Die Büste des Dichters Friedrich Schiller vor dem Hauptgebäude der Friedrich-Schiller-Universität in Jena.
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Studieren in der Nachkriegszeit Wieviel NS-Ideologie steckte nach dem Krieg in den Universitäten?

15. Oktober 2020, 05:00 Uhr

Nur fünf Monate nach der Kapitulation Deutschlands und dem Ende des Zweiten Weltkrieges feiert die Friedrich-Schiller-Universität in Jena ihre Wiedereröffnung. Der Festakt am 15. Oktober 1945 ist der Neubeginn des Hochschulbetriebes in der sowjetischen Besatzungsszone und zugleich die Zusicherung, dass es eine umfassende Entnazifizierung bei Lehrköpern und Studierenden gab. Doch kann sich eine Universität in dieser kurzen Zeit wirklich von der geistigen Altlast des Nationalsozialismus befreien?

Die Wiedereröffnung der Universität Jena ähnelt einem Volksfest. Studierende, Lehrkräfte und Einwohner tummeln sich auf dem enttrümmerten Campus der Friedrich-Schiller-Universität, um den Festakt mit eigenen Augen zu sehen. Noch kurz vor der Feierlichkeit gibt es Gerüchte, dass die Eröffnung nicht stattfinden wird. Selbst der neu ernannte Rektor Friedrich Zucker weiß zwei Tage vor der geplanten Eröffnung noch nicht, ob die sowjetische Militäradministration unter Marschall Georgi Schukow die Erlaubnis erteilen wird, denn es gibt ein grundlegendes Problem:

Der Universitätsrektor gab zu, dass fast alle Studenten, die hier auf eine Weiterführung ihres Studiums warteten, entweder Mitglieder der Nazipartei, Mitglieder der Hitlerjugend oder Anhänger einer der zahlreichen faschistischen Organisationen gewesen waren.

Erhard Wörfel Auszug aus "Universität im Zwiespalt von Geist und Macht", 1996

Universität durch NS-Ideologie belastet

Neben dem Grad der Gebäudezerstörung, der an der Jenaer Universität über 70 Prozent betrug, spielt auch das Ausmaß der NS-Belastung der Lehrerschaft und der Studierenden eine wesentliche Rolle bei der Wiedereröffnung der Universität.

Doch nicht nur die Studierenden sind zu einem hohen Grad belastet. Auch Lehrkräfte und Dekane waren Mitträger des NS-Regimes. Die Nähe der Universität Jena zur NS-Ideologie ist deutlich stärker, als bei anderen deutschen Hochschulen in der Zeit des Zweiten Weltkrieges. So stand Karl Astel, ein führender nationalsozialistischer Rasseforscher, von 1939 bis April 1945 als Rektor an der Spitze der Universität Jena.

Uni Jena als "nationalsozialistische Musteruniversität"

Karl Astel arbeitete eng mit Hitler und Himmler zusammen und entwickelte die Jenaer Universität so zu einer "nationalsozialistischen Musteruniversität". Ein Großteil der Studierenden und Lehrkörper war Mitglied der NSDAP oder der Hitler-Jugend. Selbst den Namen Friedrich-Schiller-Universität, den sie bis heute trägt, bekam sie von den Nationalsozialisten verliehen, die so ihren Anspruch auf die klassische Tradition markieren wollten. Doch wie kann eine Universität, die sich in diesem Ausmaß der NS-Ideologie und der Kriegswirtschaft verschrieben hatte, die erste in der sowjetischen Besatzungszone sein, die eine Erlaubnis zur Wiedereröffnung bekam? Der besondere Klang, den die Universität Jena auch in den Ohren der sowjetischen Militäradministration hat, ist eine mögliche Erklärung. Denn berühmte Jenaer Alumni und Gelehrte wie Goethe, Schiller, Hegel oder Schelling und schließlich auch Karl Marx hatten auch in der Sowjetunion einen Namen.

Hauptgebäude, Friedrich-Schiller-Universität, Jena, Thüringen, Deutschland
Das Hauptgebäude der Uni, welches stark im Zweiten Weltkrieg zerstörte wurde, ist auch heute noch in Betrieb. Die Stadt Jena hat größte Universität Thüringens. Bildrechte: imago/imagebroker

Entnazifizierung: Neuer Rektor Friedrich Zucker lässt NS-Symbole entfernen

Schon früh arbeiten Jenaer Dozenten auf eine möglichst zeitige Wiederaufnahme der Hochschullehre nach Kriegsende hin. So stellen sie selbst bereits vor der Besetzung der Stadt durch amerikanische Truppen am 13. April 1945 die Weichen für eine kooperative Zusammenarbeit. Sie ernennen den politisch unbelasteten Altphilologen Friedrich Zucker zum Leiter der Universität. Mit ihm beginnen die ersten Schritte der Säuberung. Zucker setzt neue Dekane ein, überprüft den Lehrkörper auf sein Verhalten in der NS-Zeit und veranlasst, dass NS-Symbole vom Universitätsgebäude entfernt werden. Als im Juli Jena von der Roten Armee besetzt wird, passt Zucker sein Erneuerungskonzept an die russischen Erwartungen an. Dennoch bleibt die Frage offen, ob die Universitätsmitglieder unter Zucker aus Überzeugung oder eher aus Eigennutz handeln.

Rektor Zucker bemüht sich, die Universität in ein NS-freies Gewand zu kleiden und bekommt Unterstützung vom engagierten Landespräsidenten Rudolf Paul und dem sowjetischen Verwaltungschef von Thüringen, Iwan S. Kolesnitschenko, der sich den deutschen Wünschen gegenüber sehr aufgeschlossen zeigt. Jena versucht, einen geradlinigen Weg zu gehen und erspart sich so Sanktionen oder Verzögerungen. Anderen Universitäten hingegen fällt die Zusammenarbeit mit den Besatzungsmächten weniger leicht. Viele Lehrende halten starr an der Autonomie fest, die die Hochschulen bisher genossen haben. Die zähen Verhandlungen führen bei ihnen aber nur zu verschleppten Wiedereröffnungen oder zu Sanktionen durch die jeweilige Besatzungsmacht.

Der Weg zur Wiedereröffnung

Die sowjetische Besatzungsmacht steckt in einer Zwickmühle. Auf der einen Seite benötigt sie dringend Fachkräfte, wie Mediziner oder Juristen. Und auf der anderen Seite steht die komplizierte Umsetzung der Entnazifizierung, die hauptsächlich an formale Kriterien gebunden ist. Letztendlich stellen die Sowjets das Mammutvorhaben einer vollständigen Entnazifizierung zurück. Die historische Bedeutung der Universität und die gute Führung unter Zucker gewinnen in der Öffnungsfrage.

Zwei Tage vor der geplanten Wiedereröffnung, am 13. Oktober 1945, kommt der erlösende Anruf aus Berlin-Karlshorst: Marschall Schukow genehmigt die geplante Wiedereröffnung. Auch Otto Grotewohl kommt kurz nach der Wiedereröffnung nach Jena und richtet folgende Worte an Studierende und Professoren:

Wenn dieses Deutschland in beispielloser Schande zusammenbrach, so trägt auch die Wissenschaft ihren Teil dazu bei. Die studentische Jugend muß dafür sorgen, daß die Wissenschaft einmal ihren Standort in der Staatsgesellschaft zu beziehen hat um ihre politischen Aufgaben am Wohl der Gemeinschaft wirklich zu erfüllen.

Otto Grotewohl Auszug aus seiner Rede vor Studierenden und Professoren an der Uni Jena, 21. Januar 1946

Langer Prozess der Entnazifizierung

Nach der Wiedereröffnung der Universität Jena hoffen auch Leipzig und Halle auf einen schnellen Neustart. Doch der entsprechende Befehl von Marschall Schukow bleibt aus. Stattdessen fordert er eine weitere gründliche Überprüfung des Lehrkörpers. Erst im Februar 1946 dürfen die Universitäten Leipzig und Halle wieder lehren. Doch auch wenn die Universität Jena ihre Türen im Oktober 1945 wieder öffnen durfte, dauert die endgültige Aufarbeitung der NS-Vergangenheit weit länger als von der Besatzungsmacht vorgesehen. Obwohl einige Professoren im Zuge der Entnazifizierung entlassen wurden, bekamen sie schon kurz darauf ihren Job zurück. Die Universität Jena begründet die Wiedereinstellung mit der Sicherung des wissenschaftlichen Niveaus. Nur ein Jahr nach der Wiedereröffnung ermahnt die sowjetische Besatzungsmacht deshalb die Universität und erhöht den besatzungspolitischen Druck.

Erst drei Jahre später, 1948, leitet die Universität die ersten ernsthaften Schritte ein, die die Kriegsfolgen kompensieren sollen. Unter der Führung des neuen Rektors Otto Schwarz verteilt die Universität Stipendien und Wohnheimplätze an Kriegsheimkehrer, Vertriebene, junge Arbeiter und Bauern. Ab 1950 ist die Universität Jena Teil des DDR-Bildungssystems und wird von Berlin aus zum Technologie- und Wissenschaftszentrum der DDR ausgebaut.

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