert, für den Deutschlandfunk 2011 "Ich kann das nicht einen Tag vergessen. Das neue Leben des Mouctar Bah."
Der Vorwurf
In Ihrer aktuellen Podcast-Reihe "Oury Jalloh und die Toten des Polizeireviers Dessau" gehen Sie detailliert durch die Recherchen – sprechen mit Ermittlern und zeichnen die Ereignisse nach und vor dem Tod von Oury Jalloh im Januar 2005 bis heute nach. Und Sie erheben schwere Vorwürfe.
Das konnte nur funktionieren, wenn auch von Anfang an vertuscht wird.
Von Anfang an hatten sich die Verantwortlichen festgelegt, dass Oury Jalloh sich selbst angezündet haben soll. Das konnte nur funktionieren, wenn auch von Anfang an vertuscht wird. Wenn auf normale Tatortarbeit verzichtet wird. Wenn Beweismittel nicht gesichert werden oder verschwinden. Wie die entscheidende rechte Handfessel, die nicht zu den Asservaten gegeben wird. Die Bekleidung der Polizeibeamten, die direkt mit ihm zu tun hatten, hätte überprüft werden müssen. Und so weiter, da gibt es viele Beispiele. Und wenn derjenige, der die Tatortarbeit dokumentieren soll, das nicht tut und dann die verrücktesten Ausreden dafür anbringt.
Sie sagen, dass dieser Fall zum Prüfstein der deutschen Justiz geworden ist. An welchen Stellen haben die Behörden versagt?
Ich denke, rundherum haben alle versagt. Die Polizeidirektion hat versagt, weil sie sich nicht für eine Aufklärung eingesetzt hat, sondern dafür, dass die Sache nicht rauskommt, dass keine Fragen gestellt werden. Darauf gibt es Hinweise. Das Landeskriminalamt hat versagt, weil es sich auf die Linie der Selbstanzündung eingelassen und wahrscheinlich an der Manipulation der Tatortbefunde beteiligt hat. Die Staatsanwaltschaft hat versagt, weil sie nur angeklagt hat, das Jallohs Suizid nicht verhindert wurde. Die Gerichte haben versagt, das nicht aufgearbeitet zu haben. Eine juristische Stelle nach der anderen hat versagt. Bis hinauf zum Oberlandesgericht, das der Argumentation des Generalstaatsanwalts folgte. Dieser sagt jedoch im Interview mit mir, dass er nicht weiter komme, weil er nicht damit rechne, dass Polizeibeamte, die bisher immer gelogen haben, nun die Wahrheit sagen werden. Das heißt doch, er ist selbst nicht von Oury Jallohs Selbstanzündung überzeugt.
Eine juristische Stelle nach der anderen hat versagt. Bis hinauf zum Oberlandesgericht, das der Argumentation des Generalstaatsanwalts folgte.
Generalstaatsanwaltschaft und Oberlandesgericht Naumburg führten an, Oury Jalloh hätte seine Matratze durch Bewegung so strapaziert, dass er wie sein eigener Blasebalg gewirkt und eine Luftzirkulation in der Zelle ausgelöst habe. Die Passagen habe ich mehreren Wissenschaftlern vorgelegt und gefragt, ob das sein kann.
Vier Wissenschaftler - zwei Toxikologen, ein Rechtsmediziner, ein naturwissenschaftlich ausgebildeter Feuerwehrleiter - haben mir gesagt: Das ist ein grandioser Unsinn, den sich nur Laien ausdenken können.
Die toxikologischen Befunde der Leiche wären auch andere gewesen. Im Blut des Verstorbenen war kein Kohlenmonoxid und in seinem Urin keine Anzeichen von Stress gefunden worden. Oury Jalloh muss bewusstlos gewesen sein, als das Feuer ausbrach. Es gab wenige kleine Rußschlieren, die dafür sprachen, dass er nur noch eine kurze Schnappatmung gemacht hat.
Die Fakten
Was ist nach Ihren Recherchen am 7. Januar 2005 in Zelle Nr. fünf im Dessauer Polizeirevier geschehen?
Meine Recherchen ergaben, dass Oury Jalloh sehr wahrscheinlich misshandelt und in der Folge bewusstlos wurde. Ich stimme da mit Herrn Bittmann überein, dem damaligen Leiter der Staatsanwaltschaft Dessau. Er wollte nach der Auswertung des Brandversuchs in Dippoldiswalde in Sachsen prüfen lassen, ob es so war. Ich denke, dass die Polizeibeamten im Erschrecken darüber, dass Jalloh das Bewusstsein nicht wiedererlangt, beschlossen haben, ihn anzuzünden. Herr Bittmann hielt für möglich, dass mit dem Feuer verhindert werden sollte, dass zwei frühere Todesfälle noch einmal aufgerollt werden. Deshalb sei Jallohs Tod als Suizid inszeniert worden.
Mit den beiden Fällen, Hans-Jürgen Rose 1997, gestorben in der Nähe des Polizeireviers, und Mario Bichtemann, verstorben 2002 in derselben Zelle wie später Oury Jalloh, habe ich mich auseinandergesetzt. Ein Mordermittler und ein Rechtsmediziner haben mich dabei unterstützt. Um die Recherche dieser beiden Todesfälle geht es in Folge 3 der Podcast-Reihe.
2017 wollte Herr Bittmann prüfen lassen, ob Oury Jalloh misshandelt und im Zustand der Bewusstlosigkeit angezündet wurde. Dazu kam es aber infolge der Einstellung nicht mehr. Ich habe einen Polizeibeamten interviewt – in meiner podcast-Reihe tritt er als anonymer Informant auf, der bestätigt, dass Jalloh von mehreren, mindestens fünf, Polizisten verprügelt wurde. Dabei müssen seine schweren Kopfverletzungen entstanden sein, die später vom Radiologen Professor Bodelle aus Frankfurt entdeckt wurden. Bodelle hatte sich im Herbst 2019 noch einmal mit den MRT-Aufnahmen des Leichnams beschäftigt. Er fand mehrere Schädelverletzungen, mindestens einen Rippenbruch und andere Misshandlungen, die in den Weichteilen Schwellungen hervorriefen. Und das alles muss kurz vor seinem Tod passiert sein.
Keiner von denen, die dabei waren, ist zum Reden bereit. Ich gehe sogar davon aus, dass alle zum Schweigen verpflichtet wurden.
Als ich mit dem anonymen Informanten sprach, wussten weder er noch ich davon. Deswegen halte ich seine Aussage für absolut glaubwürdig. Er war bei der Prügelei nicht dabei, erzählte aber, dass so oft darüber gesprochen worden sei, dass man sich den Erzählungen überhaupt nicht entziehen konnte. Wir wissen nicht, wo die Prügel verabreicht wurden. Merkwürdigerweise ist Jalloh im Arztraum auf den Bauch gelegt und an allen Vieren gefesselt worden. Warum? Damit ihm Blut abgenommen werden kann? Anschließend sei er in die Zelle getragen worden. Dort wurde er dann auch wieder arretiert. Aber in der Zelle haben sie ihn nicht mehr auf den Bauch gelegt, sondern auf den Rücken. Ja, warum? Die wussten doch, wie schwer betrunken er war. Sie mussten noch damit rechnen, dass er sich übergibt und an seinem Erbrochenen erstickt.
Möglicherweise hatte die Prügelei schon vorher stattgefunden, vielleicht auch an zwei Orten, im Arztraum und in der Zelle. Ich kann es nicht überprüfen, weil keiner von denen, die dabei waren, zum Reden bereit ist. Ich gehe sogar davon aus, dass alle zum Schweigen verpflichtet wurden.
Wann man Ihre Feature-Reihe hört, muss man zu dem Schluss kommen, dass es schon für die Festnahme Jallohs am 7. Januar 2005 keinen triftigen Grund gegeben hat.
Es gab keinen Grund. Das haben auch die Frauen bestätigt. Ich habe die Aussagen der Frauen in Magdeburg gehört. Eine Frau beschrieb, dass sie einen Zitteranfall bekam, als Jalloh sie um ihr Handy bat. Sie litt unter einer Sozialphobie, das heißt wenn sie von Unbekannten angesprochen wird, bekommt sie Angst. Die Kollegin holte daraufhin ihren Chef und man entschied, die Polizei zu rufen. Jalloh war zu betrunken, das zu begreifen. Er wollte ihr Handy leihen, weil er seine Freundin anrufen wollte, die in der Nähe wohnt. Bei ihr wollte er seinen Rausch ausschlafen.
Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass sie ihm kein Handy geben. Er setzte sich hin und wartete, später ist er weggegangen. Als die Polizei kam, war er schon 10 oder 20 Meter weiter gegangen, immer an der Wand lang. Er hätte nicht festgenommen werden dürfen, das Verhalten der Beamten war illegal. Das hat auch der Bundesgerichtshof in seinem Revisionsurteil festgehalten.
Dafür sind sie nicht zur Rechenschaft gezogen worden.
Nein. Niemand ist zur Rechenschaft gezogen worden. Der Polizeibeamte, der Dienstgruppenleiter ist nur verurteilt worden, weil er angeblich Jallohs Suizid nicht verhindert hat. Die Gewerkschaft übernahm seine Strafe.
Welche Rolle spielen die ungeklärten Tode von Hans-Jürgen Rose 1997 und Mario Bichtemann 2002 für den Fall Jalloh?
Der Leitende Oberstaatsanwalt Folker Bittmann brachte die Fälle Rose, Bichtemann und Jalloh in einen Zusammenhang. Es wäre zu wünschen, dass sie wieder aufgenommen und geklärt werden.
Die Polizeidirektion hätte es in der Hand gehabt, für Aufklärung zu sorgen. Aber es sollte im Verborgenen bleiben.
Alles, was ich veröffentlicht habe, ist praktisch nur eine Bestätigung dessen, was in Dessau längst bekannt war – nur nicht gewusst werden sollte. Die Polizeidirektion hätte es in der Hand gehabt, für Aufklärung zu sorgen. Aber es sollte im Verborgenen bleiben. Unsere Veröffentlichung könnte dazu beitragen, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Die Justiz Sachsen-Anhalt gehörte nicht zu meinen Unterstützern, aber so viele Kripoleute, sogar Kripo-Chefs, Kriminologen, Mordermittler, Brandsachverständige aus mehreren Bundesländern haben meine Arbeit unterstützt. Sehr wichtig war auch die Beratung von Toxikologen und Rechtsmedizinern.
Nein, Jalloh hatte kein Feuerzeug und die Geschichte vom Paket ist eine jener Lügen, die entstehen, wenn man unbedingt eine Erklärung braucht.
Drei Tage nach dem Feuer tauchte angeblich im Brandschutt ein teilweise verschmortes Feuerzeug auf. Wieso erst so spät? Es soll verborgen in einem Paket aus Brandschutt unter der Leiche geklebt haben und sei deshalb nicht sofort erkannt worden. Mit Hilfe des ehemaligen Chefs einer Kripo in NRW, der zugleich Ausbilder und Exekutivbeamter war, habe ich diese Behauptung recherchiert. Sie könne nicht stimmen, meint er. Denn wenn dieses Paket unter der Leiche geklebt hätte, wäre unter der Leiche ein Abdruck gefunden worden. Aber der Rücken der Leiche war glatt und zum großen Teil sogar vollkommen unversehrt. Auch wäre das Feuerzeug unter dem Rücken geschützt gewesen. Und wie hätte es überhaupt dahin kommen sollen? Jallohs rechte Hand hing in einer Handfessel an der Zellenwand. Nein, Jalloh hatte kein Feuerzeug und die Geschichte vom Paket ist eine jener Lügen, die entstehen, wenn man unbedingt eine Erklärung braucht. Axel Petermann, der ehemalige Profiler, sagt im podcast, dass im Eifer des Gefechts oft Lügen entstehen, die später geeignet sind, Täter zu überführen. Und ich denke, so war es auch in diesem Fall.
Sie zitieren die Ergebnisse einer Arbeitsgruppe der UN-Menschenrechtskommission und des Menschenrechtsrates (Dokument A/HRC/36/60/Add.2), die in Deutschland und auch in diesem Fall institutionellen Rassismus und rassistische Stereotype innerhalb der Justiz und Strafverfolgung feststellt. Welche Rolle spielt rassistisch motivierte Polizeigewalt bei der Betrachtung des Todes von Oury Jalloh?
Ich habe für den Deutschlandfunk ein Feature über Mouctar Bah gemacht, der damals nach dem Tod von Oury Jalloh einer derjenigen war, der die Initiative Gedenken an Oury Jalloh ins Leben gerufen hatte. Er hatte damals einen kleinen Laden, wo man telefonieren und afrikanische Produkte kaufen konnte.
Bah wurde als unzuverlässig denunziert, die Stadt Dessau entzog ihm mit einer absurden diskriminierenden Begründung die Lizenz für den Laden, mit dem er seine Familie ernährt hatte. Viele Jahre später bekam Mouctar Bah Recht, nachdem er geklagt hatte und sich die Stadt entschuldigen musste. 2009 erzählte mir im Laden eine deutsche Kundin, dass sie das Geschäft erst betritt, nachdem sie sich vergewissert habe, nicht gesehen zu werden. Wenn es jemand mitbekomme, dass sie hier einkauft, sei sie in Dessau unten durch. So war die Stimmung in Dessau. Da bekam ich eine Ahnung, in welcher Situation ich recherchiere.
Die Folgen
Wie kann es sein, dass 15 Jahre nach dem Tod von Jalloh offenbar nur sehr wenige Menschen wissen, was am 7. Januar 2005 tatsächlich geschehen ist?
Vielleicht, weil das Opfer schwarz ist? Das Opfer war Afrikaner. Mir wurde mal gesagt: Stellen Sie sich vor, es wäre ein Weißer gewesen, oder – was es noch deutlicher macht – ein Angehöriger des Bürgermeisters. Was meinen sie, wie schnell das aufgeklärt worden wäre.
Hat auch die Medienberichterstattung dazu beigetragen, dass weniger Menschen darüber Bescheid wissen?
Ich glaube schon. Denken Sie nur an diesen Vorwurf, Oury Jalloh hätte die Frauen belästigt, der immer noch in den Medien präsent ist. Er wurde einfach übernommen. In die Welt gesetzt von der Polizei, die "Belästigung" als "sexuelle Belästigung" definierte. Es wurde zu wenig recherchiert und zu viel von dem übernommen, was Polizei und Justiz von sich gegeben haben.
Sie haben für die Recherche auch mit Zeugen gesprochen, die in der Arbeit der Ermittler und der Medien bislang keine Rolle gespielt haben. Können diese Zeugen dazu beitragen, den Tod von Jalloh endgültig aufzuklären?
Zur endgültigen Aufklärung beitragen könnten die, die über Wissen verfügen, und natürlich die Täter. Dafür braucht man aber Ermittler und echte Ermittlungen. Das kann man nicht der Familie des Opfers überlassen. Wenn mein Zeuge Namen derjenigen nennen würde, die ihm erzählt haben, wie Oury Jalloh verprügelt wurde, wäre das zwar interessant, für ihn aber möglicherweise riskant. Wird die Polizeidirektion zulassen, dass nach so vielen Jahren die Wahrheit ans Licht kommt? Ich weiß es nicht.
Sie sagen im Fazit Ihrer Recherche-Reihe, dass die Polizei in Dessau und die Justizbehörden nicht nach Tätern gesucht haben. Und deswegen bleibt es auch der Gesellschaft vorenthalten, daraus Konsequenzen zu ziehen.
Man hat mit dem Suizid einen Nebenkriegsschauplatz eröffnet und nur in diese Richtung weitergemacht. Die Frage, wer das Feuer gelegt hat, wurde nicht gestellt.
Weil von Anfang an festgestanden hat, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, wie Sie sagen.
Ich denke, es gibt viele Gründe dafür: Man wollte es entweder nicht wissen, oder man fand es nicht wichtig genug. Oder man fand, der Zusammenhalt der Polizei, die sogenannte Polizeifamilie, dürfe nicht belastet werden.
Könnten Sie sich vorstellen, dass es auch eine andere Deutungsmöglichkeit des Falles gibt?
Nein. Ich kenne keine. In der Zelle muss Brandbeschleuniger eingesetzt worden sein. Das sagen alle Experten, die mir bei der Recherche geholfen haben. Schon deswegen, weil die ganze Matratze vollständig und bis in die Spitzen hinein abgebrannt ist. Das funktioniert nur, wenn ein Brandbeschleuniger verwendet wird.
Diese Erfahrung haben 2016 die Sachverständigen in Dippoldiswalde gemacht, diese Erfahrung hatte 2013 der irische Sachverständige Smirnou gemacht und diese Auskunft haben mir die Feuerwehrleute und Brandsachverständigen, mit denen ich zu tun hatte, gegeben. Es geht nicht ohne Brandbeschleuniger.
Welche Konsequenzen sollte Sachsen-Anhalt aus den Erfahrungen dieser Zeit ziehen?
Es sollte eine unabhängige Aufklärungsstelle für Polizeigewalt eingerichtet werden. Eine, die nicht bei der Polizei ansässig ist. Einige Bundesländer haben mit ihren Beschwerdestellen Schritte in die Richtung unternommen, aber die gehen noch nicht weit genug.
Amnesty International fordert die Einrichtung von unabhängigen Stellen, die bei Verdacht auf Polizeigewalt unmittelbar, unverzüglich und umfassend in die Ermittlungen einbezogen werden. In einigen europäischen Ländern gibt es diese Stellen schon. In Belgien, Dänemark, England, Irland und Portugal. Warum nicht in Deutschland. Sachsen-Anhalt könnte den Anfang machen.
Die Fragen stellten Martin Paul und Luca Deutschländer.
Quelle: MDR/mp,mg
Dieses Thema im Programm: WDR 5 | 17. Mai 2020 | 08:05 Uhr