Letzte Podcast-Folge "digital Leben" Sechs Erkenntnisse aus sechs Jahren "Digital leben"
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13. Dezember 2024, 16:02 Uhr
Macher Marcel Roth verabschiedet sich vom Podcast "Digital leben" – und das mit sechs Erkenntnissen nach mehr als sechs Jahren. Nur wenige davon haben wirklich etwas mit IT und Technik zu tun – die meisten werfen eher Fragen an uns alle, an die Gesellschaft auf.
- Das Digitale hinterfragt die Mächtigen und birgt neue Gefahren.
- Es ist großartig und darf nichts Besonderes sein.
- Das Digitale braucht Vertrauen und ständiges Lernen. Aber es löst allein keine Probleme.
Wie aufregend war das 1995: Mit meinem ersten Rechner in Magdeburg-Cracau. Der war allen Ernstes dunkelgrün und daneben stand ein knatterndes Modem. AOL brachte mich damals minutenweise über die Telefonleitung meiner Eltern ins WWW. Es war jedes Mal ein Wagnis, ob auch eine brauchbare Verbindung zustande kommt. Das Internet selbst war noch sehr übersichtlich. Keine Suchmaschine, sondern ein Index wies den Weg. Und dann war da der AOL-Messenger, mit dem sich Menschen in Chaträumen treffen konnten. Menschen aus der ganzen Welt. Es war ein vorsichtiges Herantasten in eine digitale Welt. Ein großes, freundliches Staunen aller. Ganz anders als das Augenrollen und das Geschrei heute.
Und heute?
Damals war das Internet für jeden neu. Alle hatten große Hoffnungen für die Welt. Heute ist vor allem die Geschwindigkeit atemberaubend, mit der sich digitale Technologien entwickeln, vor allem KI-Technologien. Es fällt aber auf, wie wenig wir als ganze Gesellschaft darüber sprechen, wie sich die Technologien auswirken und wie wenig eine Gesellschaft dabei mitgestalten oder mithalten will oder kann.
Mehr als sechseinhalb Jahre lang habe ich jeden Monat mit Menschen gesprochen, die sich im Digitalen auskennen, neue Ideen entwickeln, Digitales erklären und kritisch hinterfragen. In den ersten Jahren des Podcasts war ich von jeder Technologie begeistert. Die Folgen zu Beginn der Corona-Krise sprühten vor Ideen und dem Geist, dass Corona die große Chance für eine bessere und digitale Zukunft sei. Seitdem habe ich den Eindruck, dass der glänzende digitale Lack ab ist. Und unter dem Lack ist Altbekanntes.
Meine Erkenntnisse aus sechs Jahren mit dem MDR SACHSEN-ANHALT Podcast "Digital leben"
I* Das Digitale hinterfragt die Mächtigen und schafft neue Mächtige
Schon unsere ersten drei Folgen zeigen, wer sich Sorgen machen muss und wer profitiert. Es ging Anfang 2018 um Bitcoins, Start-Ups und KI. Und 2024 fallen klassische Banken weiter zurück: Neue Zahlungsdienstleister wie Klarna oder Paypal machen ihnen Konkurrenz – und enorme Gewinne. Klarna verdient etwa eine Milliarde Euro im Jahr – Paypal verdient genauso viel in nur drei Monaten.
Ein weiteres "Einkommen" der Neuen: Daten. Die lassen sich mit Hilfe von KI-Technologien jetzt noch besser auswerten. Und mit Daten haben Facebook, Amazon, Microsoft und Co. schon Unmengen Geld verdient. Wirklich besser ist die Welt dadurch meiner Meinung nach nicht geworden. Denn der einzige Zweck der Daten: Werbung zielgerichtet zu verkaufen und so unsere Aufmerksamkeit, unsere Lebenszeit zu kaufen – und uns Produkte zu verkaufen. Der Datenhandel kann weg, schreibt Netzpolitk richtigerweise.
Der Datenhandel hat die Welt nicht besser gemacht, sondern neue Mächtige geschaffen: Big Tech. Sie vermeiden Steuern, sichern sich Märkte und Infrastrukturen und verschärfen ohnehin vorhandene Ungerechtigkeiten. Wegen des KI-Energiehungers bauen oder setzen Facebook, Microsoft, Amazon und Google zum Beispiel gerade auf Atomkraftwerke. Die "Gesellschaft für Informatik" sieht die Abhängigkeiten von US-Konzernen und befürchtet, dass Deutschland zur digitalen Kolonie wird: "Deutschland ist auf dem Weg, ein digitales Entwicklungsland zu werden."
Aber gleichzeitig kann das Digitale die Mächtigen mächtig unter Druck setzen: Der arabische Frühling ist undenkbar ohne Soziale Medien. Dank Whistleblowern und digitalen Werkzeugen wissen wir vom Cambridge Analytica-Skandal und den technischen Möglichkeiten der CIA, vom VW-Abgasskandal und den Panama Papers.
Auch im Kleinen sorgen digitale Technologien für Erschütterungen: Wenn Behörden, Unternehmen oder Organisationen digitale Technologien einführen, hinterfragt das die Machtverhältnisse, Hierarchien, Abläufe und Prozesse dort. Aber viel zu selten werden daraus die richtigen Schlüsse gezogen: dass Management-Stellen überflüssig, Firmenkultur oder Abläufe unzeitgemäß sind.
I0* Das Digitale birgt neue Gefahren
Aktuell sind vor allem kriminelle Hacker oder Cyber-Saboteure eine Gefahr: Sie sperren Systeme, spionieren oder setzen Fakes in die digitale Welt. Mittlerweile braucht ein überzeugendes Fake-Audio nur fünf Sekunden einer echten Stimme, um dieser Stimme jeden beliebigen Satz in den Mund zu legen. Am Rande der Konferenz "AI@HPI" habe ich das neulich ausprobieren können.
Und beim Hacken und bei Cyberspionage wollen auch staatliche Stellen (Russland, China, Nordkorea, Iran, USA) ihre Interessen durchsetzen. Sie nutzen die Tools der Hacker und die Hacker nutzen die Strategien von Geheimdiensten. Nur ein paar Beispiele aus den vergangenen Tagen:
- Das Weiße Haus macht gerade eine chinesische Gruppe für den Hack von mehreren US-Telekommunikationsunternehmen verantwortlich.
- Iranische Hacker sollen den zukünftigen FBI-Chef von Donald Trump ins Visier genommen haben.
- Meta hat erneut eine russische Organisation entdeckt, die gefälschte Klone von echten Internetauftritten von Medien oder Behörden benutzen (Doppelgänger).
- Der NATO Generalsekretär warnt vor russischen und chinesischen Cyberangriffen.
- Nordkoreanische Hacker erbeuten Kryptowährungen in Milliardenhöhe.
- Und der rumänische Geheimdienst hat eine koordinierte Propagandakampagne enthüllt, die einen rechtsextremen und kremlfreundlichen Kandidaten in die erste Runde der Präsidentschaftswahlen des Landes gebracht hat. Die EU hat TikTok dazu verpflichtet, entsprechende Daten zu sichern.
Jeder und jedem muss klar sein: Im Cyberraum gibt es keinen Frieden.
Und mit dem Web 2.0 gibt es eine Gefahr, die uns nach meiner Meinung nicht ausreichend bewusst ist: wenn wir nämlich Sterne, Herzchen oder Daumen im Internet vergeben. Der eine bekommt nur fünf Daumen statt zehn, die andere nur 20 statt 30 Kommentare. Für Restaurants oder Geschäfte können wenige Sterne existenzgefährdend sein. Mit Daumen, Sternen oder der Anzahl der Kommentare bewerten wir uns im Internet. Wie bewerten uns als Menschen. So vergleichen wir uns und urteilen übereinander. Das Soziale wird vermessbar. Die Zahlen machen uns vergleichbar.
Und das führt zu einem Dauerwettbewerb und spaltet die Gesellschaft, sagt der Soziologe Steffen Mau. Aber messen und bewerten wir überhaupt das Richtige? Die Anzahl der Kommentare und Klicks statt des Verständnis einer Sache? Messen wir Staatsschulden oder lieber die Lebenszufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger? Außerdem sagen Klicks und Kommentare nichts über die Zukunft aus – sie sind ein Wert aus der Vergangenheit.
Und hat jemand mit mehr Sternchen oder Herzchen mehr geleistet? Ist jemand mit mehr Kommentaren und Followern erfolgreicher? Hat er oder sie das der eigenen Leistung zu verdanken? Oder dem Algorithmus, dem Zufall, dem Glück? Wird ein erfolgreicher Social Media-Star mehr wertgeschätzt als eine Pflegekraft oder ein Schreiner? All das sind keine Fragen an Technologieexperten, sondern an uns als Gesellschaft.
II* Das Digitale kann viel mehr und ist großartig
Trotz allem: Das Netz ist nach wie vor die großartigste Erfindung seit dem Buchdruck. Digitale Technologien begeistern mich nach wie vor. Zuletzt habe ich ein KI-Tool von Google ausprobiert. Dort legt man Dokumente ab und stellt Fragen. So lassen sich Widersprüchen aufdecken oder ein Sachverhalt schnell beurteilen – als Journalist ist das für einen ersten Überblick sehr spannend.
Das Netz bringt alles Wissen der Welt auf unsere Bildschirme, verbindet Menschen und birgt immer noch Schätze (Die Original-Radioserie der BBC von "Per Anhalter durch die Galaxis"!). Und das geht ohne Konzerne mit Wikipedia und Mastodon. Viele Menschen opfern für Open Source Ideen ihre Freizeit (Danke!). Sie erhalten in der Regel dafür viel zu wenig Aufmerksamkeit. Dabei greifen ihre Lösungen keine Daten ab oder zäunen sich wie Facebook, Twitter und TikTok ein.
Und dass ich Fan von Virtual Reality bin, habe ich im Podcast schon häufiger gesagt – auch wenn man immer noch völlig bekloppt mit einer VR-Brille aussieht. (Und auch wenn sich bei VR vor allem wieder große Unternehmen breitmachen.)
Die Grenzen des Digitalen werden wir noch lange nicht erreichen. Vielleicht sogar nie.
I00* Digital ist Neuland und nix Besonderes
Deswegen wird das Digitale immer Neuland bleiben – ein Wilder Westen darf es trotzdem nicht sein. Aber ständig werden neue Ideen ausprobiert, neue Kontinente und Möglichkeiten entdeckt. Quantencomputer könnten der nächste große Gamechanger werden; Computer-Gehirn-Schnittstellen der übernächste. Aber damit entstehen eben auch neue Möglichkeiten, wie sich das alles auf das Leben in der echten Welt auswirkt.
Es wird nichts Besonderes mehr sein, neues digitales Land zu entdecken und fruchtbar zu machen. Nur bereiten wir uns darauf nicht genug vor. Nirgends. Weder in den Unternehmen noch an Schulen. Wo gibt es die Orte, an denen wir uns als Gesellschaft darüber austauschen? In den Sozialen Medien, in Radio oder Fernsehen? Im politischen System? Ideal wären dafür Bibliotheken, Diskussionsrunden, Bürgerräte oder runde Tische. Trauen wir uns das? Vertrauen wir aufeinander, dass wir das Beste für die Zukunft wollen? Zu Vertrauen gehört es, sich in die Augen zu schauen.
I0I* Das Digitale braucht ständiges Lernen und Vertrauen
Überhaupt Vertrauen: dafür haben wir digital bislang keine gute Lösung gefunden. Natürlich gibt es technische Lösungen, um sich digital zu identifizieren: BundID, Passwörter, Passkeys, Zwei-Faktor-Authentifizierung oder die Online-Funktion des Ausweises. Deutschland hat eine elektronische Patientenakte gebaut und entwickelt ein Justizpostfach, hat aber bislang keine E-Akte in der Justiz und das Anwaltspostfach ist vergeigt – wie so viele digitale Vorhaben des Staates. Möglicherweise scheitert auch die Registermodernisierung, sagt Sachsen-Anhalts Digitalstaatssekretär Bernd Schlömer (FDP) in der letzte Folge von "Digital leben".
Das Versagen, deutsche Verwaltungen digitaler aufzustellen, hat sich jede politisch verantwortliche Person seit 1995 anzukreiden. Digitale Infrastruktur darf keine Parteipolitik, regionalen Sonderwünsche oder Grenzen des Neu-Denkens kennen – sondern nur die unbegrenzten Möglichkeiten der Zukunft.
II0* Das Digitale löst kein einziges Problem
Ein Hammer ist ein Hammer. Nimmt ihn niemand in die Hand, hilft er nicht beim Bild aufhängen und niemand kann sich damit verletzen. Keine Technologie (und auch kein Geld!) kann Probleme lösen. Das machen nur wir Menschen.
Wenn in Organisationen oder Schulen Microsofts Netzwerk-Software "Teams" genutzt wird, löst das kein Problem. Wenn dort Informationen geteilt werden, löst das kein Problem. Wenn dort Menschen in Besprechungen sitzen, löst das kein Problem. Die echte Arbeit an Problemen fängt außerhalb solcher Plattformen an.
Aber sind wir uns eigentlich alle einig, was die drängendsten Probleme sind? Erst wenn wir das klären, sollten wir uns die passenden digitalen Tools suchen. Dafür müssen wir vor allem eines tun: nachdenken und miteinander reden. Und Fragen beantworten: Wohin soll die Reise gehen? Wie soll ein Unternehmen, wie soll unser Land aussehen? Dann kann die Arbeit losgehen. Ein Volkswirt hat mir im Frühjahr den schönen Satz ins Mikro gesagt: "Über Geld streiten ist idiotisch. Alles, was Menschen erarbeiten können, können wir uns auch leisten". Die Frage nach dem Geld sollte eine Gesellschaft also erst spät stellen.
Was ich im MDR SACHSEN-ANHALT Podcast-"Digital leben" in den vergangen sechseinhalb Jahren aber vor allem gelernt habe, ist, größer zu denken und aus einer anderen Perspektive auf Dinge zu schauen. Auch auf das Digitale. Das ist nämlich nur eins oder null. Aber in der echten Welt ist das meiste nicht so eindeutig. Es gibt nicht nur schwarz oder weiß, links oder rechts, null oder eins. In der echten Welt existieren zwischen Null und Eins sogar unendlich viele Zahlen.
P.S.: Ein Wort zu Schulen noch. Befreit sie von allen Vorgaben! Dort muss die Zukunft ausprobiert werden. Smartphones nerven Lehrkräfte im Unterricht – Schüler werden damit abgelenkt. Aber das ist auch eine Art selbsterfüllende Prognose: die Dinger werden als reine Unterhaltungsmaschinen angesehen und werden genau deshalb auch dazu. Nur wenige Schüler und Lehrer kommen auf die Idee, sie für "etwas Sinnvolles" zu nutzen.
*Aus lauter Jux: die Zahlen sind in Binärzahlen umgerechnet.
MDR (Marcel Roth)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 13. Dezember 2024 | 10:10 Uhr
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