Arbeitslosigkeit in Sachsen-Anhalt Debatte ums Bürgergeld: "Ohne Zuverdienst würde es knapp werden"
Hauptinhalt
von Sarah-Maria Köpf, MDR SACHSEN-ANHALT
09. November 2023, 09:30 Uhr
In Sachsen-Anhalt beziehen etwa 130.000 Menschen Bürgergeld. Immer wieder wird gestritten, ob das Geld in Zeiten der Inflation ausreicht – oder gar falsche Anreize liefert. Frank Fiedler aus Dessau erhielt viele Jahre Arbeitslosengeld, nun bekommt er Bürgergeld und stockt als Freiberufler auf. Durch eine Krebserkrankung kann er nur noch wenige Stunden am Tag arbeiten. Ohne den Zuverdienst würde das Geld bei ihm knapp werden. Einblicke aus der Praxis.
- In Sachsen-Anhalt beziehen rund 130.000 Menschen Bürgergeld. Das sind etwa sechs Prozent der Gesamtbevölkerung.
- Die Arbeitsagentur rechnet auch im kommenden Jahr mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit.
- Die gestiegenen Preise treffen Menschen mit wenig Geld am härtesten. Bürgergeldempfänger Frank Fiedler verzichtet deshalb auf Urlaub und Besuche im Restaurant.
Die Wände von Frank Fiedlers Wohnzimmer in Roßlau sind mit unzähligen Bildern bedeckt. Es sind Abzüge der Werke, die er als Grafikdesigner gestaltet. Der Job sei für ihn wie eine Therapie, erzählt der 61-Jährige. Fiedler ist 2021 an Krebs erkrankt und kann dadurch nur noch wenige Stunden im Monat arbeiten. Damit ist er auf Bürgergeld angewiesen.
"Wenn es die Gesundheit zulässt, sitze ich am Rechner und arbeite", erzählt Fiedler. An manchen Tagen sei das jedoch nicht möglich. "Das würde ich keinem Arbeitgeber antun wollen." Die Freiberuflichkeit gebe ihm die Chance, seine Arbeitszeit so zu legen, wie sein Gesundheitszustand es zulasse. Trotzdem bringt sie ihm schon einige Jahre lang nicht mehr genug Geld ein.
Was ist Bürgergeld? Das Bürgergeld hat zum 1. Januar 2023 das ALG II, bekannt als "Hartz IV", abgelöst. Eine zweite Reform, mit der unter anderem die berufliche Weiterbildung stärker gefördert werden soll, erfolgte zum 1. Juli 2023. Mit Beginn 2024 werden die Regelsätze des Bürgergelds um 11,8 Prozent angehoben.
Zahl der Bürgergeldempfänger steigt
Frank Fiedler ist einer von rund 130.000 Menschen in Sachsen-Anhalt, die Bürgergeld beziehen. Insgesamt sind das rund sechs Prozent der Gesamtbevölkerung, wie aus einer Datenerhebung von MDR SACHSEN-ANHALT hervorgeht. Etwa 23.000 Menschen davon haben das Bürgergeld 2023 neu beantragt.
Markus Behrens, Geschäftsführer der Arbeitsagentur Sachsen-Anhalt/Thüringen, erklärt, dass die angespannte wirtschaftliche Lage mittlerweile auch auf den regionalen Arbeitsmärkten spürbar sei. Arbeitgeber melden aktuell weniger neue Stellen. Die Arbeitslosigkeit zu beenden, sei deshalb schwieriger geworden – vor allem für Menschen, die lange Zeit arbeitslos sind.
Für das kommende Jahre rechne man laut einer Prognose des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung mit einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit um zwei Prozentpunkte. Viele Arbeitslose mit ukrainischer Herkunft würden zudem die Integrationskurse beenden und nicht immer nahtlos in eine Beschäftigung gehen, sagt Behrens weiter. Bei den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten gehe man jedoch aufgrund der Demografie von einem Rückgang von 3,5 Prozent aus.
Zwischen Umschulung und Arbeitslosigkeit
Auch Frank Fiedler ist über die Jahre mehrmals arbeitslos gewesen. Immer wieder hat er Umschulungen besucht, auf Minijob-Basis gearbeitet und ehrenamtlich beim Behindertenfahrdienst der Johanniter. Nebenbei baut er sich über die Jahre ein zweites Standbein als Grafikdesigner auf. In der Region Dessau findet er jedoch keine passende Anstellung. "Die Enttäuschung hat sich immer weiter gesteigert", erinnert er sich. Als junger Vater will er zudem nicht wegziehen, weshalb er sich schließlich hauptberuflich selbstständig macht. Er entwirft Buch- und CD-Cover, Kalender, ist auf Messen vertreten. Doch irgendwann bleiben die Aufträge aus, die Einnahmen als Grafikdesigner schwanken stark. Seit mehr als zehn Jahren erhält Fiedler deshalb bereits staatliche Unterstützung. Seine Krankheit verschärft die Situation.
"Ich persönlich komme damit klar", meint er. Was am Ende vom Bürgergeld für ihn übrig bleibt, wisse er noch nicht sicher. Er warte noch auf den Bescheid vom Jobcenter, in dem seine Einnahmen aus der Selbstständigkeit gegengerechnet werden. Die Hoffnung sei, dass er durch die Umstellung von Hartz IV auf Bürgergeld am Ende mehr zu Verfügung habe als zuvor. Trotzdem sagt er: "Ohne Zuverdienst würde es knapp werden."
Die Leute bekommen nicht zu viel vom Arbeitsamt – die Leute verdienen zu wenig auf Arbeit.
Die Erhöhung des Bürgergelds zum Anfang des kommenden Jahres begrüßt er deshalb. Bedenken habe er jedoch zu einem ganz anderen Thema: "Ich befürchte, dass der Frust derjenigen größer wird, die arbeiten gehen und die um jeden Penny kämpfen müssen. Wenn die Bezahlung in Deutschland allgemein gerechter wäre, wären viele Sachen vom Tisch. Die Leute bekommen nicht zu viel vom Arbeitsamt – die Leute verdienen zu wenig auf Arbeit."
Opposition im Bundestag sieht Erhöhung von Bürgergeld kritisch
Eine Kritik, die auch von anderen Stellen immer wieder kommt – unter anderem von der Opposition im Bundestag. "Mit dem Bürgergeld gefährdet die Ampel den sozialen Frieden in unserem Land. Es ist vollkommen unverständlich, dass man durch Sozialleistungen in vielen Branchen mehr Geld übrig hat als durch Arbeit", sagt Tino Sorge, CDU-Bundestagsabgeordneter für Magdeburg, im Gespräch mit MDR SACHSEN-ANHALT. Sozialleistungen für Arbeitslose seien als Nothilfe für eine Übergangszeit konzipiert und nicht als dauerhafter Lohnersatz.
Wer sich bewusst gegen Arbeit entscheide, dürfe kein dauerhaftes Grundeinkommen erhalten und solle stattdessen mit Sanktionen belegt werden, so Sorge weiter. "Es ist ein fatales Signal, Langzeitarbeitslosigkeit attraktiver zu machen als eine Berufstätigkeit. Die immer höheren und oftmals bedingungslosen Sozialleistungen in Deutschland sind längst auch zu einem Pull-Faktor für Migration geworden. Sie lassen sich auf Dauer in dieser Form nicht finanzieren."
Arbeitsagentur: "Arbeit lohnt sich immer"
Die Frage, ob Arbeit sich durch die Einführung des Bürgergelds noch auszahle, steht deshalb immer wieder zur Diskussion. Markus Behrens von der Arbeitsagentur hat darauf eine klare Antwort: "Arbeit und Ausbildung lohnen sich immer." Durch die Freibeträge hätten die Menschen, deren Einkommen aus Arbeit so gering ist, dass sie zusätzlich Bürgergeld erhalten, mehr Geld als Menschen, die nur Bürgergeld beziehen. "Das ist eine ganz klare Motivation", meint Behrens. Arbeit sei zudem identitätsstiftend und habe auch soziale Aspekte. Aus dem Job heraus könnten sich Menschen weiterentwickeln. Die Rente sei ein weiteres Argument.
Gestiegene Preise treffen Menschen mit wenig Geld am härtesten
In der SPD ist man derweil zufrieden mit der Entwicklung des Bürgergelds. "Die Abkehr von Hartz IV war dringend nötig. Hartz IV stand für Gängelung, Abstiegsängste und drohende Armut. Das neue Bürgergeld steht für mehr Wertschätzung, bessere Weiterbildungschancen und mehr Sicherheit für die Empfänger und Empfängerinnen", sagt Martin Kröber, SPD-Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Magdeburg. Die Erhöhung des Bürgergelds zum Januar 2024 sichere das Existenzminimum in Zeiten der Inflation. "Gleichzeitig kann ich die Kritik der Sozialverbände nachvollziehen, denn die Erhöhung gleicht gerade so den Kaufkraftverlust aus. Die stark gestiegenen Lebensmittel- und Strompreise treffen Menschen mit wenig Geld am härtesten", sagt Kröber weiter.
Dass er auf seine Ausgaben stärker achten muss, ist Frank Fiedler bereits gewohnt. "Ich schränke mich in allem ein. Ich gehe nicht in Gaststätten essen, ich koche selber und mache meine eigene Marmelade. Ich gucke schon aufs Geld", meint der 61-Jährige. Über die Jahre habe er sich trotzdem ein kleines Polster ansparen können, das er für unvorhergesehene Ausgaben nutze. Auch in seine Grafikdesign-Projekte investiere er damit. Urlaub habe er sich aber trotzdem schon lange nicht mehr geleistet. Sein größter Traum ist es deshalb, wieder neue Energie zu sammeln, um irgendwann an die Ostsee fahren und die Kreidefelsen fotografieren zu können.
Dieses Thema bei FAKT IST!
Zehn Monate nach seiner Einführung mehrt sich Kritik am Bürgergeld. Ist diese Form der Grundsicherung ausreichend? Ist sie zu teuer? Und vor allem: ist sie gerecht? Fragen für den MDR-Bürgertalk "Fakt ist!" am 6. November 2023. Es diskutieren Martin Kröber (Bundestagsabgeordneter der SPD), Sepp Müller (stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU im Bundestag), Markus Behrens (Geschäftsführer der Agentur für Arbeit, Regionaldirektion Sachsen-Anhalt/Thüringen) und Sven Hennig (Förderverein für Soziokultur und Beschäftigung in Eisleben). Zu sehen ist der MDR-Talk auf dem MDR-YouTube-Kanal sowie in der ARD Mediathek.
Über Sarah-Maria Köpf
Sarah-Maria Köpf arbeitet seit Mai 2021 für MDR SACHSEN-ANHALT. Sie ist in Leipzig aufgewachsen und hat dort Kommunikations- und Medienwissenschaft studiert, bevor es sie für den Master in "Multimedia & Autorschaft" nach Halle zog.
Neben dem Studium arbeitete sie für den Radiosender Mephisto 97.6, die Leipziger Volkszeitung und das Grazia Magazin. Ihr Schwerpunkt liegt in den Bereichen Social Media sowie Polititik und Gesellschaft.
MDR (Sarah-Maria Köpf, Fabian Lars Dittmann) | Erstmals veröffentlicht am 06.11.2023
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 06. November 2023 | 19:00 Uhr
Not Found
The requested URL /api/v1/talk/includes/html/9bf2c6f8-47ce-454e-8699-8f2c8e7151fe was not found on this server.