Armut in der Bauhaus-Stadt Dessau "Leipziger Tor": Kiez, Brennpunkt, Möglichkeitsraum
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04. April 2024, 18:00 Uhr
Im Dessauer Quartier "Am Leipziger Tor" sind besonders viele Menschen auf Sozialhilfe angewiesen. Es gilt als Viertel, in dem sich die Armut konzentriert. Doch bei genauerem Hinsehen hat der Stadtteil auch viele positive Seiten.
- Anlaufstelle für Bedürftige: Im Franz-Treff kennt man die Lebensumstände der Menschen im Quartier "Am Leipziger Tor".
- Mehr als jeder Dritte unter 65 Jahren bezieht Bürgergeld.
- Das Viertel "Leipziger Tor" bietet jedoch auch einige Vorzüge.
Die Flure sind dunkel in dem unsanierten Plattenbau in der Dessauer Franzstraße. Das Licht, das sich mühsam durch ein Fenster am anderen Ende kämpft, wird förmlich geschluckt. Die Lampen an den Wänden sind wahrscheinlich noch original DDR – jedenfalls sehen sie stark danach aus. Auf dem Boden liegt abgetretener Linoleum-Belag. Alles wirkt unbelebt. Vereinzelt jedoch stehen Schuhe vor den Türen.
Weiter vorn im Treppenhaus dringt Stimmengewirr aus einer geöffneten Wohnungstür. Es ist Mittagszeit. 15 bis 20 Menschen sitzen um Tische, sie bekommen hier montags, mittwochs und freitags eine warme Mahlzeit. Die Räume gehören zum Franz-Treff, eine Anlaufstelle für Bedürftige und eine Institution im Dessauer Quartier "Am Leipziger Tor". Das Viertel gilt als einer der sozialen Brennpunkte Dessau-Roßlaus.
Dessau-Roßlau: Eine der am stärksten gespaltenen Städte
Geleitet wird der Franz-Treff von Angelika Zaizek. Die Einrichtung wird vom Deutschen Roten Kreuz betrieben und von der Stadt Dessau-Roßlau finanziert. "Zu mir kommen Menschen in Notlagen", sagt Zaizek. Oft seien es Menschen direkt aus den umliegenden Blocks. Obdachlose seien natürlich auch darunter, aber bildeten eher die Unterzahl, so Zaizek. "Viele beziehen Bürgergeld. Andere arbeiten, sind aber hochverschuldet." Wieder andere, insbesondere Seniorinnen, hätten wenig Geld, weil sie aus Scham keine Sozialhilfe in Anspruch nähmen. Um den Schein zu wahren, würden sie eher auf Essen denn auf ein gepflegtes Äußeres verzichten. "So sieht weibliche Armut hier häufig aus", sagt Zaizek.
Im Franz-Treff können die Menschen nicht nur Mahlzeiten bekommen, sondern sich bei Bedarf auch duschen oder ihre Wäsche waschen, wenn beispielsweise Strom und Wasser in den eigenen vier Wänden abgestellt wurden. Außerdem hält Angelika Zaizek einen Fundus an Kleidung bereit, vor allem warme Jacken stehen hoch im Kurs. Auch eine Sozialberatung gibt es.
Dessau-Roßlau ist eine der am stärksten in arme und reiche Stadtteile gespaltenen Städte Deutschlands. Das heißt, wohlhabende und bedürftige Haushalte leben in getrennten Vierteln weitestgehend unter sich. Zu diesem Ergebnis kommt Marcel Helbig, Soziologe am Leibniz Institut für Bildungsverläufe in Bamberg, in einer Studie zu Armutssegregation. Er untersuchte dafür 153 Städte mit über 60.000 Einwohnern.
"Am Leipziger Tor": Jeder Dritte bezieht Bürgergeld
Das Quartier "Am Leipziger Tor" steht dabei exemplarisch für das "arme Dessau". Mehr als ein Drittel der unter 65-Jährigen bezieht hier laut Helbigs Studie Bürgergeld. Es gibt weitere Viertel in der Doppelstadt, auf die das zutrifft, doch das "Leipziger Tor" ist der flächenmäßig größte armutsgefährdete Stadtteil.
Nach Zahlen des von der Verwaltung eingesetzten Quartiersmanagements "Leipziger Tor" handele es sich bei 30 Prozent der Bewohner um Seniorinnen und Senioren, von denen ein größerer Teil Anspruch auf Grundsicherung haben dürfte. Auch liege der Ausländer-Anteil mit 18 Prozent weit über dem Dessau-Roßlauer Durchschnitt von rund sechs Prozent, sagt Quartiersmanagerin Sylvia Watzek. Vom Altersschnitt her sei das Viertel trotz des hohen Seniorenanteils leicht jünger als der Rest der Stadt. Viele alleinerziehende Frauen lebten hier, viele Kinder und Jugendliche.
Schaut man allein auf die Statistiken, entstehen schnell die üblichen Klischeebilder im Kopf: Jugendbanden, Drogenkriminalität, Straßenkämpfe, Jogginghosen, Verfall und Elend. Geht man jedoch durch die Straßen des Quartiers, zeigt sich ein anderes Bild.
Kiez in exzellenter Lage
Natürlich stehen hier die unansehnlichen, unsanierten Blocks. Und es gibt auch die fast leerstehenden Plattenbauten, in denen nur noch an wenigen Fenstern Gardinen hängen. Die Grünstreifen davor sind dafür teils umso gepflegter und mit Blumen bepflanzt. Straßenzüge mit Gründerzeithäusern brechen das Plattenbau-Einerlei an verschiedenen Stellen auf und vor allem Richtung Franz- und Heidestraße sind bereits diverse Blöcke saniert worden. Die Menschen auf der Straße sind freundlich und zugewandt, die wenigsten wirken arm oder verwahrlost.
Das "Leipziger Tor" wartet noch dazu mit einer fast schon exzellenten Lage auf. Südlich des Zentrums gelegen ist es nur zwei Straßenbahnstationen von der Innenstadt entfernt. Einkaufsmöglichkeiten und Arztpraxen gibt es direkt vor der Haustür, Schulen und Kitas ebenfalls. Mulde und Muldeaue grenzen unmittelbar an den östlichen Rand des Quartiers. Und auf den vielen Abrissflächen zwischen den übriggebliebenen Blocks sprießt überall Grün – Freiflächen, wie sie in Metropolen wie Leipzig immer seltener werden. Hinzu kommen Parks und Spielplätze.
Leipziger Tor: Schlechtes Image und Investitionsstau
Warum aber kommt das Quartier dennoch nicht für Besserverdiener infrage? Für Birgit Schmidt von der Wohnbund-Beratung Dessau, Trägerverein des Quartiersmanagements, liegt das einerseits am schlechten Image des Viertels und andererseits am hohen Investitionsstau. Auf dem Wohnungsmarkt fehlten die Angebote, etwa modern geschnittene und aufwendig sanierte Wohnungen, Neubauten oder auch Möglichkeiten, Einfamilienhäuser zu errichten.
Vielfältigere Wohnangebote zu schaffen, wäre für Schmidt bei circa 20 Prozent Leerstand jedenfalls auch ohne Verdrängung alteingesessener Bewohner durchaus möglich und würde aus ihrer Sicht die Außenwahrnehmung zum Positiven verändern.
Das schlechte Image, die Stigmatisierung des "Leipziger Tors" empfinden Birgit Schmidt, Angelika Zaizek und Quartiersmanagerin Sylvia Watzek jedenfalls als reines Fremdbild. Natürlich wollen sie die sozialen Probleme der Menschen nicht kleinreden, die seien offenkundig. Aber größere Konflikte zwischen bestimmten Gruppen gebe es beispielsweise nicht. Dafür fehle die Enge, die viele Brennpunkt-Viertel kennzeichne.
Migranten seien von der Stadt zudem bewusst dezentral verteilt worden, so würden sich keine Parallelgesellschaften bilden. Zwar gebe es den ein oder anderen Streit um die Mülltrennung, Straßenkämpfe aber nicht.
Trotz Brennpunkt: Anwohner leben gern "Am Leipziger Tor"
"Viele der Leute hier sind zufrieden und fühlen sich wohl", beobachtet Sylvia Watzek. "Die sitzen im Sommer zusammen draußen und grillen." Gehe man in den Supermarkt, kenne die Verkäuferin dort die meisten Kunden, "das ist wie so ein richtiger Kiez hier". Eine aktuelle Bürgerumfrage sowie eine Sozialraumbefragung bestätigen diesen Eindruck laut Sozialdezernat der Stadt.
Und auch an Initiativen, Vereinen und Projekten, die Freiräume erobern und Zusammenhalt fördern, mangele es dem Quartier nicht. Mit der Urbanen Farm ist zum Beispiel ein Ort für den gemeinsamen Gemüseanbau entstanden. Ein öffentlich zugänglicher Apotheker-Garten wurde als Lernort gegründet.
Soziale Angebote und Einrichtungen sorgen laut Quartiersmanagerin zusätzlich für Begegnung und Bildung. Dazu gehört die Kleine Arche, die Kindern bis 13 Jahren täglich und kostenlos offensteht. Ansässige Sportvereine engagierten sich aktiv in der Integrationsarbeit, so Watzek, deren Aufgabe es ist, all die verschiedenen Akteure zusammenzubringen und zu vernetzen. "Ich will, dass die Menschen durch Nachbarschaft und Begegnung aus ihrer Isoliertheit herauskommen."
Dessau-Roßlau: Prozess der Segregation schwer aufzuhalten
Die Stadt Dessau-Roßlau unterstützt laut Quartiersmanagement zahlreiche Projekte im Quartier. Das Rathaus hat das Problem der Armutssegregation erkannt. Sie habe auf das gesellschaftliche Gefüge und die Stadtentwicklung einen enormen Einfluss. "Stigmatisierung und Ghettoisierung sind hierbei primäre Problemlagen und können Personen brandmarken", schreibt das Sozialdezernat auf Anfrage.
Zudem würden die niedrigen Mietpreise tendenziell immer mehr Menschen mit wenig Geld anziehen, die Ballung von Haushalten unterhalb der Armutsgrenze mache bauliche Investitionen nahezu unmöglich, sodass der Prozess nur sehr schwer aufzuhalten sei. Ziel sei es dennoch, allen Bevölkerungsgruppen bestmöglich gerecht zu werden und alle Stadtbezirke als attraktive Wohn- und Arbeitsorte zu entwickeln.
MDR (Daniel Salpius)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 04. April 2024 | 21:45 Uhr
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