Buch der Woche | Feridun Zaimoğlu: "Evangelio - Ein Luther-Roman" Als Luther die Nahrung verweigerte
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08. Juni 2017, 15:10 Uhr
Obwohl "Evangelio" den Untertitel "Ein Luther-Roman" trägt, handelt es sich keineswegs um eine literarische Biografie des Reformators. Der Autor widmet sich nur einem relativ kurzen Abschnitt aus dem Leben des Theologen, dafür aber einem sehr spektakulären: Es geht um die Zeit vom 4. Mai 1521 bis zum 1. März 1522, in der Luther auf der Wartburg als "Gefangener" ausharrte.
Da Luther seine protestantischen Ideen auf dem Reichstag zu Worms nicht widerrief, erklärte Kaiser Karl V. ihn kurzerhand für vogelfrei. Man hätte ihn überall ermorden können. Sein ihm wohlgesonnener Dienstherr Friedrich der Weise, Kurfürst von Sachsen, ließ ihn deshalb bei einem fingierten Überfall entführen und in Sicherheit bringen. Zehn Monate verbrachte Luther auf der Wartburg bei Eisenach. Er verbarg sich dort unter dem Decknamen Junker Jörg. Ein damals entstandenes Gemälde von Lucas Cranach dem Älteren zeigt den Geistlichen als vermeintlichen Ritter mit Vollbart.
Historisch weiß der Autor Feridun Zaimoğlu erstklassig Bescheid und richtet sich nach den historischen Fakten, die über Luthers Wartburg-Aufenthalt überliefert sind. Er konsultierte wiederholt Fachleute, um bezüglich der Tatsachen ganz auf Nummer sicher zu gehen. In sehr authentischen und ungeheuer eindringlichen Bildern beschreibt er die Krankheitsschübe, unter denen der Reformator seit der Exkommunikation durch Papst Leo X. litt. Er porträtiert Luther als einen psychisch angeknacksten Mann, der weiß, dass er als unerwünschte Person gilt, sich aber trotzdem kämpferisch gebärdet.
Es finden sich beklemmende Szenen, in denen Luther die Nahrung verweigert, weil er sich vom Fasten eine Läuterung erhofft. Doch die Askese bekommt ihm nicht und sein Zustand verschlechtert sich. Atemberaubend muten die Episoden an, in denen Zaimoğlu ausmalt, wie Luther bezüglich seiner Thesen mit sich selbst ringt und sich der Sünde bezichtigt. Von ähnlich magischer Wirkung sind jene Kapitel, in denen der Autor veranschaulicht, wie Luther mit einem imaginären Teufel ringt, von dem er sich bedroht glaubt. Solche Passagen liest man beklommen, sie entfalten eine überwältigende Faszinationskraft.
Momente der künstlerischen Freiheit im Roman
Feridun Zaimoğlu schickt eine Figur ins Feld, die im realen Umfeld Luthers nicht existierte. Es handelt sich um einen ehemaligen Landsknecht namens Burkhard, der den Geächteten vor dem Terror seiner Feinde beschützen soll. Der raue, ungehobelte Bursche - ein missratener Kaufmannssohn - steckt in einem tiefen Gewissenskonflikt, denn er ist Katholik und wünscht sich, dass Luther mit seinen rebellischen Bestrebungen scheitert. Dennoch muss er ihn im Auftrag von Friedrich dem Weisen bewachen und ihm dienen. Zaimoğlu beschwört hier eine Konstellation zwischen zwei Menschen herauf, die sich sowohl von der Mentalität als auch von der Weltanschauung her total unterscheiden. Daraus resultiert ein Spannungspotential, das für enormen Nervenkitzel sorgt.
Dass Luther auf der Wartburg in nur elf Wochen das Neue Testament ins Deutsche übersetzte, spielt im Roman nur eine untergeordnete Rolle. Dem Autor geht es stärker um die schweren inneren Kämpfe, die der Theologe mit sich ausfocht. Immerhin hebelte Luther radikal die jahrhundertealten Ideale der römisch-katholischen Kirche aus. Zaimoğlu schildert ihn als einen Umstürzler, an dem Selbstzweifel nagten. "Wozu bin ich beauftragt?", lautet die Frage, die Luther sich im Roman voller Ungewissheit stellt.
Eine Sprache, die Luther gefallen hätte
Die Art, in der Zaimoğlu den Reformator charakterisiert, erinnert an Hieronymus Bosch, der auf seinem um 1500 entstandenen Triptychon "Der Garten der Lüste" geschundene und geplagte Menschen in der Hölle darstellte. In fiktiven Briefen an Luthers Mitstreiter Georg Spalatin und Philipp Melanchthon, die der Schriftsteller in den Text einstreut, suggeriert er, dass sich der Reformator unsicher fühlte, wenn es um die Revolutionierung des Christentums ging. Auch Luthers Ablehnung der Juden thematisiert er oft.
Dabei benutzt eine Sprache, die Luther mit hoher Wahrscheinlichkeit gut gefallen hätte, denn sie wirkt ebenso plastisch wie aufwühlend. Sie besitzt einen volksnahen Zug und spielt häufig ins Deftige und Derbe hinein. Luther wollte bekanntlich "dem Volk aufs Maul schauen". Diesem Wunsch trägt Zaimoğlu Rechnung. Was das Vokabular anbelangt, zeigt er sich sehr kreativ. Er verwendet viele ungebräuchliche Wörter, vermeidet aber einen komplizierten Satzbau. Durch seine kühne, vor allem aber originelle Luther-Story glückte ihm ein Coup, mit dem er einen Meilenstein im Genre 'historischer Roman' setzt.
Angaben zum Buch
Feridun Zaimoglu: "Evangelio - Ein Luther-Roman"
352 Seiten, gebunden
Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2017
ISBN: 978-3-462-05010-3
22,00 Euro
Über dieses Thema berichtet MDR KULTUR auch im: Radio | 07.03.2017 | 07:40 Uhr