Faktencheck Gefängnisse in Deutschland teilweise voll, aber aufnahmebereit
Hauptinhalt
09. November 2024, 05:00 Uhr
Bei der Bild-Zeitung und in einem Tiktok-Video heißt es: "Umstrittene Dienstanweisung: Polizei soll flüchtige Straftäter laufen lassen" – angeblich, weil Gefängnisse zu voll seien. Das stimmt so nicht. Was nach unserer Überprüfung des Videos übrig bleibt: Es ging um eine Regelung zu Ersatzfreiheitsstrafen aus Corona-Zeiten.
- In einem Tiktok-Video wird behauptet, Gefängnisse in Deutschland seien überfüllt. So sehr, dass Straftäter nicht verhaftet werden könnten. Das stimmt nicht.
- Der ursprüngliche Kern der Geschichte bezieht sich auf Hessen. Dabei ging es um Ersatzfreiheitsstrafen während der Coronazeit.
- Gefängnisse in Deutschland sind teilweise voll, aber dennoch aufnahmefähig.
Man könnte es als eine von vielen Falschmeldung überscrollen. Könnte. Wenn es nicht so viele Klicks und Kommentare gäbe. Empörte und wütende Kommentare sammeln sich unter einem Tiktok-Video, das Unglaubliches meldet: "Polizisten sollen verurteilte Straftäter laufen lassen, auch wenn ein offener Haftbefehl gegen sie vorliegt." Weil die Gefängnisse angeblich zu voll seien.
Das stimmt allerdings nicht. Diejenigen, die die Meldung als wahr einschätzen, sind trotzdem wütend. Und befürchten womöglich britische Verhältnisse. Die Tagesschau berichtet aus Großbritannien von "unhaltbaren Zuständen", Gewalt und, ja, auch das, von Überfüllung.
Bild-Artikel als Vorlage für Tiktok-Video
Zurück nach Deutschland. Das Tiktok-Video arbeitet mir generischen Bildern von Polizeeinsätzen und ähnelt damit mehr einer Dia-Show als einem "echten" Bewegtbild. Dennoch, 260.000 Aufrufe und über 1700 Kommentare sammeln sich darunter. Eine Userin schreibt: "Alles klar, dann verteidigen wir uns ab sofort selber".
Der Urheber des Videos gibt auf Nachfrage einen Bild-Artikel als Quelle an. Im originären Artikel wird zumindest zügig klar: Es geht um Ersatzfreiheitsstrafen aus der Corona-Zeit in Hessen. Die Informationen der Bild-Zeitung stammen aus einer Pressemittelung der hessischen Polizeigewerkschaft "DPolG".
Hessens Justizministerium schreibt:
Aufgrund der Corona-Pandemie mussten Maßnahmen ergriffen werden, um einen geordneten Strafvollzug sicherzustellen und die Handlungsfähigkeit des Justizvollzugs zu gewährleisten. Zeitweise wurden deshalb keine Ersatzfreiheitsstrafen vollstreckt. Hierbei sei kurz ausgeführt, dass eine Ersatzfreiheitsstrafe angeordnet wird, wenn eine vom Gericht angeordnete Geldstrafe uneinbringlich ist.
Diese Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen wurde seit dem 1. Juni 2023 wieder aufgenommen; andere Fälle der Inhaftierung, z.B. Gefangene der Untersuchungs- oder Strafhaft, waren und sind davon unberührt.
Ersatzfreiheitsstrafen wurden in Hessen zeitweise ausgesetzt
Im Tiktok-Video werden die Quellen nur unvollständig benannt und auch, dass sich alle Aussagen auf das Bundesland Hessen beziehen, erfahren die User nicht. In der Mitte des rund einminütigen Videos wird erwähnt, dass es sich um Ersatzfreiheitsstrafen aus der Corona-Zeit handelt, um die es geht.
Also um Straftäter, die eine vom Gericht verhängte Geldstrafe nicht bezahlt haben. Die in Deutschland häufigste Ersatzstrafe beginnt mit einem eher alltäglichen Delikt: Fahren ohne Fahrschein. Zahlen Betroffene verhängte Bußgelder nicht, geht das Verfahren vor Gericht. Wird auch die hier verhängte Geldstrafe nicht beglichen, wird sie in eine Freiheitsstrafe, die Ersatzstrafe, umgewandelt.
Eine Nachfrage beim Justizministerium in Hessen ergibt: Ja. Diese Anweisung gab es während Corona, um das Risiko eines Ausbruch des Virus in Haftanstalten gering zu halten. Was aber keinen Hinweis auf eine Überfüllung der Gefängnisse in Hessen bedeute.
Justizvollzug teilweise voll, aber aufnahmebereit
Das Justizministerium schreibt weiter: "Im September 2024 standen im geschlossenen Vollzug in Hessen rund 300 freie Haftplätze zur Verfügung, die zu einem Teil für die Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen genutzt werden können." Hinsichtlich der Haftplatzkapazitäten in den hessischen Justizvollzugsanstalten könne mitgeteilt werden, dass mit Stichtag 16. Oktober 2024 insgesamt 4.267 Haftplätze belegt seien. Die Belegungsquote liege somit bei 83 Prozent.
MDR AKTUELL hat die übrigen Justizministerien aller Bundesländer nach der Belegung ihrer Vollzugsanstalten befragt. Die meisten Bundesländer haben geantwortet. In Baden-Württemberg und Bremen sei es "voll", andere Bundesländer haben Kapazitäten.
Das Justizministerium in Baden-Württemberg gibt an: "Von einer Vollbelegung ist auszugehen, wenn im geschlossenen Justizvollzug 90 Prozent der Haftplätze belegt sind. Der geschlossene Vollzug der baden-württembergischen Justizvollzugsanstalten ist mit einer Auslastung von 97 Prozent nach wie vor überbelegt." Jedoch sei der hiesige Justizvollzug aufnahmebereit.
Gefängnisse in Mitteldeutschland
"Im Jahresdurchschnitt 2024 lag die Gesamtauslastung aller Thüringer Anstalten bei 72,11 Prozent, inklusive offener Vollzug und Jugendarrest. Die Thüringer Justizvollzugseinrichtungen sind damit weitestgehend gut ausgelastet, jedoch absolut nicht überfüllt", antwortet das Thüringer Ministerium.
Das Innenministerium in Sachsen-Anhalt schreibt: "Aktuell gilt keine Anstalt als überbelegt, wenngleich der Belegungsdruck sehr hoch ist." In Sachsen sei man derzeit bei 78 Prozent der gesamten Belegungsfähigkeit. Die Gefängnisse seien nicht überfüllt.
Behauptung schon 2021 verbreitet
Die Behauptung, Gefängnisse in Deutschland seien überfüllt und Straftäter könnten deshalb nicht verhaftet werden, wird nicht das erste Mal im Internet verbreitet. Die Presse-Agentur AFP hat 2021 einen Faktencheck zu dieser Frage veröffentlicht. Damals empörten sich User bei Facebook.
Das Bundesjustizministerium schreibt dazu auf Anfrage: "Für die Jahre 2019 bis 2023 sind für die gesamte Bundesrepublik die Gesamtzahl der Haftplätze sowie die Zahl der Inhaftierten ersichtlich. Eine Überbelegung lässt sich weder aus diesen Zahlen ablesen, noch ist sie uns bekannt."
"Nein, deutsche Gefängnisse sind nicht überfüllt und Haftbefehle werden weiter durchgesetzt", schreibt AFP im Jahr 2021. So könnte man auch drei Jahre später die Lage zusammenfassen.
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Nachrichten | 02. November 2024 | 10:00 Uhr