Karriere im KZ Das vergessene Fotoalbum der SS: Ein Rätsel aus Hunderten Gesichtern
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30. August 2024, 14:07 Uhr
Eine Karriere im KZ – wie lief die ab? Ein Fotoalbum gibt neue Einblicke, bisher nie gezeigte Aufnahmen. Schauplatz ist das KZ-Lichtenburg, ein Ort in Sachsen-Anhalt. Es prägte die Lebensläufe tausender SS-Männer.
Schwarz-weiß-Fotos, die Menschen darauf: unbekannt. Uniformen sind zu erkennen, Aufmärsche in einer Art Schlosshof, es gibt Szenen mit Waffen und welche mit Bierflaschen. Kinder stehen am Bildrand und Opas mit Fahrrädern. Mehr als 200 Fotos, die als Schnappschüsse durchgehen könnten. Wenn sie nicht zufällig ein Spezialist gefunden hätte. Ein Spezialist für NS-Täter. Und er hat sofort erkannt: das Album ist ein historischer Schatz. Ein Fotoalbum, mehr als 80 Jahre alt. SS-Erinnerung steht auf dem Einband. Normalerweise liegt es gut verpackt in einem Safe. Denn es hat großen Wert – historisch gesehen. Für einen Dreh-Termin hat Stefan Hördler es ans Licht geholt.
Dokumentationsfilm: Karriere im KZ
Die Aufnahmen finden im Rahmen einer Dokumentation statt, die im Auftrag von mdr und br zusammen mit Spiegel TV und ZED entstand. "Karriere im KZ" heißt sie und ist in der ARD-Mediathek verfügbar.
Der Film zeigt, dass hinter den Fotos viele persönliche Geschichten verborgen waren. Über Männer, die im KZ-System ihren Dienst begannen und kontinuierlich ihren Weg darin fortsetzten. Deren Radikalisierung, die Gewaltgewöhnung, die Beteiligung am Morden. Eine Erzählung, die nur deshalb das Licht der Welt erblickt, weil Stefan Hördler die Fotos dechiffriert hat. Die Bilder waren nicht kommentiert oder datiert, Personen waren nicht benannt und die Reihenfolge der Klebung schien unlogisch.
"Für einen Historiker ist das die totale Katastrophe". so Stefan Hördler. "Man hat eine Unordnung von Überlieferungen verschiedener Jahrgänge, historischer Zusammenhänge, Orte und Zeiten und muss in mühevoller Kleinarbeit all diese Fotografien bestimmten Entstehungskontexten zuordnen, die Personen identifizieren. Wer ist darauf? Warum sind sie darauf? Zu welchem Anlass wurde das Foto aufgenommen? Wo wurde es aufgenommen? Und erst dann erschließt sich der Kontext dieser Fotosammlung."
Wie löst man so ein Rätsel?
Stefan Hördler fängt nicht bei null an. Seit 20 Jahren analysiert er Foto- und Filmmaterial der NS-Zeit, gilt als weltweit anerkannter Experte auf diesem Gebiet. Bereits die Fotos von aus dem Höcker-Album, hat er zusammen mit weiteren Historikern analysiert. Höcker war der Adjutant des letzten Auschwitz-Kommandanten Richard Baer. Die Fotos waren 2007 aufgetaucht und zeigen SS-Personal in Auschwitz. Auch die Fotos aus dem Lili-Jacob-Album hat Stefan Hördler mit Kollegen dechiffriert: die Bilder waren bekannt geworden, weil sie Selektionsprozesse an der Rampe in Auschwitz-Birkenau zeigen.
Er hat sich mit tausenden Biografien von Menschen beschäftigt, die im System tätig waren, hat ihre Lebensläufe recherchiert, Portraits von ihnen gesehen, ihre Dienstränge und Einsatzorte herausgefunden. Der Historiker erfasst alles in Datenbanken, kann aber auch Gesichter erinnern und Bezüge herstellen, selbst wenn Recherchen viele Jahre zurückliegen.
Bei der Identifikation helfen ihm auch die Uniformen. "Auf einigen Fotos erkennt man "SS 3" am Kragenspiegel. Was für die dritte Standarte der politischen Bereitschaften steht. Diese Einheit hat nur zu einer bestimmten Zeit und vor allem im Jahr 1934 existiert, was heißt, dass wir damit einer Reihe von Fotografien diesen Zeitpunkt zuordnen können" – so Stefan Hördler.
Außerdem ist am Kragenspiegel der Dienstrang ablesbar, wie z.B. "Hauptscharführer". In den Lebensläufen der Männer sind wiederum die Zeiten der Beförderung festgehalten und so gibt es hier auch eine zeitliche Eingrenzungsmöglichkeit.
Was klingt, als wären das Dinge, die man einfach nur ablesen muss, ist wesentlich komplexer. Nicht zu jeder Person gibt es Akten oder Fotos oder sie sind unvollständig. Linear verläuft deshalb die Analyse nicht, eher ergeben viele kleine Teile ein Großes, an dem dann wieder neue Erkenntnisse andocken. Außerdem liegen die dafür nötigen Unterlagen nicht zentral in einem Archiv sondern auf der ganzen Welt verstreut. Stück für Stück, mehr als sechs Jahre, hat der Experte in seiner Freizeit daran gearbeitet. Und plötzlich bekam er Antworten. Und Geschichten. Und Erkenntnisse.
Mitteldeutsche SS-Strukturen
Viele der Fotos aus dem neu entdeckten Album wurden im KZ Lichtenburg aufgenommen, einem alten Renaissance-Schloss, das sich im heutigen Sachsen-Anhalt befindet. Hochrangige SS-Führer fielen ihm sofort in den Blick: Theodor Eicke, der Inspekteur der Konzentrationslager. Oder Egon Zill, ein Mann aus Plauen und später Kommandant mehrerer KZ, ebenso wie Arthur Rödl, der im Mai 1941 Kommandant des KZ-Groß-Rosen werden wird.
Die Bedeutung des KZ Lichtenburg als Kaderschmiede für SS-Personal wird offensichtlich. 16 Männer, die in Lichtenburg im Dienst waren, wurden später KZ-Kommandanten, u.a. in Auschwitz-Birkenau, Stutthof, Lublin-Majdanek, Flossenbürg oder Mauthausen. Und das Wachpersonal, das in den Jahren 1933/34 in Lichtenburg antrat, kam überwiegend aus der Region. Was über das Album besonders deutlich wird: die Männer lernten sich nicht erst im KZ Lichtenburg kennen.
Scheinbar banale Fotos offenbaren grausame Biographien
"Es ist wesentlich zu verstehen, dass die Wurzeln von bestimmten Zusammenhängen aus ganz regionalen Strukturen stammen. Und diese Männer sich schlichtweg schon vorher kannten, befreundet waren und dann in Lichtenburg weiter befreundet sind. In das nächste KZ versetzt werden, wie zum Beispiel nach Buchenwald – ebenfalls weiter befreundet sind. Dann in das nächste KZ versetzt werden und wieder häufig zusammen sind", so der Historiker Stefan Hördler.
Eine ganz bestimmte Biografie kann anhand der Fotos nachgezeichnet werden: die des SS-Mannes Kurt Schreiber. Er trat bereits im Juni 1932 der SS bei und wurde Teil der 26. SS-Standarte mit Sitz in Halle/Saale. Sein Weg führte im Sommer 1933 in das KZ Lichtenburg – ein junger Mann, gerade 22 Jahre alt. Viele Fotos im Album zeigen ihn, mit Freunden, bei Schießübungen oder bei Partys. In der Dokumentation kann nachverfolgt werden, wie seine Karriere im System der Konzentrationslager war und ob er sich an Verbrechen beteiligte.
Stefan Hördler hat es geschafft, scheinbar banalen Fotos eine wichtige Erkenntnis zu entlocken: dass junge Männer aus der Mitte der Gesellschaft in Scharen zu Helfern eines mörderischen Systems wurden. Dass ein Konzentrationslager in Mitteldeutschland nachhaltig an der Entwicklung der Mordmaschinerie beteiligt war. Und dass vor allen die vielen bis heute unbekannten SS-Männer, notwendig waren für die Aufrechterhaltung von Terror und Tod.
Dieses Thema im Programm: Das Erste | Karriere im KZ | 21. August 2024 | 22:50 Uhr