Philipp Peyman Engel auf der Leipziger Buchmesse. 9 min
Philipp Peyman Engel von der Jüdischen Allgemeinen im Gespräch mit Philipp Baumgärtner von MDR KULTUR. Bildrechte: Joachim Blobel
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Philipp Peyman Engel schreibt in seinem Buch über deutsche Lebenslügen. Wo er sie sieht, wie stark der Antisemitismus in Deutschland ist und warum der Osten in diesem Bereich anders tickt, hat er MDR KULTUR berichtet.

MDR KULTUR - Das Radio Sa 23.03.2024 11:34Uhr 09:03 min

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Leipziger Buchmesse 2024 Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen warnt vor AfD

23. März 2024, 15:09 Uhr

Philipp Peyman Engel schreibt in seinem Buch über deutsche Lebenslügen. Wo er sie sieht, wie stark der Antisemitismus in Deutschland derzeit ist und warum der Osten in diesem Bereich anders tickt als der Westen, hat er im Buchmesse-Gespräch mit MDR KULTUR erzählt.

MDR KULTUR: In ihrem neuen Buch "Deutsche Lebenslügen" konstatieren sie, dass es in Deutschland nur noch ganz wenige Räume gibt, die frei von Antisemitismus sind. Wie kam es zu diesem Status Quo, den wir jetzt vorfinden?

Sehr viele schlaue Menschen machen sich seit Jahrhunderten oder fast Jahrtausenden Gedanken darüber. Wie kommt der Antisemitismus in die Welt? Was ist der Grund? Was ist die Ursache für Antisemitismus? Ich habe viele dieser Bücher gelesen. Ich komme zu dem Schluss – und das ist dann eigentlich auch schon wieder banal: Es gibt keine Begründung. Wie kann es denn eine Begründung für Judenhass geben? Wie kann es denn eine Begründung für Menschenhass geben? Es ist letztlich unerklärlich.

Sie nehmen in ihrem Buch den Terroranschlag des 7. Oktober als Anlass, schauen aber vor allem auf unsere Gesellschaft in Deutschland. Was sind die deutschen Lebenslügen und wer belügt eigentlich wen?

Zur DNA dieses Landes gehört die Geschichte, dass wir, die Deutschen wieder gut geworden sind. Und ja: Das stimmt. In Deutschland wurde sehr, sehr viel Aufklärungsarbeit über die Shoah betrieben. Und an den Holocaust Gedenktagen heißt es immer: "Nie wieder!" und "Es gibt keinen Platz in für Antisemitismus in diesem Land!" Wenn wir genau hinschauen: Es gibt verdammt viel Platz in diesem Land! Nicht nur im rechtsextremen Milieu, sondern auch im linken und muslimischen Milieu.

Ein Mann spricht in ein Mikrofon, das ihm ein anderer Mann hinhält.
Philipp Peyman Engel von der Jüdischen Allgemeinen auf der Leipziger Buchmesse im Gespräch mit Philipp Baumgärtner von MDR KULTUR. Bildrechte: Joachim Blobel

Wie haben Sie die Zwischenrufe bei den Reden von Kanzler Scholz und beim Bundespräsidenten auf der Buchmesse erlebt? Eine propalästinensische Gruppe aus Leipzig, Handala, hat von "Genozid" und dass "Blut an den Händen klebe" dazwischengerufen. Wie ist mit diesen Leuten umzugehen?

Ich habe davon gelesen. Ich fand die Reaktion von Kanzler Scholz und von Bundespräsident Steinmeier sehr, sehr gut. Sie haben die aussprechen lassen, so wie ich es in der Medien-Berichterstattung verfolgt habe. Und dann haben sie gesagt, ihre Botschaft ist angekommen und wird teilen sie so gar nicht. Und weil das wirklich ein sehr aggressiver Protest und ein niederbrüllen war, wurden diese Leute dann eben auch aus dem Saal entfernt. Was richtig ist!

Und ja, Sie haben es zitiert, das sind antisemitische Aussagen. Sie sagen, dass dort ein Völkermord stattfinden würde, ein Abschlachten. Und das stimmt einfach nicht!

Olaf Scholz, ein Mann an einem Rednerpult.
Bundeskanzler Olaf Scholz wurde bei der Eröffnung der Leipziger Buchmesse im Gewandhaus mehrfach von propalästinensischen Zwischenrufern unterbrochen. Bildrechte: picture alliance/dpa | Hendrik Schmidt

Wenn die Terrororganisation Hamas möchte, dass der Krieg vorbei ist, müssen sie die israelischen Geiseln freilassen. Dann müssten sie den immer noch stattfindenden Raketenbeschuss Israels unterlassen und damit aufhören. Dann ist dieser Krieg vorbei! Israel möchte diesen Krieg nicht. Israel verteidigt sich gegen Terroristen und muss sich auch verteidigen. Wenn sie es nicht machen würden, dann gibt es einen zweiten 7. Oktober und einen dritten 7. Oktober und einen vierten 7. Oktober - und es wird nicht mehr aufhören.

Israel möchte diesen Krieg nicht. Israel verteidigt sich gegen Terroristen und muss sich auch verteidigen.

Philipp Peyman Engel, Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen

Schon allein rein historisch gesehen fand und findet in den ostdeutschen Bundesländern ein anderer Umgang mit Antisemitismus statt. Wie sieht jüdisches Leben in Ostdeutschland zur Zeit aus? Und wie unterscheidet es sich vielleicht von dem in Westdeutschland?

Die These, beziehungsweise die Überzeugung meines Buches ist ja, dass wir ein sehr, sehr großes Problem als Gesamtgesellschaft nicht nur mit dem rechtsextremen Judenhass haben, sondern insbesondere auch mit dem wirklich krassen Judenhass aus der muslimischen Community.

Wenn ich mit Gemeindemitgliedern in Ostdeutschland spreche, melden die mir alle zurück, dass da die muslimische Community eher unauffällig ist. Das ist auch einfach eine demografische Frage, eine Zahlenfrage. Da ist dann sozusagen der "biodeutsche", rechtsextreme Antisemitismus viel stärker.

Und das treibt die Gemeindemitglieder sehr stark um! Auf der einen Seite sagen sie, das ostdeutsche Bundesland ist – wenn wir das zum Beispiel konkret machen wollen, Sachsen – ihre Heimat. Und wenn aber dann die AfD auf Landesebene in der Regierung beteiligt werden würde, dann müssten sie über Auswanderung nachdenken. Und das ist, was uns als Spezifikum im ostdeutschen Bereich rückgemeldet wird. Und das ist beispielsweise in anderen Bundesländern in Westdeutschland eher anders. Da ist wirklich der muslimische Judenhass derjenige, der am aggressivsten ist und der die Leute am meisten umtreibt.

Ich glaube, man kann gar nicht stark genug warnen vor der AfD!

Philipp Peyman Engel

Wie schauen Sie auf Umfragen in Sachsen und Thüringen, wo die AfD momentan stärkste Kraft ist? In Thüringen mit einem Spitzenkandidaten Höcke, der deutsche Gedenkkultur als "dämliche Bewältigungspolitik" und das Holocaust-Mahnmal als "Mahnmal der Schande" bezeichnet hat.

Ohne Übertreibung, ohne Hysterie: mit allergrößter Besorgnis! Ich glaube, man kann gar nicht stark genug warnen vor der AfD! Das heißt nicht, dass es keine Wähler der AfD gibt, die nicht irgendwie im neonazi-rechtsextremistischen Bereich zu verorten sind. Aber die AfD-Führung auf Landes- und Bundesebene – und ich weiß, wovon ich spreche, ich kenne die – das sind durch und durch Leute mit einem geschlossenen hardcore-rechtsextremen Weltbild. Und ja, die wollen ein Deutschland, wo Juden auch keinen Platz haben.

Und ich kann gar nicht genug davor warnen! Das melden uns auch alle Gemeindemitglieder in den ostdeutschen Bundesländern zurück. Und man sollte nicht darauf reinfallen, dass die AfD sagt: "Aber wir finden doch Juden ganz toll und wir finden Israel ganz toll." Das ist ein Feigenblatt. Und es stimmt auch gar nicht.

Das Interview mit Philipp Peyman Engel führte Philipp Baumgärtner für MDR KULTUR.
Redaktionelle Bearbeitung: op

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 22. März 2024 | 17:30 Uhr