Inspektion des KZ Lichtenburg durch SS-Chef Heinrich Himmler im Herbst 1934. Auf dem Foto sind weiterhin zu sehen: der amtierende Kommandant Bernhard Schmidt, Theodor Eicke, Inspekteur der Konzentrationslager.
Inspektion des KZ Lichtenburg durch SS-Chef Heinrich Himmler im Herbst 1934. Auf dem Foto sind weiterhin zu sehen: der amtierende Kommandant Bernhard Schmidt, Theodor Eicke, Inspekteur der Konzentrationslager. Bildrechte: Dr. Stefan Hördler

Täter im Nationalsozialismus Lichtenburg in Prettin: KZ-Kaderschmiede in Mitteldeutschland

07. September 2024, 05:00 Uhr

Die großen Namen der NS-Zeit – Hitler, Göring, Himmler, Goebbels, Höß – sind uns präsent. Doch was ist mit den vielen Anderen? Den Männern und Frauen "im Schatten"? Ohne ihre Mitarbeit hätte das KZ- und Mord-System nicht funktioniert. Ein Fotoalbum gibt neue Einblicke. Schauplatz ist das KZ-Lichtenburg, ein Ort im heutigen Sachsen-Anhalt. Es prägte die Lebensläufe tausender SS-Männer.

"SS-Erinnerungen" steht auf dem Einband. Die 206 Bilder in dem Fotoalbum sind nur selten beschriftet oder datiert, auch Ortsangaben gibt es nicht. Das Album, deutlich abgegriffen und zerschlissen, galt viele Jahrzehnte als verschollen. Der Historiker Stefan Hördler hat es wiederentdeckt. Die Bilder darin zeigen Männer in SS-Uniformen. In zwölf Jahren NS-Zeit, arbeiteten Zehntausende in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten. Aber wer sind diese Menschen? Wie werden sie zu Tätern? Und was ist ihre Geschichte? Der Film "Karriere im KZ – vom Bauernsohn zum NS-Verbrecher" gibt Antworten auf diese Fragen.

Seit mehr als 20 Jahren analysiert Hördler Fotos aus der NS-Zeit und tritt als Gutachter in Strafprozessen gegen Menschen auf, die im NS-System tätig waren. Er kennt die Gesichter und Hintergründe tausender SS-Leute wie kaum ein anderer und konnte die scheinbar banalen Fotos dechiffrieren, die die Täter selbst angefertigt haben. Bilder, wie sie sich selbst gesehen haben: Stolz und selbstbewusst. Fotografiert beim Fußball, in ihrer Freizeit, auf Partys, bei Schießübungen. Mittels der Fotos kann der Historiker Hördler dessen Karrieren nachvollziehen.

In Vergessenheit geraten: Das KZ Lichtenburg

Etwa die Hälfte der Fotos sind im KZ Lichtenburg – ein weitgehend vergessenes Lager – im heute sachsen-anhaltischen Prettin aufgenommen worden. Ursprünglich Ende des 16. Jahrhunderts als Residenzschloss gebaut, wird es Witwensitz der sächsischen Kurfürstinnen. Danach ist es über 100 Jahre ein Zuchthaus. 1928 schließen es die Behörden. Es sei zu marode, die hygienischen Bedingungen katastrophal.

Das NS-System ignoriert das.

Sie wollen hier etwa 1.000 Menschen einsperren, sogenannte Schutzhäftlinge – ohne Verfahren inhaftierte Menschen. Das KZ, inmitten der Kleinstadt Prettin, wird zur Kaderschmiede der SS. "Lichtenburg besitzt eine zentrale Bedeutung für den Aufbau des KZ-Systems, aber auch für die Ausbildung des SS-Personals", so Historiker Hördler.

Dr. Stefan Hördler mit Album an Schreibtisch
Historiker Stefan Hördler recherchierte tausende Biografien von SS-Männern anhand eines Fotoalbums. Bildrechte: Thomas Krüger / Spiegel TV

"Während Dachau im öffentlichen Gedächtnis fest verankert ist als eines der zentralen Konzentrationslager im KZ-System, ist Lichtenburg ein stückweit in Vergessenheit geraten." Konzentrationslager wie Lichtenburg seien, laut Hördler, zwischen 1933 und 1937 Labore der Gewalt gewesen. "Es sind Orte, an denen schwerste Misshandlungen stattfinden und es sind Orte, an denen Menschen zu Tode kommen", so der Historiker. "Das sind Orte, an denen sich der SS-Nachwuchs ausprobieren, sich an Routinen gewöhnen und die Freude an Grausamkeiten habe finden können."

Und die zentrale Frage ist: Warum wurden diese Männer zu Massenmördern? Die Ideologie an sich, befähigt noch keinen dazu, am Ende Frauen und Kinder umzubringen. Aber warum macht das die Mehrheit am Ende?

Dr. Stefan Hördler

Kaderschmiede KZ: Bauernsohn, Bankkaufmann, Kantinenverwaltung

Im Juni 1933 eröffnen die Nationalsozialisten im ehemaligen Renaissanceschloss Lichtenburg ein Konzentrationslager für männliche Gefangene. Hermann Göring bestimmt, als Wachen ausschließlich SS-Hilfspolizisten zu rekrutieren. Einer davon ist Kurt Schreiber, Landwirt, aufgewachsen in einem kleinen sächsischen Dorf bei Leipzig. Mit 21 Jahren und noch vor 1933 wird er Mitglied der SS. Schreiber ist ein Mann, der für eine ganz spezifische Gruppe steht: die, der höheren SS-Unterführer.

Kurt Schreiber zu Besuch in seinem Heimat-Ort Flemsdorf 1933.
Kurt Schreiber zu Besuch in seinem Heimat-Ort Flemsdorf 1933. Bildrechte: Dr. Stefan Hördler

Diese Unteroffiziere dienen ahezu durchgängig von 1933 bis 1945 und bilden den eigentlichen Kern der SS in den Konzentrationslagern. "Kurt Schreiber ist Teil von bestimmten Gruppendynamiken und Ausbildungsriten, die durchlaufen werden", erklärt Hördler, die Schreibers Biographie rekonstruiert hat. "Und offenbar ist das ein Personenkreis, die sich zuerst als Hilfspolizisten empfehlen und sich dann darauf aufbauend als Wachmänner im Konzentrationslager empfehlen. Und die Besonderheit an den Biografien ist, dass wir genau diese Schritte sehen können."

Konzentrationslager sind zwischen 1933 und 1937 Labore der Gewalt gewesen.

Historiker Stefan Hördler

Geschichten prominenter Opfer

In der Dokumentation werden auch die Geschichten einiger Opfer erzählt. Wer im KZ Lichtenburg landet, dient der SS als menschliche Versuchsanordnung, Folter und Misshandlungen werden an ihnen geübt.

Gedenktafel am Berliner Landgericht für Hans Litten
Gedenktafel am Berliner Landgericht für Hans Litten. Bildrechte: IMAGO / imagebroker

Der Anwalt Hans Litten aus Berlin zum Beispiel gilt als "prominenter" Häftling und als persönlicher Gegner Hitlers. 1931 hatte er Adolf Hitler als Zeuge vor Gericht direkt angegriffen, gilt als NS-Gegner und "Anwalt des Proletariats". Hitler ist er fortan ein Dorn im Auge. Kurz nach der Machübernahme der Nationalsozialisten 1933 wird Litten in Schutzhaft genommen und 1934 ins KZ Lichtenburg verlegt. Er stirbt 1938 im KZ Dachau.

Ein weiteres prominentes Beispiel: Magdeburgs einstiger Oberbürgermeister und bekennender Sozialist Ernst Reuter. Reuter wurde 1933 ins KZ Lichtenburg gebracht, konnte nach einer zeitweiligen Entlassung ins Exil fliehen.

Warum ein Podcast über die SS? 16 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Im "vergessenen" Fotoalbum: Von Massenmord keine Spur

Als die systematische Vernichtung der europäischen Juden beginnt, ist das Fachwissen der Lichtenburger Männer dafür unverzichtbar. Sechzehn von ihnen werden Konzentrationslager leiten, darunter Auschwitz, Natzweiler, Groß Rosen, Stutthof, Dachau, Ravensbrück, Sachsenhausen, Majdanek und Mauthausen. Die Lichtenburger machen ein Drittel aller Lager-Kommandanten aus. Von diesen Jahren des Massenmords gibt es im Album keine Spur.

Das letzte Foto stammt aus dem Jahr 1943: Es zeigt Schreiber als SS-Hauptscharführer. Das kleine K auf seinem Kragen zeigt an, dass er zur Kommandantur, der Leitung des Lagers, gehört.

Im Sommer 1937 schließt das Männerlager in Lichtenburg. Es wird zum Frauenlager umfunktioniert. Das Schloss ist zu unflexibel für die neuen Ansprüche an ein sogenanntes modernes KZ. Zu unübersichtlich, nicht erweiterbar. Aber für Frauen scheinbar noch "ausreichend".

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Dieses Thema im Programm: Das Erste | Karriere im KZ – Vom Bauernsohn zum NS-Verbrecher | 16. September 2024 | 23:35 Uhr