Infrastruktur in Südthüringen Wie die Dorfgemeinschaft in Südthüringen den ÖPNV ersetzt

02. Oktober 2021, 08:13 Uhr

Wer im Süden Thüringens lebt und mit dem Bus in die Stadt fahren will, braucht vor allem Zeit. Teilweise müssen die Busse im Vorfeld sogar bestellt werden, um überhaupt vom Fleck zu kommen. Kein Wunder also, dass fast jeder Haushalt auf ein oder mehrere Autos angewiesen ist. Doch was tun, wenn selber fahren eines Tages nicht mehr möglich ist? Eine Reportage über die Infrastruktur in Südthüringen und die Notwendigkeit einer starken Dorfgemeinschaft.

Ein ungefähr 1,90 Meter großer Mann lehnt an seinem verzinkten Holz-Gartentörchen, den Unterarm auf dem metallenen Rahmen abgestützt. Er trägt ein blaues T-Shirt und seine von der Sonne braun gebrannte Glatze glänzt ein wenig in der Sonne.

Seine Stimme wird leiser, seine Miene etwas ernster: "Euch ist wohl die ganze A*** zu Kopf gestiegen!" Das sind nicht etwa seine Worte. Olaf Oestreich schildert einen alten Streit mit einem Dorf-Nachbarn. Gemeinsam mit seinem Mann erzählt er von der Zeit, als beide zurück in Olaf Oestreichs Heimatort Straufhain, im Kreis Hildburghausen, gezogen sind.

Dorfgemeinschaft reserviert über Zuzug

Das Paar wohnt hier mit nicht mal dreitausend anderen Menschen in einem beschaulichen Dorf ganz im Süden Thüringens. Hinter einem Beet, neben der Haustür sitzt Oestreichs Mutter und genießt die Sonne. Die Wetter-App spricht zwar nur von 23 Grad, die spätsommerlichen Sonnenstrahlen lassen einen aber noch einmal vom eigentlich verpassten Hochsommer träumen.

Gerade am Anfang habe sich die Dorfgemeinschaft reserviert verhalten: Zwei Männer, alleine in einem Haus, schwul. Damals wurde ihnen wohl alles mögliche zugetraut, erzählt Oestreich. Die Nachbarn haben im Dorf sogar Angst um die Kinder gehabt. Aus dieser Zeit stammt auch die beleidigende Aussage des Nachbarn. Das wurde damals einfach so über den Holzzaun gebrüllt. 

Gefängnis statt Ausreise

Dass sie deshalb hier nicht hergehören würden, kam Oestreich nie in den Sinn. Hier, in dem ehemaligen innerdeutschen Grenzort, ist er aufgewachsen. Und hier wäre er auch geblieben. Aber weil ihn die Repressionen der DDR niederdrückten, stellte er einen Ausreiseantrag. Sein Leben in der DDR wurde in der Folge nicht einfacher und nach einem missglückten Fluchtversuch landete Oestreich sogar im Gefängnis, bevor dem Antrag doch noch stattgegeben wurde. 

Oestreich: "Für mich gibt‘s nichts Schöneres in Deutschland, als das fränkische Hügelland."

Nach der Wiedervereinigung zog es ihn sofort zurück in seine Heimat: "Heimat ist die Gegend, die Leute, die Menschen, die ich kenne." Gemeinsam mit seinem Partner zeigt er seinen Lieblingsort. Außerhalb des Dorfs fahren sie über einen staubigen Schotterweg auf eine höhergelegene Wiese, die sachte abfällt, hinunter ins flache Tal, in dem sie wohnen.

Die grünen, grasigen Erhebungen und sanften Täler, die das Land südlich des Rennsteigs auszeichnen, können von hier oben in aller Ruhe genossen werden. "Für mich gibt‘s nichts Schöneres in Deutschland als das fränkische Hügelland.", sagt er mit einem Lächeln. 

Gedankengut aus dem Zweiten Weltkrieg

Es wird schnell deutlich: Hier wieder weg zu ziehen, ist für ihn keine Option. Das Paar ist fester Bestandteil von Straufhain. Olaf Oestreich weiß zudem, er kann sich auf die Hilfe der Nachbarn verlassen. Die gegenseitige Unterstützung im Dorf ist aber auch notwendig.

Und obwohl Olaf Oestreich sein Zuhause wiedergefunden hat, ist er auch erschrocken über manche Menschen mit denen er sich seine Heimat teilt. Über seine Arbeit als Gärtner kommt er zwangsläufig mit vielen Menschen ins Gespräch: "Die Leute hier sind sehr konservativ, es hat sich von der Meinungsbildung sehr nach rechts bewegt." Er spricht von einem Gedankengut, das nach dem Zweiten Weltkrieg nie weg gewesen sei. Ein Rechtsruck oder gar eine Revolution, die sich manche offen wünschen, macht Oestreich Angst.

Fremdenfeindlichkeit schleicht sich langsam ein

Aber es sind nicht nur diese Umsturz-Fantasien, die ihm Sorgen bereiten. Im Alltag sind es kleine Bemerkungen, hier und da, die zeigen würden, dass viele hier nicht glücklich über Fremde seien und ihren Unmut über vermeintlich harmlose Witze ausdrücken: "Wenn da zum Beispiel so'n dicker Asylbewerber da ist, fragt man sich, wie konnte der soweit flüchten. Das ist so eine komische Grenze. Ironie, Sarkasmus, das ist so fließend." So schleichen sich langsam diese fremdenfeindliche Vorurteile ein, analysiert Oestreich. "Da werden die Äußerungen immer extremer."

Politik wird für die Stadt gemacht

Der Rechtsruck, von dem Oestreich erzählt, kann auch an den Wahlergebnissen der Bundestagswahl abgelesen werden. Die AfD wurde in Thüringen stärkste Kraft. In dem Wahlkreis, zu dem auch der Landkreis Hildburghausen und somit auch Straufhain gehören, war es dieses Jahr besonders spannend. Die regionale CDU ging mit dem ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten und Parteirechten Hans Georg Maaßen ins Rennen.

Während bundesweit darüber debattiert wurde, ob die CDU-Spitze diese Kandidatur hätte verhindern sollen, gerieten die alltäglichen Schwierigkeiten vor Ort in den Hintergrund. Für Wahlkampfveranstaltungen haben er und sein Partner eh keine Zeit, sagt er.

Insgesamt enstehe der Eindruck, dass die Politiker vor Ort die wirklichen Anliegen auf dem Land nicht nach Berlin tragen und die Politiker aus der Stadt nicht mitbekommen würden, an welchen Stellen es hier fehlt. Wenn man Olaf Oestreich fragt, was die Politik tun kann, wünscht er sich: 

Dass auch mal Leute aus Berlin aufs Land gehen und da mal gucken, wie sieht es denn da aus? Wie leben die Menschen da? Ich kann nicht nur in Berlin gucken, sondern ich muss auch raus aus Städten. Deutschland ist nicht nur Stadt, sondern auch Land.

Olaf Oestreich

Mangelnde Infrastruktur macht Freizeitausflüge schwierig

Ein wichtiges Thema, das weder im Bundeswahlkampf, noch im südlichen Thüringen behandelt wurde ist die mangelnde Infrastruktur. Denn ohne Auto geht in Südthüringen nichts. Der letzte Bus in die Kreisstadt Hildburghausen fährt um 16:02 Uhr. Oestreich würde gerne mehr ÖPNV nutzen, aber das Angebot reiche schlicht und ergreifend nicht aus. Einkaufen, ins Kino gehen, oder abends mit Freunden in eine Bar. Die Antwort ist immer dieselbe: "Ich bin gezwungen ein Auto zu haben". 

Ein Beispiel: Das nächste Kino liegt im bayerischen Coburg. Die 25 Kilometer dauern mit dem Auto um die 30 Minuten. Wenn der Arbeitstag um 17:00 Uhr endet, dann würde Oestreich frühestens um 18:24 Uhr in Coburg ankommen.

Auf der 43 minütigen Fahrt hätte er genug Zeit sich für einen Kurzfilm zu entschieden, denn die letzte Verbindung wieder nachhause fährt exakt 8 Minuten später, um 18:32 Uhr, auch schon wieder zurück nach Straufhain. Diesmal würde die Strecke eine Stunde und siebenunddreißig Minuten dauern. Deshalb fasst Oestreich richtig zusammen: "Für einen Kinofilm muss ich mir Urlaub nehmen."

Schon jetzt unterstützen sich die Straufhainer im Dorf gegenseitig

Oestreich pflegt zudem seine 86-jährige Mutter. Wenn sie zum Urologen muss, muss er mindestens 30 km fahren. "Das muss ich leisten, dass die Frau dahin kommt." Ohne Auto ginge es nicht. Der Blick in seine eigene Zukunft erfüllt ihn mit Sorge. Wenn er daran denkt, dass er oder sein Partner ausfallen könnten, wird diese fehlende Mobilität zum Knackpunkt.

Schon jetzt unterstützen sich die Nachbarn im Dorf gegenseitig und nach Hilfe zu fragen, sei für ihn kein Problem, aber eine Frage der Verhältnismäßigkeit: "Es ist immer ein Geben und Nehmen. Und wenn man nur nimmt, wird es irgendwann auch eine Belastung für andere Menschen." Sollte Olaf Oestreich gebrechlich werden oder schlicht nicht mehr in der Lage sein, selbst Auto zu fahren, müsse er ohne einen funktionierenden öffentlichen Nahverkehr "schweren Herzens hier wegziehen". 

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 04. Oktober 2021 | 19:00 Uhr

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