Von Wallraff bis CORRECTIV Was ist investigativer Journalismus?
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13. September 2023, 15:51 Uhr
Günter Wallraff ist einer der populärsten "Enthüllungsjournalisten", der besonders dem Fernsehpublikum durch seine verdeckten Ermittlungen vor Ort bekannt ist. Gemeinsam mit seinem Rechercheteam hat er beispielsweise fragwürdige Arbeitsbedingungen und politische wie gesellschaftliche Missstände aufgedeckt und publik gemacht. Die "Wallraff-Methode" ist nur eine Form der Recherche. Was aber genau ist sogenannter investigativer Journalismus und wie arbeitet eine Rechercheredaktion?
Inhalt des Artikels:
Was bedeutet investigativer Journalismus?
Investigativer Journalismus greift zumeist gesellschaftlich relevante Themen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft auf mit dem Ziel, durch hartnäckige und kontinuierliche Recherche Missstände, Skandale und Affären aufzudecken, ebenso aber auch Fake News zu überprüfen und zu entlarven.
Investigativer Journalismus unterscheidet sich vom tagesaktuellen Journalismus vor allem durch seine oft besonders zeitintensive, mitunter Monate oder auch Jahre andauernde Arbeit. Quellen müssen recherchiert, angefragt und geprüft werden. Kontakte zu Insidern, Informanten oder gar Whistleblowern müssen geknüpft und ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden.
Häufig als Vierte Gewalt bezeichnet, spielen Presse und Rundfunk in demokratischen Staaten eine relevante Rolle. Investigativer Journalismus kann hier noch einmal als besonders kritisches Instrument bezeichnet werden.
Die Praxis: So funktioniert investigativer Journalismus wirklich
CORRECTIV ist eine deutschlandweit agierende, gemeinnützige und unabhängige Organisation, die für investigativen Journalismus steht. Sie setzt in ihrer Recherche-Redaktion auf Teamarbeit und bleibt entgegen möglicher Widerstände an den gesetzten Themen dran. "Das ist allein für das Demokratie-Verständnis im Journalismus von besonderer Wichtigkeit", betont Anette Dowideit und beschreibt: "Wir gehen ja nicht irgendwohin und täuschen jemanden, sondern wir stellen ganz offizielle Anfragen und bedienen uns der gesetzmäßigen Regeln. Beispielsweise stellen wir eine Anfrage an das Bundesinnenministerium und möchten alle Informationen darüber haben, wie zum Beispiel ein Gesetz zustande gekommen ist. Wir hinterfragen unter anderem: An welchen Stellen haben der Minister, der Referatsleiter und der Abteilungsleiter Aktenvermerke gemacht und welcher Lobbyverband hat hierzu möglicherweise weitere Informationen reingegeben? So lässt sich mitunter aufdecken, dass, wer hätte es gedacht, beispielsweise der Lobbyverband, zum Beispiel für Tabak, eigentlich den Gesetzestext geschrieben hat?"
Wir umgehen also kein Gesetz, sondern: Unser Werkzeug und unsere Waffe für die Demokratie ist das Gesetz.
Dazu verdeutlicht die Journalistin: "Das alles unterliegt dem Informationsfreiheitsgesetz – ein Gesetz, das für alle Leute da ist. Jeder normale Bürger dürfte das also ebenfalls machen. Wir selbst nutzen das häufig für unsere journalistische Arbeit." So stellt Anette Dowideit klar: "Wir umgehen also kein Gesetz, sondern: Unser Werkzeug und unsere Waffe für die Demokratie ist das Gesetz. Wir berufen uns somit auf die Auskunftspflicht – und als Stimme des Bürgers bedienen wir uns dieses Gesetzes und des Rechts auf öffentliche Berichterstattung."
Wofür braucht es investigativen Journalismus?
Rund 90 Prozent der Hinweise, die Redaktionen wie CORRECTIV erhalten, führen zu keinerlei Berichterstattung. Weil hinter den Fällen beispielsweise kein für die Gesellschaft wirklich relevantes Thema steht oder eine Tatsache längst schon bekannt ist. Aus dem gleichen Grund bieten oftmals auch Einzelfälle keine Grundlage für eine investigative Recherche. "Ein investigativ aufgearbeitetes Thema sollte somit vor allem für eine breite Masse von Interesse sein oder aber etwas thematisieren, worunter die Allgemeinheit leidet", gibt die stellvertretende Chefredakteurin einen weiteren Einblick in ihre Arbeit.
Dennoch würden investigativen Redaktionen nicht die Themen ausgehen. "Denn obwohl Deutschland im Großen und Ganzen im Vergleich zu anderen Ländern schon ein recht gut entwickeltes Land ist, gibt es auch hier immer wieder gesellschaftliche, wirtschaftliche oder auch politische Missstände", schätzt Anette Dowideit ein.
Weiter veranschaulicht sie: "Politische Missstände sind oft etwas, das man in der Gesetzgebung findet. Diese ist vielleicht in irgendeiner Form fehlerhaft, benachteiligt jemanden und sorgt dafür, dass die Allgemeinheit eher darunter leidet – oder ist mitunter auch unter fragwürdigen Bedingungen zustande gekommen, beispielsweise unter dem Einfluss von Lobbyverbänden. Das versuchen wir mit unserer Berichterstattung zu beheben. Im Bereich Wirtschaft sind es dagegen oft eher korruptive Verhältnisse, denen investigative Journalisten nachgehen – also, wenn sich jemand auf Kosten einer Organisation oder der Allgemeinheit bereichert. Und dann gibt es eben auch im sozialen und gesellschaftlichen Bereich Dinge, die zeigen, dass eine Bevölkerungsgruppe strukturell benachteiligt wird. Das alles sind Themen und Missstände, die wir sichtbar machen wollen."
Qualitätsjournalismus – Zeit für Recherchen und Netzwerken
Bei vielen investigativen Recherchen bedarf es einer Zusammenarbeit von Menschen mit ganz unterschiedlichen Kompetenzen und ganz bestimmten Recherchetechniken. Vor allem im Zuge vielfältiger digitaler Informationen und Verbreitungen, sind neue und individuelle Techniken zunehmend gefragt.
"Investigativ heißt ja zunächst erst einmal: Was ist untersuchbar? Und das sind ja längst nicht nur Ereignisse. Dafür braucht es oft mehr als einen Einzelkämpfer", meint Dowideit und erklärt: "Für die Auswertungen eines offenen Datensatzes, der frei verfügbar ist im Netz, in dem hunderttausend Daten stehen, mit denen sich beispielsweise die Bewegungsdaten von Schiffen auf der ganzen Welt auswerten lassen und sich verfolgen lässt, wohin zum Beispiel die Getreideschiffe aus der Ukraine fahren, braucht es beispielsweise besondere technische Fähigkeiten. Zu bestimmten Erkenntnissen bei dieser Art Datenrecherche und -analyse, genannt OSINT – Open Source Investigation, gelangt man also erst mithilfe von Programmierern und deren Erfahrungen beim Einsatz von Analysetools. Andere technische Kenntnisse bedarf es wiederum für das grafische Ausspiel der Informationen oder für das Schaffen interaktiver Inhalte und die Arbeit für Social Media. Das ist jetzt nur eine Facette von ganz vielen. Und unterm Strich ist es so, dass bei uns viele Leute mit ganz unterschiedlichen Fähigkeiten zusammenarbeiten." Das ermöglicht CORRECTIV eine flexible Arbeitsweise und bietet dem Team die Möglichkeit, mit der Zeit und auch neue Wege im investigativen Journalismus zu gehen.
OSINT
Open Source Investigation beziehungsweise Open Source Intelligence (OSINT) nutzt Techniken und Technologien zum Beschaffen, Sammeln, Analysieren und Zusammenführen frei verfügbarer Informationen aus öffentlichen Quellen wie etwa von Webseiten, mittels Satellitenbilder oder benutzergenerierten Inhalten. Es ist ein Mittel, um interne Daten aufzuspüren und so wertvolle Erkenntnisse zu gewinnen.
Journalismus versus Aktionismus
"Jede Recherche-Redaktion muss sich immer wieder die zentrale Frage stellen: Wo hört Journalismus auf und wo fängt Aktionismus an? Denn auch wenn man mit dem Sichtbarmachen von Missständen vielleicht bewirken will, dass sich ein Gesetz ändert oder etwas verbessert wird, hat der Journalismus als Vierte Gewalt im Staat ja nur die Kontrollfunktion und nicht die Funktion der Legislative und zur Gesetzesänderung", verdeutlicht Anette Dowideit. Was nach einer Berichterstattung passiert und ob Konsequenzen aus der Veröffentlichung gezogen werden, liegt nicht mehr in den Händen der Journalistinnen und Journalisten.
Jede Recherche-Redaktion muss sich immer wieder die zentrale Frage stellen: Wo hört Journalismus auf und wo fängt Aktionismus an?
Dowideit legt außerdem Wert auf Transparenz: "Ein entscheidender Faktor für uns ist, unsere Leser so oft wie möglich bereits während einer Recherche auf dem Laufenden zu halten", unterstreicht sie mit Blick auf das Vertrauen der Bevölkerung in den investigativen Journalismus. Das gelte für große Recherchethemen wie auch für den Einsatz der CORRECTIV-Redaktion gegen Desinformation. Als Teil eines internationalen Netzwerks von Faktenprüfern geht die Redaktion mit seinen Faktenchecks gegen Fake News vor.
Andere Wege in der investigativen Recherche
Investigativer Journalismus bedient sich mitunter weiterer Methoden, die dazu beitragen können, Skandale und Missstände aufzuzeigen: beispielsweise durch Informationen von Whistleblowern – Mitarbeitende von Unternehmen oder Personen, die in bestimmte Prozesse stark integriert sind. Einer der bekanntesten Whistleblower ist der US-Amerikaner Edward Snowden, der im Juni 2013 enthüllte, in welchem Ausmaß Geheimdienste die Telekommunikation und das Internet überwachen. Derartige Insider können den Medien wertvolle Informationen und Daten zuspielen, die investigative Recherchen in Gang setzen.
Andere Investigativ-Redaktionen konzentrieren sich in ihrer Arbeit, neben Aussagen von Informanten, vorwiegend auf das Durchforsten von Zahlen, Akten und E-Mails. So wurden in der Vergangenheit anhand zugespielter Dokumente schon viele große Skandale aufgedeckt: Wie etwa die Panama Papers, die Paradise Papers und die Ibiza-Affäre – allesamt Enthüllungen, die mit den Namen der Journalisten Bastian Obermayer und Frederik Obermaier verknüpft sind. Derartige Enthüllungen sind oftmals aber nur durch einen Zusammenschluss mehrerer Redaktionen oder eines Rechercheverbunds möglich.