Filmvorführung und Diskussion zur NS-Tätergeschichte Angela Merkel: "Um Demokratie muss man kämpfen. Sie ist nicht selbstverständlich."
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23. Januar 2025, 11:13 Uhr
Am 27. Januar jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers von Auschwitz zum 80. Mal. Aus diesem Anlass haben der MDR und Spiegel TV zu einer Filmvorführung in den Berliner Delphi Filmpalast eingeladen. Anschließend diskutierte Bundeskanzlerin a.D. Angela Merkel über Demokratieverstädnis und Erinnerungskultur mit Schülern und Schülerinnen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Berlin.
Inhalt des Artikels:
- 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz
- ARD-History-Dokumentation: Wie wurden junge Männer zu Mördern?
- Schülerfragen: Wie umgehen mit dem spürbaren Rechtsruck?
- Wie wurde in der DDR über die NS-Zeit gesprochen?
- Jüdische Gemeinschaft Berlin: Sorge um Schutzräume
- Aushandlungsprozesse in der Gesellschaft notwendig
Angela Merkel, ungewohnt nahbar und locker am Dienstagabend in Berlin, aber mit gewohntem Humor: "Wissen denn die jüngeren Menschen noch, was ein Fotoalbum ist? Sie sind doch alle so digital?" Die Frage sorgt nicht nur für einen Erheiterungsmoment im Berliner Kinopalast Delphi, sondern bezieht sich auf den eigentlichen Grund der Veranstaltung.
Ich bin zutiefst überzeugt: Wer sich mit seiner eigenen Geschichte nicht befasst hat, der ist nicht in der Lage, die Zukunft gut zu gestalten.
80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz
Denn wie sich NS-Erinnerungskultur und heutiges Demokratieverständnis verbinden lassen, war die übergeordnete Frage des Abends. Anlässlich des bevorstehenden 80. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung folgte Angela Merkel der Einladung von MDR und Spiegel TV, um gemeinsam mit 450 Gästen, darunter 200 Schülerinnen und Schüler aus Berlin, Halle/Saale und Leipzig ihr gemeinsames Projekt zum vergessenen Fotoalbum der SS zu schauen. "Wenn ich an Orten früherer Konzentrationslager stehe, dann macht mich das immer noch fassungslos", sagt Angela Merkel. "Denn der Verstand sagt: Es waren alles Menschen, die das anderen angetan haben."
ARD-History-Dokumentation: Wie wurden junge Männer zu Mördern?
Sie bezieht sich damit auf die ARD-History-Dokumentation von Susann Reich und Jobst Knigge. Zusammen mit dem Historiker Dr. Stefan Hördler arbeitet der Film anhand unbekannter Fotos die Karrieren von Männern, die im KZ-System ihren Dienst begannen und kontinuierlich ihren Weg darin fortsetzten, auf. Schauplatz ist das KZ-Lichtenburg, ein Ort in Sachsen-Anhalt. Eine der zentralen Fragen, denen der Film nachgeht ist: Wie wurden junge Männer zu Mörder?
Ich finde es beängstigend, wie man im heutigen politischen Diskurs mitbekommt, wie viele rechte- und menschenverachtende Inhalte die Mitte der Gesellschaft erreicht haben und gelebt werden.
Schülerfragen: Wie umgehen mit dem spürbaren Rechtsruck?
"Ich finde es sehr erschreckend zu sehen, wie sich diese jungen Menschen in das faschistische System eingefügt haben und es eben auch mitgetragen haben und diese Ideologien glauben konnten und auch so extrem gelebt haben“, sagt Henri Friedrich.
Der 17-jährige Schüler vom Anton-Philipp-Reclam-Gymnasium Leipzig sitzt im Anschluss der Filmvorführung mit drei weiteren Schülerinnen und Schüler auf dem Podium mit Angela Merkel. Eine Frage eint alle: Wie gehen wir als junge Menschen mit dem spürbaren Rechtsruck in der Gesellschaft um?
Wie wurde in der DDR über die NS-Zeit gesprochen?
Henri Friedrich richtet sie direkt an Angela Merkel, verbunden mit der Frage, wie in ihrer Kindheit in der DDR über den Nationalsozialismus gesprochen wurde. "Wir haben viel über die NS-Zeit gesprochen in der Schule", so Merkel. "Aber worüber wir nicht gesprochen haben, war die Ermordung der Juden, die Shoah. Mit Blick auf die heutige Zeit habe ich das Gefühl, wir waren in unserer Gesellschaft an diesem Punkt schon einmal weiter."
Jüdische Gemeinschaft Berlin: Sorge um Schutzräume
Rebecca Krioukov vom Jüdischen Gymnasium Moses Mendelssohn Berlin bestätigt das. Sich offen als Jüdin in der Gesellschaft zu zeigen, sei mit Angst verbunden. "Wir Juden machen uns Sorgen, wo wir unsere Meinung offen sagen können und wie sicher unsere Schutzräume für unsere Religion sind.“
Mit Verweis auf das Attentat von Halle und Wiedersdorf 2019, erzählt der Hallenser Schüler Gregor Litwinenko: "Wenn ich an der Synagoge vorbeigehe, in die der Attentäter damals eindringen wollte, da sehe ich dort Polizei. Das sieht alles eher nach Rückschritt als nach Fortschritt aus."
Aushandlungsprozesse in der Gesellschaft notwendig
Es brauche Mut, sagt die Alt-Bundeskanzlerin, um in Freiheit zu leben und Dinge von Anfang an zu benennen, wenn man sie sieht. Eine Gesellschaft lebe von ständigen Aushandlungen und Kompromissbereitschaft. "Der Kompromiss als Wesenmerkmal der Demokratie hat keinen guten Ruf. Aber"; so schließt sie: "Die Welt ist komplizierter als `Daumen hoch´ oder ´Daumen runter´."
Dieses Thema im Programm: Das Erste | Karriere im KZ – Vom Bauernsohn zum NS-Verbrecher | 16. September 2024 | 22:00 Uhr