Konflikt zwischen Anwohnern und Unternehmen Wie Thalheim gegen den Geruch der benachbarten Papierfabrik kämpft

28. Dezember 2022, 18:28 Uhr

Seit mehr als zwei Jahren fühlen sich Anwohnerinnen und Anwohner in Thalheim von den Gerüchen einer Papierfabrik im angrenzenden Sandersdorf-Brehna belästigt. Auf der Suche nach Lösungen vermissen sie die Unterstützung der Landespolitik, die sich einst für die Ansiedlung der Fabrik stark gemacht hat.

Lucas Riemer
Bildrechte: MDR/Tilo Weiskopf

Es ist der 10. August 2018, als Sachsen-Anhalts Politprominenz zum Baubeginn für die "weltweit modernste Papierfabrik", wie es damals heißt, in Sandersdorf-Brehna erscheint. Ein Foto von diesem Tag zeigt Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) und den damaligen Wirtschafts- und heutigen Umweltminister Armin Willingmann (SPD), wie sie beherzt einen Spaten in die Erde rammen.

Haseloff, so heißt es in der zugehörigen Pressemitteilung, begrüße die Industrieansiedlung "als wichtiges Leuchtturmprojekt für die Reindustrialisierung Ostdeutschlands." Rund 500 Millionen Euro investiert das Unternehmen Progroup AG aus Landau in Rheinland-Pfalz in den Bau der Anlage, großzügig unterstützt durch Fördermittel unter anderem des Landes Sachsen-Anhalt – in Höhe von insgesamt 41 Millionen Euro. Im Gegenzug sichert die Progroup zu, 134 dauerhafte Arbeitsplätze neu zu schaffen.

"Es hat bestialisch gestunken"

Rund zwei Jahre später, im Oktober 2020, beginnt für Maika Renken aus dem benachbarten Bitterfeld-Wolfener Stadtteil Thalheim der Ärger. "Wir waren verreist, kamen von der Autobahn, fuhren an der Firma vorbei und es hat bestialisch gestunken", erinnert sich die 53-jährige Lehrerin. "Ich habe gedacht: Was ist denn jetzt hier passiert? Und das hat ja dann nicht nachgelassen, das war mehrere Tage am Stück." Kurz zuvor, im Spätsommer 2020, hatte die Fabrik ihren Betrieb aufgenommen, nach einer "rekordverdächtigen Bauzeit", wie die Betreiber seinerzeit jubelten. Die dampfenden Schornsteine kann Maika Renken seitdem vom Vorgarten ihres Hauses aus sehen.

Nur 600 Meter Luftlinie sind es von der Papierfabrik bis zu den ersten Wohnhäusern in Thalheim. Damals, im Spätsommer 2020, begründet die Progroup die unangenehmen Gerüche mit dem Hochfahren der Produktionsanlage. Doch anders als versprochen, bessert sich die Situation mit der Zeit nicht entscheidend, klagt Maika Renken. Bis heute zögen immer wieder, wenn der Wind ungünstig stehe, unangenehme Gerüche aus der Anlage herüber in den 1.500-Seelen-Ort. Andere Einwohnerinnen und Einwohner von Thalheim bestätigen diesen Eindruck im Gespräch mit MDR SACHSEN-ANHALT.

Schon Ende 2020 hat Maika Renken deshalb die Bürgerinitiative "Lebenswertes Thalheim" gegründet. Im Januar 2021 schildert sie im Ausschuss für Umwelt und Energie des Magdeburger Landtages die Sorgen und Nöte der Thalheimer.

"Es riecht stechend, süßlich, penetrant, so schlimm, dass einem davon übel wird. Unsere Lebensqualität ist massiv beeinträchtigt und unsere Gesundheit leidet, durch Kopfschmerzen, Übelkeit, Schlafprobleme und den psychischen Druck, weil wir befürchten, diesen Gestank unser restliches Leben ertragen zu müssen", sagt sie damals in ihrem Redebeitrag. Außerdem fordert sie darin das Landesverwaltungsamt auf, den Schadstoffausstoß der Papierfabrik genau zu kontrollieren und dafür zu sorgen, dass die Geruchsbelästigungen aufhören.

Mehr als 1.200 Beschwerden in zwei Jahren

"Geändert", sagt Maika Renken fast zwei Jahre später, "hat sich seitdem wenig." Erst im Oktober hat es in Thalheim wieder über längere Zeit übel gerochen. Die Progroup hatte die Geruchsbelastung in diesem Fall mit Lieferschwierigkeiten bei einer für die Produktion notwendigen Chemikalie begründet und darauf verwiesen, dass die Gerüche gesundheitlich unbedenklich seien.  

Auf Anfrage von MDR SACHSEN-ANHALT teilt das Landesverwaltungsamt in Halle mit, dass seit Produktionsbeginn der Papierfabrik mehr als 1.200 Beschwerden von rund 240 Bürgerinnen und Bürgern eingegangen seien, 140 davon im Jahr 2022.

In einem von der Progroup freiwillig in Auftrag gegebenen Gutachten aus dem September 2021 habe ein Sachverständiger für Toxikologie und Umwelthygiene, Professor Ulrich Ewers, abschließend festgestellt, "dass die durch Emissionen der Anlage verursachten stofflichen Einwirkungen im Umfeld der Anlage so gering sind, dass eine dadurch bedingte gesundheitliche Beeinträchtigung oder gar Gefährdung der im näheren Umfeld wohnenden Bevölkerung auszuschließen ist."

Unternehmen misst Luftqualität selbst

Weiter antwortet das Landesverwaltungsamt in seiner Stellungnahme: "Seit der Inbetriebnahme der Anlage bis heute werden regelmäßige und anlassbezogene immissionsschutzrechtliche Vor-Ort-Kontrollen durchgeführt, zuletzt am 22. November 2022 eine anlassbezogene Überwachung aufgrund von hier eingegangenen Beschwerden. Immissionsschutzrechtliche Mängel konnten dabei bisher nicht festgestellt werden." Auch seien bei dieser und anderen Vor-Ort-Kontrollen keine Gerüche festgestellt worden.

Durchgeführt werden die Messungen zur Luftqualität offenbar von der Progroup selbst oder durch von ihr beauftragte Unternehmen. Denn die Sprecherin des Landesverwaltungsamtes schreibt auch: "Das Landesverwaltungsamt (…) führt selbst keine Messungen durch. Die Pflicht zur Messung wird der Betreiberin einer derartigen Anlage (…) auferlegt."

Ortsbürgermeister vermisst Unterstützung der Landespolitik

Unterstützung im Kampf gegen den Geruch bekommen Maika Renken und die Bürgerinitiative von Thalheims Ortsbürgermeister Uwe Bruchmüller. "Die Thalheimer sind verärgert und fühlen sich allein gelassen", sagt der CDU-Mann. Briefe der Bürgerinitiative an Ministerpräsident Reiner Haseloff und die grüne Bundesumweltministerin Steffi Lemke blieben bis auf freundliche Eingangsbestätigungen unbeantwortet.

Und auch eine erneute, persönliche Anhörung ihres Anliegens im Landtagsausschuss für Wissenschaft, Energie, Klimaschutz und Umwelt wurde den Thalheimern verweigert. In der Landespolitik gebe es eigentlich nur einen, der sich im Kampf gegen das Geruchsproblem engagiere, sagt Ortsbürgermeister Bruchmüller: der Landtagsabgeordnete Daniel Roi von der AfD, der selbst in Thalheim wohnt.

"Ich glaube, die Messpunkte waren merkwürdig", so Bruchmüller mit Blick auf das Gutachten der Progroup, das die vermeintliche Unbedenklichkeit der Emissionen der Papierfabrik bestätigt. "Man muss auch zu den Zeiten messen, wenn es hier diese Belästigung gibt. Das hat irgendwie nicht so gut funktioniert, habe ich den Eindruck."

Streit erreicht nächste Stufe

Anfang Dezember spitzt sich die Auseinandersetzung zwischen den Thalheimern und der Progroup zu: Ortsbürgermeister Bruchmüller hat plötzlich ein Schreiben von den Anwälten der Progroup in seinem Briefkasten, in dem ihn das Unternehmen auffordert, "wahrheitswidrige Äußerungen sofort einzustellen und es auch künftig zu unterlassen, unzutreffende Behauptungen (…) in der Öffentlichkeit zu verbreiten." Andernfalls drohten dem Ortsbürgermeister juristische Konsequenzen.

Tatsächlich könnten Bruchmüller rechtliche Folgen drohen, wenn seine Vorwürfe nicht auf nachweisbaren Tatsachen beruhen.

Bruchmüller hatte laut einem Bericht der MZ zuvor in einer Sitzung des Ortschaftsrates von Thalheim geäußert, dass es zu erheblichen Geruchsbelästigungen durch die Papierfabrik der Progroup für Anwohner in Thalheim komme, die seiner Ansicht nach außerdem zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen würden. Das stimme nicht, sagt die Progroup und rechtfertigt ihr Vorgehen, doch dazu später mehr.

Bitterfeld-Wolfens OB kritisiert Progroup

Knapp zehn Minuten sind es mit dem Auto von Thalheim bis zum Rathaus von Bitterfeld-Wolfen. Armin Schenk fährt diese Strecke täglich, denn Bitterfeld-Wolfens CDU-Oberbürgermeister wohnt selbst in Thalheim. Im Oktober, als es zuletzt für mehrere Tage in Thalheim zu Geruchsbelästigungen durch die Papierfabrik kam, hatte Schenk Urlaub und war deshalb öfter als gewöhnlich zuhause.

"Ich habe die Gerüche auch wahrgenommen. Und das sind Gerüche, die sind unangenehm. Frische Luft ist etwas Anderes", sagt Schenk. "Wenn es wie beim letzten Mal tageweise hintereinander zu einer solchen Geruchsbelästigung kommt, dann ist das etwas, das aus meiner Sicht nicht zu akzeptieren ist." Den Brief der Progroup an Ortsbürgermeister Bruchmüller kritisiert er: "Ich will deutlich sagen: Ich halte dieses Schreiben nicht für einen geeigneten Weg, sondern ich halte es immer für besser, miteinander im Gespräch zu bleiben."

Man kann eine Behauptung, etwas sei gesundheitsgefährdend, nicht so stehen lassen.

Karl Achleitner, Progroup

Dass auch der Progroup an einem guten Austausch mit den Anrainern gelegen sei, betont Karl Achleitner im Gespräch mit MDR SACHSEN-ANHALT. Er ist "Senior Vice President Operations Paper" bei dem Unternehmen und sagt: "Gleichzeitig kann man eine Behauptung, etwas sei gesundheitsgefährdend, nicht so stehen lassen." Es sei belegt, dass das Unternehmen keine gesundheitsgefährdenden Stoffe emittiere.

Außerdem lässt Achleitner wissen, dass die Progroup in Abstimmung mit dem Landesverwaltungsamt an der Umsetzung eines Maßnahmenplanes arbeite, um die Geruchsbelästigung zu minimieren. Das Landesverwaltungsamt bestätigt das gegenüber MDR SACHSEN-ANHALT. Doch während an der Umsetzung des Maßnahmenplanes noch gearbeitet wird, produziert die Fabrik weiterhin auf Hochtouren: Bis zu 2.000 Tonnen sogenanntes Wellpappenrohpapier laufen in Sandersdorf-Brehna täglich vom Band.

Ein Mann im Anzug
Der Thalheimer Daniel Roi sitzt für die AfD im Landtag. Bildrechte: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE

Daniel Roi, der AfD-Landtagsabgeordnete aus Thalheim, beklagt die mangelnde Transparenz der Progroup: "Es werden aus meiner Sicht vorgeschobene Gründe vorgebracht, warum die Geruchsbelästigung da ist." Das Schreiben der Progroup an Ortsbürgermeister Bruchmüller kritisiert auch der AfD-Mann: "Wenn die Firma der Meinung ist, gewählte Vertreter mit Rechtsanwälten unter Druck setzen zu müssen, dann ist das, glaube ich, der falscheste Weg, den man gehen kann. Ich glaube, das Unternehmen sollte besser Lösungen anbieten. Immerhin haben sie 41 Millionen Euro Fördermittel bekommen."

Komplizierte Suche nach Lösungen

Wie geht es nun weiter in Thalheim? Ortsbürgermeister Uwe Bruchmüller will weiter für ein Ende der Geruchsbelästigung kämpfen und sich dabei trotz der unerfreulichen Weihnachtspost nicht den Mund verbieten lassen. "Wenn wir so weit sind, dass Unternehmen Bürgermeistern mit einer Drohung das Wort entziehen, können wir mit der Demokratie einpacken. Insofern glaube ich nicht, dass ich mich davon einschüchtern lasse." Im Zweifel müsste die Produktion in der Papierfabrik eben gestoppt werden, wenn es besonders stark riecht, etwa, weil bestimmte Chemikalien nicht verfügbar seien.

Die Pressesprecherin des Landesverwaltungsamtes betont das "gemeinsame Ziel, die Geruchsemissionen weitestgehend zu unterbinden". Man werde das Unternehmen Progroup "zur Umsetzung der besprochenen Maßnahmen beauflagen" und gehe weiterhin jeder Beschwerde nach. Zudem solle der Maßnahmenplan zur Geruchsreduzierung künftig erweitert werden.

Im Landtagsausschuss für Wissenschaft, Energie, Klimaschutz und Umwelt stehen die Bürgerbeschwerden aus Thalheim am 1. Februar auf der Tagesordnung. Die Landesregierung soll an diesem Tag einen Bericht an den Ausschuss übergeben. Vertreterinnen und Vertreter aus Thalheim dürfen nicht sprechen.

Künftig noch mehr Geruchsbelästigung?

"Es gibt für alles irgendwo eine Lösung, und die muss gefunden werden", sagt Maika Renken von der Bürgerinitiative "Lebenswertes Thalheim". Sie fürchtet allerdings, das nächste Projekt der Progroup könnte das Geruchsproblem weiter verschlimmern. Direkt neben der Papierfabrik plant das Unternehmen, ein Heizkraftwerk zu errichten. Mehr als 800 Einwendungen dagegen hat Renken im Ort gesammelt.

Noch gibt es für das Kraftwerk keine Baugenehmigung, mit einer Entscheidung ist nach Angaben des Landesverwaltungsamtes im ersten Quartal 2023 zu rechnen. Sollte gebaut werden dürfen, könnte Maika Renken von ihrem Vorgarten aus bald nicht nur ein weiteres vermeintliches "Leuchtturmprojekt" sehen  – sondern auch einen dampfenden Schornstein mehr.

Lucas Riemer
Bildrechte: MDR/Tilo Weiskopf

Über den Autor Lucas Riemer arbeitet seit Juni 2021 bei MDR SACHSEN-ANHALT. Der gebürtige Wittenberger hat Medien- und Kommunikationswissenschaft in Ilmenau sowie Journalismus in Mainz studiert und anschließend mehrere Jahre als Redakteur in Hamburg gearbeitet, unter anderem für das Magazin GEOlino.

Bei MDR SACHSEN-ANHALT berichtet er vor allem über gesellschaftliche und politische Themen aus den Regionen des Landes.

MDR (Lucas Riemer, Falko Schuster)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 28. Dezember 2022 | 19:00 Uhr

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