MDRfragt Mehrheit blickt skeptisch auf geplante Bürgergeld-Erhöhung
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06. November 2023, 08:59 Uhr
Immer wieder wird darüber diskutiert, wie hoch die staatliche Grundsicherung sein sollte. Im aktuellen Meinungsbarometer von MDRfragt blickt die Mehrheit der mehr als 27.000 Befragten skeptisch darauf, dass das Bürgergeld angesichts der Lohnentwicklung und der hohen Inflation deutlich erhöht werden soll. Viele Befragte fürchten, der Abstand zum Niedriglohnsektor werde zu klein. Andere meinen: Das liege am Lohnniveau, nicht an der Grundsicherung.
- Eine Mehrheit der Befragten hält die geplante Erhöhung des Bürgergeldes im kommenden Jahr für zu hoch.
- Gleichzeitig glauben viele, dass höhere Bürgergeld-Sätze dazu führen könnten, dass Bezieherinnen und Bezieher sich nicht so schnell einen neuen Job suchen.
- Einige Befragte meinen hingegen: Das eigentliche Problem seien niedrige Löhne, nicht die staatliche Grundsicherung.
Seit Jahresbeginn gibt es kein Hartz IV mehr als staatliche Grundsicherung, sondern Bürgergeld – und es soll im kommenden Jahr erhöht werden: Viele Befragte im aktuellen Meinungsbild von MDRfragt halten die geplanten Aufschläge für zu hoch. Konkret gaben das knapp 60 Prozent der Befragten an. Jede und jeder Fünfte hält die Erhöhung für angemessen. Mehr als jede und jeder Zehnte findet, das Plus fällt zu niedrig aus.
Zu geringer Abstand zu Menschen mit niedrigen Löhnen?
Einige MDRfragt-Mitglieder argumentieren damit, dass die Erhöhung des Bürgergeldes um 12 Prozent den Abstand zu den Einkommen von Berufstätigen aus dem Niedriglohnsektor zu stark verringere. "Zwölf Prozent ist schon eine Hausnummer. Es ist ein Schlag ins Gesicht für diejenigen, die für wenig Geld einer Arbeit nachgehen - auch mit mehreren Jobs", meint etwa Hannes (70) aus dem Salzlandkreis.
Und Wolfgang (79) aus dem Landkreis Wittenberg merkt an: "Da kommen ja noch andere Vergünstigungen hinzu. Miete, Energiekosten, und, und, und. Es bleibt die Frage, ob das bei einem Arbeitskräftemangel wirklich die richtige Strategie ist."
Angemessen mit Blick auf die Inflation?
Wer die Erhöhung angemessen findet, argumentiert oft mit der Preisentwicklung - und damit, dass die Grundsicherung zum Leben reichen müsse.
So meint Andreas (62) aud dem Burgenlandkreis: "Die Preise sind immer noch viel zu hoch. Es gab auch hohe Tarifabschlüsse. Somit müssen auch die Leistungen der Jobcenter drastisch angehoben werden, sonst bleiben sehr viele Menschen auf der Strecke."
"Mit Blick auf die Inflation frage ich mich, ob alle, die darüber meckern, dass das viel zu viel ist, von dem Geld einen Monat überleben würden. Ich denke nicht", kommentiert Lena (25) aus Erfurt.
Und Marvin (27) aus Halle gehört zu den Befragten, die die Erhöhung noch für zu niedrig erachten: Die Grundsicherung sei schon vor der starken Inflation viel zu niedrig gewesen, ähnlich wie der Mindestlohn und das Einkommensniveau im Niedriglohnsektor, argumentiert er. "Jetzt, einmal das Bürgergeld genau um die Inflationshöhe zu erhöhen, ist fast ein Hohn."
Und auch Marvin Krämer aus Weimar findet: Auch mit der Erhöhung wird er als Bürgergeld-Bezieher keine großen Sprünge machen. Der 28-Jährige hat sein Studium abgeschlossen, sucht jetzt einen Job und erzählt eigentlich ungern, dass er Bürgergeld bezieht. Er wolle nicht als arbeitsunwillig gelten. Mehr über die aktuelle Situation von MDRfragt-Mitglied Marvin Krämer gibt es im Video:
Anfang November stellte der christliche Wohlfahrtsverband Diakonie ein Online-Spiel namens "Bürgergeld-Bingo" vor, mit dem jede und jeder Interessierte durchspielen kann, welche finanziellen Einschränkungen der Bezug der Grundsicherung mit sich bringe. "Wir wollen weniger Populismus und Patentrezepte und Hartleibigkeit im Umgang mit Armut. Es gibt nicht die Bürgergeld-Beziehenden. Es gibt Menschen, die es trotz massiver Bemühungen nicht schaffen, endlich aus der Armut herauszukommen", erklärte die Vorsitzende der Diakonie Deutschland, Maria Loheide.
Viele glauben: Mehr Bürgergeld bringt weniger Job-Anreiz
Eng verbunden mit dem Argument, der Abstand zwischen geringverdienenden Beschäftigten und Menschen, die Bürgergeld bezögen, sei zu gering, ist auch die Einschätzung der MDRfragt-Gemeinschaft in einer anderen Frage: Fast zwei Drittel der Befragten glauben, dass die Höhe des Bürgergeldes einen Einfluss darauf hat, wie schnell sich Betroffene einen neuen Job suchen. Fast ein Fünftel meint hingegen, die Höhe der staatlichen Grundsicherung habe keinen Einfluss auf die Job-Bemühungen – 14 Prozent halten den Einfluss für eher gering.
Häufiges Argument: Arbeitskräftemangel sollte zu mehr Job-Annahmen führen
Auch hier ist ein häufiges Argument derjenigen, die in einer höheren Grundsicherung einen Anreiz zum Nicht-Arbeiten sehen, der Vergleich mit dem Niedriglohnsektor: "Fragen Sie doch einmal Personen, die für den Mindestlohn arbeiten, wie sie das finden", meldet sich etwa Anja (50) aus Dessau-Roßlau zu Wort. "Der Abstand zwischen Bürgergeld und Mindestlohn müsste meines Erachtens höher sein, um mehr Personen zum Arbeiten zu motivieren."
Ein weiteres häufiges Argument: Wer arbeiten könne, solle auch arbeiten - und wenn es gemeinnützige Arbeit sei. So meint Mario (59) aus dem Landkreis Mansfeld-Südharz mit Blick auf den Arbeitskräftemangel in vielen Branchen: "Der zum Erliegen gekommene zweite Arbeitsmarkt (gemeinnützige Arbeit für die Allgemeinheit) sollte wieder gefördert werden. Im Gegensatz zu früheren Jahren nimmt man keinem mehr die Aufträge weg."
Für manche, wie Elke (62) aus dem Landkreis Wittenberg, steht die Eigenverantwortung für die Finanzierung des eigenen Lebens im Vordergrund. "Es kann nicht sein, dass sich Personen im sozialen Netz ausruhen, während händeringend Arbeitskräfte gesucht werden."
Gegenargument: Es liegt nicht am Bürgergeld
Doch für einige MDRfragt-Mitglieder geht die Diskussion darum, ob das Bürgergeld dazu verleite, nicht mehr zu arbeiten, in die völlig falsche Richtung. "Die Frage sollte eher lauten, welchen Einfluss die Höhe von Gehältern hat. Die Leute verdienen zu wenig und daran ist nicht das Bürgergeld Schuld", findet Bianca (22) aus dem sächsischen Vogtlandkreis - und formuliert damit ein vielfach vorgebrachtes Argument.
Andere verweisen darauf, dass es beim Arbeiten sowieso nicht nur ums Geld geht: "Arbeit lohnt sich immer. Mit dem Bürgergeld kann ich mir keinen Urlaub oder sonstige Freizeitaktivitäten leisten. Die Sorge um Geld ist der ständige Begleiter. Und das Selbstwertgefühl ist gleich Null", fasst es Renate (67) aus Magdeburg zusammen.
Und Marvin (28) aus Weimar stört, dass sich die Debatte um Menschen dreht, die wenig Geld haben: "Es ärgert micht, dass wir gesellschaftlich immer nur nach unten treten und lieber fragen, wie man Arbeitslose möglichst gängeln kann, um jeden noch so unsinnigen Job anzunehmen, anstatt zu fragen, warum eigentlich so viele Berufe, die wir alle brauchen, so unattraktiv und vor allem schlecht bezahlt sind."
Sanktionen werden überwiegend für richtig gehalten
Das Bürgergeld kann – wie schon die vorherigen Hartz-IV-Bezüge – gekürzt werden, wenn Betroffene Termine im Jobcenter verpassern oder Jobangebote nicht annehmen. Diese sogenannten Sanktionen hält ein Großteil der MDRfragt-Gemeinschaft im aktuellen Stimmungsbild für richtig oder eher richtig. Nur jede und jeder zehnte Befragte hält sie tendenziell für falsch. Gleichzeitig halten knapp drei Viertel der Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Verschärfung von Sanktionen für einen Weg, um die Anreize, einen Job anzunehmen, zu erhöhen.
Auch zur Kürzung der Grundsicherung haben zahlreiche Befragte in einem Kommentar erklärt, was aus ihrer Sicht für oder gegen Sanktionen spricht.
Weniger Grundsicherung, mehr Erfolg bei der Jobsuche?
"Sanktionen müssen sein, um Trittbrettfahrer zu vermeiden", findet Hans (69) aus Halle: "Sie müssen aber auch konsequent verhängt werden, wenn die Arbeitswilligkeit fehlt." Aus Sicht von Dieter (70) aus dem Burgenlandkreis sind Kürzungen tendenziell sinnvoll. "Auch gekürzte Leistungen reichen problemlos zum Leben, aber nicht zu einem würdevollen Leben." In der Frage der härteren Sanktionen reichen die Argumente von Verpflichtung zu gemeinnütziger Arbeit bis hin zu kompletter Streichung der Grundsicherung für jene, die gesundheitlich arbeiten könnten, aber nicht wollten.
Im Gegenzug findet etwa Julia (31) aus Leipzig die Kürzungen bei der Grundsicherung falsch: "Es ist erniedrigend und unzumutbar, jemandem mit Existenzverlust zu drohen, wenn er ein Angebot ablehnt. Besonders wenn beispielsweise Familien mit dran hängen. Sie auf den Leistungen 'ausruhen' tun die wenigsten – das ist nämlich alles andere als komfortabel."
Und Jana (48) aus Halle meint, Arbeit bedeute Selbstbestätigung, weil man für sich selbst sorgen könne und lohne sich bis auf wenige Ausnahmen immer: "Wer arbeiten möchte, wird sich immer eine Stelle suchen – egal, wie hoch das Bürgergeld ist. Wer nicht arbeiten möchte (und dies ist eine sehr geringe Anzahl der Arbeitssuchenden) tat dies auch vorher nicht, denen sind auch irgendwelche Abzüge egal."
Gegenargument: Viele können nicht (voll) arbeiten
Doch dass es so viele Menschen gibt, die arbeiten könnten und es einfach nur nicht tun, dem widersprechen auch einige Befragte, die beruflich selbst mit den Betroffenen zu tun haben.
"Viele sind gewillt, arbeiten zu gehen, können beispielsweise jedoch nicht mehr in Vollzeit arbeiten", schreibt uns eine 28-Jährige aus Sachsen, die nach eigenen Angaben im Job selbst mit Bürgergeld-Beziehenden zu tun hat. "Viele Leistungsempfängerinnen und Leistungsempfänger sind nicht stolz darauf, arbeitssuchend zu sein. Sie merken die gesellschaftliche Ausgrenzung oder Abwertung", ergänzt sie.
Und eine MDRfragt-Teilnehmerin aus Thüringen, die ebenfalls mit Bürgergeld-Beziehenden arbeitet, schreibt: "Viele Bürgergeldbezieher können aufgrund körperlicher und vor allem psychischer Erkrankungen nicht mehr arbeiten." Sie plädiert dafür, dass die sozialpädagogische Betreuung ausgebaut werden müsste, auch um zu verhindern, dass die Kinder aus Familien mit Bürgergeld-Bezug dauerhaft in Armut gerieten.
Zum Thema "Bürgergeld – zu niedrig, zu hoch, zu ungerecht?" diskutierten am Montagabend auch Vertreter aus Politik und Verwaltung in der Talkrunde "Fakt ist!" aus Magdeburg mit zahlreichen Mitgliedern aus der MDRfragt-Gemeinschaft.
MDRfragt bietet ein aktuelles Stimmungsbild mit sehr vielen Befragten zu aktuellen Themen. Weil jede und jeder in Mitteldeutschland sind einbringen kann und keine Stichprobe gezogen wird, sind die Ergebnisse zwar nicht repräsentativ. Sie werden jedoch noch wissenschaftlichen Kriterien gewichtet, um die Aussagekraft zu erhöhen. Zudem können die Befragten ihre Position in Kommentaren begründen. Das erlaubt, die Argumente hinter der Meinung sichtbar zu machen.
MDRfragt hat noch einige weitere Fragen gestellt. Alle Ergebnisse zum Thema finden Sie unter folgendem Link.
Über diese Befragung
Die Befragung vom 27.10.-01.11.2023 stand unter der Überschrift:
Bürgergeld: zu viel oder zu wenig?
Insgesamt sind bei MDRfragt 65.924 Menschen aus Mitteldeutschland angemeldet (Stand 01.11.2023, 11 Uhr).
27.197 Menschen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen haben online an dieser Befragung teilgenommen.
Verteilung nach Altersgruppen:
16 bis 29 Jahre: 260 Teilnehmende
30 bis 49 Jahre: 3.869 Teilnehmende
50 bis 64 Jahre: 11.460 Teilnehmende
65+: 11.608 Teilnehmende
Verteilung nach Bundesländern:
Sachsen: 13.776 (51 Prozent)
Sachsen-Anhalt: 6.775 (25 Prozent)
Thüringen: 6.626 (24 Prozent)
Verteilung nach Geschlecht:
Weiblich: 12.292 (45 Prozent)
Männlich: 14.836 (55 Prozent)
Divers: 69 (0,2 Prozent)
Die Ergebnisse der Befragung sind nicht repräsentativ. Wir haben sie allerdings in Zusammenarbeit mit dem wissenschaftlichen Beirat nach den statistischen Merkmalen Bildung, Geschlecht und Alter gewichtet. Das heißt, dass wir die Daten der an der Befragung beteiligten MDRfragt-Mitglieder mit den Daten der mitteldeutschen Bevölkerung abgeglichen haben.
Aufgrund von Rundungen kann es vorkommen, dass die Prozentwerte bei einzelnen Fragen zusammengerechnet nicht exakt 100 ergeben.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Fakt ist! | 06. November 2023 | 22:10 Uhr