Besatzungswechsel im Juli 1945 Als die "Russen" in ganz Sachsen und Thüringen die Macht übernahmen
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03. Juli 2020, 05:00 Uhr
Ganz Mitteldeutschland soll laut Beschluss der Siegermächte 1945 zur Sowjetischen Besatzungszone gehören. Doch bei Kriegsende stehen US-Truppen an Elbe und Mulde. Erst beim Besatzungswechsel Anfang Juli ziehen die Amerikaner ab und die "Russen" in Westsachsen, Thüringen und dem heutigen Sachsen-Anhalt ein. Massenfluchten und zahlreiche Betriebsverlegungen gehen dem Ereignis voraus.
Mitte Juni 1945 beklagt die im westsächsischen Grimma stationierte Militärregierungseinheit der 9. US-Armee in einem Report, sie werde seit Tagen von besorgten Deutschen auf Rückzugspläne der US-Truppen angesprochen, von denen sie selbst "nicht die geringste Ahnung habe". Fortwährend würden Gesuche von Beamten der Stadt und des Kreises eingehen, die sich nach Westen absetzen wollten.
Zonengrenzen stehen längst fest
Auslöser für die Aufregung in der Mulde-Stadt ist ein Bericht der "Hessischen Post" vom 9. Juni. Darin wird über einen bevorstehenden amerikanischen Rückzug aus der Region berichtet. Der Zeitungsbericht bestätigt diverse Gerüchte, denen zufolge sich die US-Truppen aus den von ihnen seit Ende April besetzten Gebieten Mitteldeutschlands zurückziehen würden. Tatsächlich hatten sich die Siegermächte Sowjetunion, USA und Großbritannien bereits im Herbst 1944 grundsätzlich und in der Konferenz von Jalta 1945 endgültig darauf verständigt, Sachsen, Thüringen sowie Anhalt und die preußische Provinz Sachsen – zusammen also das heutige Sachsen-Anhalt – vollständig der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) zuzuschlagen.
Gerüchte heizen Fluchtbewegung an
Zwar wissen weder die in Mitteldeutschland stationierten US-Soldaten noch die deutsche Bevölkerung zuverlässig von diesen Beschlüssen. Doch allein die seit Mai kursierenden Gerüchte sorgen für eine ständige Unruhe. Angst vor der Rache der "Russen", die in den letzten Kriegstagen durch zahlreiche Gräuel an der Zivilbevölkerung aufgefallen waren, greift um sich. Amerikanische Militärstellen in Sachsen und Thüringen registrieren bereits seit Mai eine steigende Fluchtwelle nach Westen. Auch die meisten der im amerikanisch besetzten Mitteldeutschland ansässigen Firmen sehen zu, dass sie ihre wertvollen Maschinen, Unterlagen und Fachkräfte dem Zugriff der Sowjets entziehen.
Betriebe werden nach Bayern verlegt
Als etwa der Generaldirektor der Vereinigten Glanzstoff AG von einem US-Offizier von der anzunehmenden Besetzung Thüringens durch die "Russen" erfährt, lässt er das komplette Werk des Textilkonzerns in Elsterberg bei Plauen im sächsischen Vogtland nach Bayern verfrachten. Überhaupt verdankt der bis dahin überwiegend agrarisch geprägte bayerische Freistaat seinen industriellen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem der sowjetischen Besetzung Mitteldeutschlands. So evakuiert unter anderem auch die bis dahin in Berlin hauptansässige Siemens AG ihre mitteldeutschen Werke im Juni 1945 nach Bayern, insbesondere nach München. Auch Siemens hatte zuvor aus US-Quellen von der bevorstehenden Besetzung ganz Sachsens durch die Sowjets erfahren. 500 Tonnen verschiedenster Firmengüter sowie 2.000 bis 3.000 Siemens-Mitarbeiter samt ihren Familien gelangen nach Bayern.
Amerikaner schauen wohlwollend zu
Die US-Amerikaner, die nach den alliierten Vereinbarungen verpflichtet gewesen wären, der "Ausräumung" der von ihnen zeitweilig besetzten Gebiete der sowjetischen Zone Einhalt zu gebieten, schreiten jedoch kaum ein. "Im Gegenteil, sie haben interessierte Firmen normalerweise vermutlich eher unterstützt, als behindert", so der Historiker Prof. Dr. Klaus-Dietmar Henke in seinem Buch "Die amerikanische Besetzung Deutschlands". Für die betroffenen Firmen geht es schlichtweg um die Existenz. Tatsächlich wird ein großer Teil jener Betriebe, die bis zum mitteldeutschen Besatzungswechsel Anfang Juli nicht in den Westen ausgelagert werden, später durch die Sowjets demontiert. So lassen diese bis März 1946 in ihrer Besatzungszone 2.885 Betriebe abbauen. Allein in der Provinz Sachsen werden 979 Betriebe mit 358.007 Maschineneinheiten demontiert und in die Sowjetunion verfrachtet.
Ungewissheit sorgt für Unruhe
Aber nicht nur die drohenden wirtschaftlichen Demontagen, sondern auch der berüchtigte Beutehunger sowjetischer Soldaten und die Angst vor Übergriffen sorgen im Vorfeld des Besatzungswechsels für große Unruhe. Hinzu kommt die lange währende Ungewissheit, ob denn nun tatsächlich und wenn ja, wann die Amerikaner abziehen und die "Russen" nachrücken. Tatsächlich wird unter den Alliierten lange über den Termin für den Wechsel der Besatzungsherrschaft, die nicht nur die mitteldeutschen Gebiete, sondern auch weite Teile des bislang von den Briten besetzten Mecklenburgs sowie Westberlin betrifft, verhandelt. Erst Mitte Juni einigen sich Sowjets, US-Amerikaner und Briten, dass die notwendigen Truppenbewegungen ab dem 1. Juli 1945 stattfinden können. Am 29. Juni treffen sich die Stellvertreter der Militärbefehlshaber der britischen sowie der US-Besatzungszone mit dem Chef der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD), Marschall Georgi Schukow, um die Einzelheiten des Truppenaustauschs zu besprechen.
Deutsche Verwaltung nachträglich informiert
Am Ende geht alles ganz schnell. Am 2. Juli erfährt der von den Amerikanern als vorläufiger Regierungspräsident der "Provinz Thüringen" eingesetzte Dr. Hermann Brill (SPD), dass sich die US-Truppen zurückziehen und dass sich die künftige Demarkationslinie für Thüringen genau mit den Landesgrenzen decken werde. Die "Russen" hätten sich bereits in Richtung Apolda, Jena, Kahla und Rudolstadt bewegt und würden am Morgen des 3. Juli in Weimar, Erfurt, Zella-Mehlis und Suhl eintreffen. Die befürchteten Gewalt- und Plünderungsexzesse gegen die Zivilbevölkerung, die im Vorfeld für panikartige Fluchtbewegungen in Richtung Westen gesorgt hatten, bleiben allerdings aus. Die Soldaten der 8. Gardearmee des Generaloberst Wassili Tschuikow, die Thüringen besetzen, verhalten sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – sehr diszipliniert.
Sowjetische Soldaten erstaunlich korrekt
Doch trotz des überwiegend korrekten Auftretens der sowjetischen Soldaten ändert sich einiges für die Menschen in Sachsen, der Provinz Sachsen, in Anhalt und Thüringen. Auch in den neuen sowjetisch besetzten Gebieten nehmen bald Beutebrigaden die Arbeit auf. Dabei geht es nicht allein um die Demontage von noch intakten Betrieben. Neben Industriegütern, Rohstoffen und Lebensmitteln werden aus der SBZ unter anderem 60.149 Klaviere, Flügel und Ziehharmonikas, 941.605 Möbelstücke, mehr als drei Millionen paar Schuhe und 1,2 Millionen Wintermäntel, Wäschestücke und Pelze weggeschafft. Das jedenfalls belegen Zahlen der zum sowjetischen Verteidigungsministerium gehörenden Hauptverwaltung "Beutegut".
SMAD setzt eigene Leute ein
Auch politisch ändert sich vieles. Anders als US-Amerikaner und Briten, hatten die Sowjets in ihrer Besatzungszone bereits am 10. Juni die Gründung von Parteien zugelassen. Im Juli setzt die SMAD für Sachsen, die Provinz Sachsen und Thüringen Landes- bzw. Provinzverwaltungen ein. Der von den Amerikanern eingesetzte Thüringer Regierungspräsident Dr. Brill von der SPD wird noch im Juli abgesetzt und durch einen parteilosen Nachfolger ersetzt. Auch wenn in keiner der mitteldeutschen Länder bzw. Provinzen ein Kommunist an die Spitze der Verwaltung gelangt, so stellen sie doch fortan stets die Vizepräsidenten.
Auch in den Kommunen setzt die SMAD ihre eigene Kaderpolitik durch. So wird nach der Besetzung Leipzigs am 2. Juli der zuvor von den Amerikanern zum Bürgermeister ernannte frühere Deutschnationale Wilhelm Vierling durch den Sozialdemokraten Erich Zeigner ersetzt. Auch der von den US-Militärbehörden als Polizeipräsident eingesetzte Sozialdemokrat Heinrich Fleißner wird nach einer Hetzkampagne abgesetzt. Zwar wird Fleißner später noch Mitglied der SED, im Zuge der zunehmenden Stalinisierung wird er jedoch 1951 aus der Partei ausgeschlossen.
NKWD-Gefängnisse und "Speziallager"
Immerhin eine politische Haft bleibt Fleißner erspart. Andere Sozialdemokraten und sogar einzelne Altkommunisten haben da weniger Glück. Sie machen sich bei den Sowjets oder den tonangebenden Exilkommunisten unbeliebt und landen mit einigen NS-Tätern und -Mitläufern sowie zahlreichen Denunzierten in sowjetischen Gefängnissen und Internierungslagern. Eines davon ist das "Speziallager Nr. 2", das der sowjetische Geheimdienst NKWD ab August im ehemaligen KZ Buchenwald weiterbetreibt.
Nicht wenige Beamte und kommunale Angestellten aus mitteldeutschen Städten und Kreisen wie dem westsächsischen Grimma an der Mulde dürften sich diesem Risiko nicht mehr ausgesetzt haben. Sie flohen noch vor dem Besatzungswechsel Anfang Juli 1945 in den Westen.