Ersatzfreiheitsstrafe Schwarzfahren: 67 Menschen aus Gefängnis freigekauft
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23. Mai 2023, 08:48 Uhr
Tausende Menschen kommen ins Gefängnis, weil sie Geldstrafen – etwa wegen Schwarzfahren – nicht begleichen können. Längst ist klar, dass Ersatzfreiheitsstrafen keine positiven Effekte haben. Am 22. Mai wurden 67 Menschen aus dem Gefängnis freigekauft – finanziert von privaten Spenden. Warum gibt es die Ersatzfreiheitsstrafe noch?
- Die Initiative "Freiheitsfonds" hat am Montag 67 Menschen aus dem Gefängnis freigekauft – sie saßen eine Haftstrafe wegen Schwarzfahrens ab.
- Die Gefängnisse befürworten die Aktion. Auch sie halten die Ersatzfreiheitsstrafe für nicht sinnvoll.
- Die Reformidee von Justizminister Marco Buschmann, Schwarzfahren zu einer Ordnungswidrigkeit zu machen, stößt bei Bündnissen auf wenig Begeisterung.
Die Initiative "Freiheitsfonds" hat am Montag nach eigenen Angaben 67 Menschen aus dem Gefängnis geholt, die eine Haftstrafe wegen Schwarzfahrens absaßen. Die Gruppierung teilte über Twitter mit, unter ihnen sei auch ein Mann, der wegen einer Strafe von 141 Euro noch fast fünf Monate hätte absitzen müssen. Im Schnitt brauchten die Betroffenen rund 1.000 Euro, um ihre Strafe wegen Fahrens ohne Fahrschein zu bezahlen.
Staat profitiert von "Freiheitsfonds" – 11,6 Millionen Euro gespart
Betroffene und Staat werden zusammengerechnet um zwölf Jahre Haft "erleichtert": Zwölf Jahre Haft oder 4.380 Tage Freiheit. Der Staat spart den Angaben von "Freiheitsfonds" nach damit 11,6 Millionen Euro.
Vor allem arme und abgehängte Menschen verbüßen Ersatzfreiheitsstrafen
Es sind meistens arme Menschen oder Menschen in einer Krise.
Arne Semsrott ist Journalist und Aktivist. Mit der Initiative "Freiheitsfonds" sammeln er und sein Team Geld, um Menschen aus dem Gefängnis freizukaufen, die wegen Fahrens ohne Fahrschein einsitzen. Davon profitieren nicht nur Betroffene, sondern auch die Gefängnisse, die oft überlastet sind. Und der Staat, der die Kosten dafür spart.
Die Initiative "Freiheitsfonds" feiert am 22. Mai 2023 den mittlerweile vierten "Freedom Day". An diesem Tag wird das Geld eingesetzt.
Der 35-Jährige erklärt im Gespräch mit MDR AKTUELL, wer die Betroffenen sind: "Es sind meistens arme Menschen oder Menschen in einer Krise. Wir halten die Bestrafung für unverhältnismäßig und unfair, deshalb fordern wir die Entkriminalisierung von Fahren ohne Fahrschein." 2019 waren es 7.000 Häftlinge, die deshalb im Gefängnis saßen. Oft sind es Obdachlose, Arbeitslose und Suizidgefährdete.
Gefängnisse sind teurer als Hotelzimmer
Ersatzfreiheitsstrafen treffen nicht nur verstärkt arme Menschen, sie kosten den Steuerzahler unnötig viel Geld. Ein Gefängnisaufenthalt in Deutschland kostet pro Tag zwischen 130 und 180 Euro. In sächsischen Gefängnissen beliefen sich 2022 die Kosten beispielsweise auf 155,35 Euro pro Hafttag.
Eine Nacht in einem Hotel in der Leipziger Innenstadt, "mit angesagter Bar", Kingsize-Bett und Fernseher, kostet, Stand heute, 103 Euro. Wer diese Zahlen vergleicht, kommt ins Grübeln: Sind Ersatzfreiheitsstrafen sinnvoll, rein rechnerisch? "Lohnt" sich das?
Und "lohnen", das schließt auch Prävention, Einsicht, Nicht-wieder-straffällig-werden ein. Also nochmal: "Lohnt" sich solch eine Ersatzfreiheitsstrafe für den Staat, für uns, für die Gesellschaft? "Nein", sagt Semsrott.
Er führt aus: "Alle Leute, mit denen wir zu tun haben, sind für die Entkriminalisierung. Auch die Gefängnisse, bei denen ich eigentlich davon ausging, sie sind gegen uns, wenn wir das Strafsystem so unterlaufen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Denn sie wissen auch, wie sinnlos diese Bestrafung ist."
Ersatzfreiheitsstrafe an häufigsten wegen Schwarzfahrens
Ersatzfreiheitsstrafe: Schon das Wort klingt sehr deutsch, mächtig, unnachgiebig, bürokratisch, nach Aktenablage und Behörde, aber auch verhandelbar. Es klingt nach Gefängnis. Ersatzfreiheitsstrafe ist alles das.
Der Name ist im Grunde selbsterklärend: Wer eine vom Gericht verhängte Geldstrafe nicht bezahlt, muss als Ersatz eine Freiheitsstrafe antreten.
Die in Deutschland häufigste Ersatzstrafe beginnt mit einem eher alltäglichen Delikt: Fahren ohne Fahrschein. Zahlen Betroffene die verhängten Bußgelder nicht, geht das Verfahren irgendwann vor Gericht. Wird auch die hier verhängte Geldstrafe nicht beglichen, wird sie in eine Freiheitsstrafe umgewandelt, Betroffene müssen ins Gefängnis. Es klingt wie eine Erziehungsmaßnahme aus dem Schauermärchen: Wer nicht für den Fahrschein zahlt, wird eingebuchtet! Aber genau so verhält es sich.
Strafgesetzbuch §265 a Wer die Leistung eines Automaten oder eines öffentlichen Zwecken dienenden Telekommunikationsnetzes, die Beförderung durch ein Verkehrsmittel oder den Zutritt zu einer Veranstaltung oder einer Einrichtung in der Absicht erschleicht, das Entgelt nicht zu entrichten, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist.
Initiativen, Journalistinnen und Journalisten, darunter Jan Böhmermann und Arne Semsrott, informieren seit 2021 über das Thema und kritisieren das Gesetz von 1935, eingeführt von der NSDAP. Und immer mehr Menschen verhalten sich dazu, finden es unverhältnismäßg, überzogen und vor allem: nicht sinnvoll.
Bundesjustizminister will Ordnungswidrigkeit statt Straftat
Auch Justizminister Marco Buschmann ist sich der Argumente gegen die Ersatzfreiheitsstrafe bewusst. Er will Ersatzfreiheitsstrafen reformieren. Im kommenden Jahr will er die Herabstufung von Schwarzfahren von einer Straftat zur Ordnungswidrigkeit prüfen. Und: Künftig soll bei einer nicht bezahlten Geldstrafe pro zwei verhängten Tagessätzen nur noch ein Tag Freiheitsstrafe fällig werden. Bisher gilt ein Verhältnis von eins zu eins.
Bündnis: Umwandlung von Schwarzfahren in Ordnungswidrigkeit löst Problem nicht
Das Bündnis "Ersatzfreiheitsstrafe.de" schreibt in einer Stellungnahme zu Buschmanns Reformidee: "Eine Umwandlung löst nicht das Problem des Polizierens, wodurch Strafen überhaupt erst entstehen. Vor allem rassifizierte Gruppen würden auch unter dem Vorwand einer Ordnungswidrigkeit weiterhin verstärkt kontrolliert und somit eher bestraft werden."
Es sei also nichts weiter als "politische Augenwischerei". Auch Semsrott ist kein Verfechter der Idee, Fahren ohne Fahrschein zur Ordnungswidrigkeit zu machen: "Das wird das Problem nicht lösen. Wir haben in Deutschland gar nicht die Ressourcen, um festzustellen, ob eine Person ein Bußgeld nicht zahlen will oder kann."
Geldstrafe oder Bußgeld, beides könne im Gefängnis enden. Das Bündnis von Semsrott setzt sich deshalb weiter für die Abschaffung des Gesetzes §265a ein: "Es ist kein Thema, mit dem man Wählerstimmen bekommt. Ich finde, das Justizministerium sollte seiner Verantwortung endlich gerecht werden. Das ist bisher leider nicht der Fall."
Erzwingungshaft durch Polizei ebenfalls fragwürdig
Selbst wenn Fahren ohne Fahrschein "nur" noch eine Ordnungswidrigkeit und keine Straftat mehr darstellen würde, könnte immer noch eine sogenannte Erzwingungshaft angeordnet werden – also auch wieder Gefängnis.
Erzwingungshaft ist keine Strafe für die begangene Ordnungswidrigkeit, sondern stellt ein Beugemittel dar. Die Erzwingungshaft kann angeordnet werden, wenn der oder die Betroffene das Bußgeld nicht zahlt. Durchgesetzt wird das Ganze durch die Polizei.
Dass eine drohende Ersatzhaft und die Berechtigungen der Polizei, die damit einhergehen, unangenehm sind, diese Erfahrung hat erst vor wenigen Wochen die Influencerin und Tiktokerin Tara Wittwer "wastarasagt" machen müssen. Sie wurde von der Polizei, wegen einem nicht bezahlten Bußgeld von zehn Euro in Handschellen abgeführt und auf eine Polizeiwache gebracht. Wegen zehn Euro. In Handschellen. Von der Polizei.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 22. Mai 2023 | 08:00 Uhr
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