NS-Täter SS-Karrieren: Wie aus Menschen Mörder wurden
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23. August 2024, 13:03 Uhr
Unser Bild von den Beteiligten des Massenmords der Nationalsozialisten wurde vielfach prominent geprägt: Hitler in Farbe oder mit Hund, die Männer der Wannseekonferenz oder Rudolf Höß als familienliebender und umtriebiger Kommandant des KZ-Auschwitz. Dokus zu Himmler, Göring oder Goebbels kommen immer wieder im Fernsehen. Die großen Namen der NS-Zeit sind uns präsent. Doch was ist mit den vielen Anderen? Ohne ihre Mitarbeit hätte das KZ- und Mord-System nicht funktionieren können.
Revision der ehemaligen KZ-Sekretärin Irmgard F.
Irmgard F. wurde vom Landgericht Itzehohe wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen verurteilt – und dabei bleibt es. Im August 2024 hat der Bundesgerichtshof die Revision der Frau verworfen, die von Juni 1943 bis April 1945 als Stenotypistin in der Kommandantur des KZ Stutthof tätig war. Der Fall sorgte für Aufsehen, denn bisher gab es keine rechtskräftige Verurteilung von zivilen Beschäftigen eines Konzentrationslagers.
Die Anwälte der Frau argumentierten, es sei nicht erwiesen, dass sie wirklich wusste, was in dem Lager vor sich ging. Ihre Arbeit als Stenotypistin habe sich nicht wesentlich von ihrem vorherigen Tätigkeit in einer Bank unterschieden. Aus ihrer Sicht habe es sich um "neutrale Handlungen" gehandelt. Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofes in Leipzig sah das jedoch anders und folgte der Einschätzung des Landgerichts Itzehoe, dass Irmgard F. durch ihre Arbeit as KZ-Sekretärin Beihilfe zu den Mordtaten im Lager leistete.
Durch Strafprozesse wie diesen standen in den letzten Jahrzehnten immer wieder einzelne Menschen im Rampenlicht und deren Beitrag an der Aufrechterhaltung des KZ-Betriebs. Doch in Wahrheit waren es nicht einige wenige Personen, sondern Zehntausende, die daran beteiligt waren. Und ohne die das KZ-System nie hätte funktionieren können.
Es waren nicht nur die prominenten NS-Täter
In einem KZ-Komplex wie Auschwitz arbeiteten mehrere Zehntausend Menschen. Weitere Lager wie Buchenwald, Flossenbürg, Stutthof, Sachsenhausen und andere kommen hinzu. Wer waren diese Menschen? Wer war Teil der Kommandantur? Wer betrieb die Kantinen? Wer umstellte bei der Ankunft den Zug, damit die Häftlinge nicht fliehen konnten? Wer besorgte den Nachschub an Zyklon B? Wer erschoss 8.000 sowjetische Kriegsgefangene im KZ Buchenwald? Wer verbirgt sich konkret hinter der Abkürzung "SS"? oder hinter dem Begriff "NS-Täter"? Der neue MDR-Podcast "NS-Cliquen: Von Menschen und Mördern" lenkt den Blick auf unbekannte Täter der NS-Zeit. Die Historikerin und Buchautorin Leonie Schöler spricht darin mit Stefan Hördler, einem weltweit anerkannten Experten für das Personalsystem der SS.
Er recherchierte tausende Biografien, wie zum Beispiel die von Wilhelm Schäfer. Der junge Mann aus der Nähe von Querfurt war Teil des "Kommando 99", einer Einheit, die im KZ-Buchenwald in Massen sowjetische Kriegsgefangene erschoss. Und das in einer zynischen Inszenierung: Die Genickschuss-Anlage war getarnt als Arztzimmer, die SS-Männer waren als Ärzte verkleidet und den Opfern wurde vorgegaukelt, ihre Körperhöhe werde gemessen. Während der Messung wurde dem Gefangenen in den Hinterkopf geschossen.
Beteiligt am Morden, ohne eine Waffe zu führen
Der Podcast enthüllt in acht Folgen: Der Terror des NS-Regimes war ein arbeitsteiliger Prozess. Tausende mussten ihre Arbeit zuverlässig und konstant erfüllen, damit der Betrieb der KZ aufrechterhalten werden konnte. Auch wenn viele von ihnen nie eine Waffe führten oder selbst mordeten – sie stützten mit ihrem Einsatz den Mord. Wichtig ist hier die Konstanz über Jahre: So entstanden Experten für bestimmte Abläufe, die dann teilweise in Gruppen innerhalb des Systems versetzt wurden, um beim Aufbau zu helfen oder neue Strukturen zu etablieren. Ein Beispiel dafür ist Oskar Gröning.
Er war Sparkassenkaufmann und wurde mit etwa 25 anderen jungen Männern 1942 nach Auschwitz versetzt, in eine Abteilung, die nichts anderes machte, als das geraubte Vermögen von Holocaust-Opfern zu zählen, zu registrieren und dann an die Zentrale nach Oranienburg zu schicken.
Und die Männer sind auch an der Rampe anwesend, sie sichern das Raubgut und Oskar Gröning ist als gelernter Bankkaufmann für Geld zuständig, und in dem Fall auch konkret für die Devisen. Er war einer von vielen: Es gab Uhrmacher, Juweliere, Sparkassenkaufleute. Dieses Netzwerk, wenn man es so bezeichnen möchte, ist am Ende eine Gruppe von Spezialisten, die sich mit jedem Bereich des Raubes auskannte.
Frühe SS-Netzwerke in Mitteldeutschland
In vielen Fällen waren die Männer und Frauen in Seilschaften verstrickt, die lange vor der NS-Herrschaft begannen, in einer frühen Phase von SS-Ortsgruppen-Gründungen, die weit in die Mitte der 1920er Jahre zurückreichen. Egon Zill ist dafür ein Beispiel. Der äußerst kleine Mann schaffte es zum SS-Führer aufzusteigen, obwohl seine Körpergröße eigentlich ein Ausschlussgrund gewesen wäre. Doch Egon Zill aus Plauen gehörte zu den ganz frühen SS-Mitgliedern und war bestens in der Wirtschaft vernetzt.
Er ist letztendlich ein Protagonist, der zur NS-Bewegung der ersten Stunde gehörte. Und damit ist er in Plauen nicht allein. Und wenn wir uns genau diese Strukturen anschauen, sehen wir, dass das ein richtiges Geflecht ist, was sich da nicht nur aus Plauen, sondern auch aus dem Vogtland, Erzgebirge, aus anderen Bereichen immer stärker entwickelt und sich auch miteinander verbindet.
Zills Kontakte verhalfen ihm zum Aufstieg. Als Schutzhaftlagerführer im KZ Dachau erlangte er einen zweifelhaften Ruf als Schläger und Erfinder brutalter Foltermethoden. Dennoch (oder gerade deshalb) wird er Kommandant in den Konzentrationslagern Hinzert, Natzweiler und Flossenbürg.
SS-Karriere dank "richtiger" Braut
Der Berliner Paul Werner Hoppe war von September 1942 bis Kriegsende Kommandant des KZ Stutthof. Damit war er auch der Chef der Stenotypistin Irmgard F., die wegen Beihilfe zum Mord vom Landgericht Itzehoe verurteilt worden war. In die Zeit seiner Leitung des KZ fielen riesige Selektionsvorgänge, bei denen arbeitsunfähige Häftlinge aussortiert wurden und nach Auschwitz geschickt, außerdem Morde durch Genickschüsse und Giftspritzen sowie Gaskammer-Versuche.
Der dazugehörige Schriftverkehr ging in vielen Fällen über den Schreibtisch des Vorzimmers der Kommandantur, in dem zivile Beschäftige wie die verurteilte Stenotypistin tätig waren. Paul Werner Hoppe hatte vor seinem großen Karrieresprung nie in einem KZ eine Führungsposition und wurde dennoch selbst Kommandant, weil er die Tochter eine KZ-Kommandanten heiratete: Sein Schwiegervater Hermann Baranowski öffnete ihm die Türen zu den Führungseliten des Systems, wie z.B. Richard Glücks, dem Inspekteur der Konzentrationslager.
Der Podcast ist nicht nur als Informationsquelle zu sehen oder als Bestandsaufnahme einer Zeit, die längst vergangen ist. Er zeigt vielmehr ganz deutlich: Das Zusammenrotten in Gruppen, das gegenseitige Stützen und Fördern führte über lange Zeit zu starken Seilschaften. Wie in einem Gärprozess. Und die kamen dann zum Tragen, als es galt, sich im NS-System Macht und Aufstieg zu sichern und sich auf Kosten Millionen anderer zu bereichern.
Dieses Thema im Programm: ARD Videopublisher | Karriere im KZ | 20. August 2024 | 00:01 Uhr