Housing First und Co Diese Maßnahmen bekämpfen Obdachlosigkeit effektiv

17. Januar 2023, 11:37 Uhr

Notunterkünfte, Suppenküchen, Kältebusse: In Deutschland gibt es viele Hilfsangebote für Obdachlose. Trotzdem leben 40.000 Menschen auf der Straße. Wie passt das zusammen? Es brauche eine bessere Vernetzung, sagt eine Forscherin, die mit Obdachlosen gelebt hat. Und mehr Prävention. Menschen dürften gar nicht erst auf der Straße landen. Dafür müsse der Staat proaktiv werden - im Notfall Mietschulden übernehmen und Räumungsklagen abwenden. Doch wir müssen auch insgesamt umdenken.

40.000 Menschen leben in Deutschland auf der Straße. Das geht aus dem ersten Wohnungslosenbericht der Bundesregierung hervor. Tatsächlich könnte die Zahl sogar deutlich höher sein, weil es sehr schwierig ist, die Betroffenen zu zählen.

Viele von ihnen sind aus Geldnot in die Obdachlosigkeit gerutscht. Sie konnten schlicht ihre Miete nicht mehr bezahlen. Andere wurden nach einer Trennung obdachlos oder weil der Vermieter Eigenbedarf angemeldet hat. Auch psychische Erkrankungen spielen eine Rolle – zum Beispiel eine Depression oder Suchterkrankung.

Bundesweit wurden 2021 mehr als 29.000 Wohnungen in Deutschland zwangsgeräumt. Allein in Mitteldeutschland sind über 4.600 Zwangsräumungen vollstreckt worden. Doch was muss getan werden, damit es gar nicht so weit kommt?

Prävention: Räumungsklagen abwenden

Damit Menschen ihre Wohnung nicht verlieren, müsse der Staat vorher aktiv werden, sagt Luisa Schneider. Sie befasst sich für das Hallenser Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung mit dem Thema Obdachlosigkeit. "Wir müssen Systeme aufbauen, die auf Menschen zugehen", sagt Schneider. "Wenn Menschen zum Beispiel in Mietrückstande geraten, an Depression leiden oder psychosoziale Probleme haben, dann müssen wir auf diese Menschen zugehen und ihnen Lösungen anbieten."

Wir [müssen] auf diese Menschen zugehen und ihnen Lösungen anbieten.

Luisa Schneider Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle

Ein Weg sei, dass der Staat, in dem Fall die zuständige Kommune, Mietschulden übernimmt und somit Räumungsklagen abwendet. Wünschenswert sei es, wenn Informationen über Räumungsklagen in einer Kommune automatisch zusammenlaufen und Betroffene dann beraten werden. Denn Menschen in schwierigen Lebenssituationen seien oft nicht fähig, selbstständig Hilfe zu suchen, sagt Schneider. Sie suchten die Institutionen nicht auf, die ihnen helfen könnten. "Um effektiv Präventionsarbeit leisten zu können, müssen wir weg vom aktivierenden und hin zum unterstützenden Staat", fordert Schneider.

Sind Menschen einmal durch das soziale Raster gefallen und auf der Straße gelandet, ist der Weg zurück oft schwer und lang. Wie können sie also aus der Obdachlosigkeit rauskommen?

Wege aus der Obdachlosigkeit

Ein vielversprechendes Modell ist "Housing First". Das bedeutet, obdachlose Menschen bekommen eine Wohnung ohne irgendwelche Bedingungen. Damit sie dann den Kopf frei haben, um Probleme wie Sucht oder Schulden anzugehen.

"Housing First" kommt ursprünglich aus den USA und wird heute in verschiedenen europäischen Ländern angewendet. Besonders erfolgreich ist es in Finnland, wo dadurch viele Obdachlose von der Straße heruntergeholt werden konnten.

Auch in Leipzig und Dresden gibt es erste "Housing First"-Modellprojekte. Auch die Landtagsfraktion der Linken in Sachsen-Anhalt wollen das Modell anwenden. Flächendeckend wird es in Deutschland aber noch nicht angewendet, bisher dominiert das klassische Stufenmodell. Das heißt, der Weg zurück in eine eigene Wohnung verläuft über verschiedene Stufen wie Notunterkünfte, betreutes Wohnen - immer an bestimmte Bedingungen geknüpft. Obdachlose Menschen müssen ihre "Wohnfähigkeit" nachweisen, beispielweise indem sie ihre Alkoholabhängigkeit in den Griff bekommen. "Housing First" dreht das im Prinzip um, beziehungsweise überspringt diese Stufen.

Ein großes Problem aber bleibt: in Deutschland gibt es zu wenige bezahlbare Wohnungen.

Kein bezahlbarer Wohnraum

2023 werden laut einer Studie mehr als 700.000 Wohnungen fehlen, besonders Sozialwohnungen und günstige Wohnungen. Das ist ein neuer Rekord. Der Bundesregierung ist das Problem bekannt - sie will bis 2026 allein den Bau von Sozialwohnungen mit 14,5 Milliarden Euro fördern. Das Ziel ist, pro Jahr 100.000 neue Sozialwohnungen zu bauen. Das wurde allerdings schon im vergangenen Jahr nicht mal ansatzweise erreicht.

Hilfsangebote besser vernetzen

Wer auf der Straße lebt, kann verschiedene Hilfsangebote der Kommunen oder von Sozialträgern wahrnehmen - beispielsweise Notunterkünfte, Tagestreffs, Suppenküchen oder Kältebusse. Trotzdem schlafen über 40.000 Menschen auf der Straße. Wie kann das sein?

Zum einen haben nichtdeutsche Obdachlose, die immerhin ein Drittel ausmachen, oft kein Anrecht auf diese Leistungen. Zum anderen seien die Hilfsangebote noch nicht gut vernetzt, sagt Luisa Schneider vom Max-Planck-Institut in Halle.

Wir müssen die Jugendhilfe mit der Wohnungslosenhilfe vernetzen, die Suchtprävention mit der Wohnungslosenhilfe, Gefängnis- und Wiedereingliederungsstrukturen mit der Wohnungslosenhilfe.

Luisa Schneider Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung

"Wenn wir merken, wann wo Menschen im Hilfessystem auftauchen, dann können wir Menschen in verschiedenen Problemsituationen auffangen. Und Lösungen anbieten", sagt Wissenschaftlerin Luisa Schneider, die mit Obdachlosen gelebt hat.

Konkret braucht es aber vor allem im Winter mehr Notunterkünfte, die dauerhaft geöffnet sind. Viele Obdachlose müssen sie morgens wieder verlassen. Und mehr öffentliche Toiletten und Duschen, die kostenlos sind sowie öffentliche Trinkwasserbrunnen. Denn jede dritte obdachlose Person hat keinen Zugang zu Leitungswasser. Bei starker Hitze kann das lebensbedrohlich sein.

Umdenken: Obdachlose sind nicht selbst schuld

Luisa Schneider fordert aber auch ein generelles Umdenken im Umgang mit obdachlosen Menschen. "Im Moment verstehen wir Wohnungslosigkeit als individuelles Problem, das von Menschen persönlich gelöst werden muss. Es ist jedoch ein gesamtgesellschaftliches Problem. Das gesamtgesellschaftliche Lösungen erfordert", sagt Schneider.

Im Moment verstehen wir Wohnungslosigkeit als individuelles Problem [...]. Es ist jedoch ein gesamtgesellschaftliches Problem.

Luisa Schneider Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung

2030: Keine Obdachlosigkeit mehr

Die Bundesregierung möchte all dies erreichen. Bis 2030 soll es keine Obdachlosigkeit mehr in Deutschland geben. So steht es zumindest im Koalitionsvertrag. Mit Blick auf die nur vereinzelte Umsetzung von "Housing First" und dem großen Problem von zu wenigen Sozialwohnungen bleibt das Ziel sehr ambitioniert.

Dieses Thema im Programm: recap bei Youtube | 13. Januar 2023 | 17:40 Uhr

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