Schutz des Wildlebens Gassi gehen während der Brut- und Setzzeit: Muss die Hundeleine sein?
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18. Mai 2024, 08:00 Uhr
Im Frühling und Frühsommer brauchen die heimischen Wildtiere besonderen Schutz, um ihren Nachwuchs aufzuziehen. Für Hunde heißt das: Ab an die Leine! Doch wie ist das mit einer hundgerechten Haltung vereinbar?
- Die bloße Anwesenheit eines Hundes reicht aus, um die Wildtiere in Stress zu versetzen — unabhängig davon, wie gut der Hund trainiert ist
- Als wirksamste Maßnahme gilt die Leine, was einen Interessenskonflikt zwischen Bewegungstrieb der Hunde und Naturschutz nach sich zieht
- Sächsische Städte sind besonders hundefreundlich
Der Wind ist in den Blättern zu hören, aber auf der Haut kaum zu spüren. Jana und Jenö – ein ungarischer Vorstehhund, deswegen auch der Name – schlendern durch den Leipziger Auwald. Mitte Mai, mittlerer Geruch nach Bärlauch. Jenö riecht noch viel mehr. Mit einem Stock im Maul läuft er vornweg, schnuppert hier, schnuppert da. Jana lässt ihn machen. Sobald sie seinen Namen ruft, kommt er zu ihr zurück und steht strammer als ein Offizier bei Fuß. "Gut erzogen", meint Jana. Dass sie ihren Hund so freilaufen lässt, ist aktuell trotzdem nicht ganz unproblematisch.
Denn vom 1. März bis zum 15. Juli ist in Mitteldeutschland Brut- und Setzzeit. So wird der Zeitraum bezeichnet, in dem Wildtiere ihren Nachwuchs bekommen, ihn aufziehen und pflegen. Vögel bauen ihre Nester und brüten die Eier aus – im Auwald zwitschert es unkontrolliert durcheinander. Größere Wildtiere wie Kaninchen, Rehe oder Wildschweine setzen ihren Nachwuchs in die Welt und bereiten ihn auf ein selbstständiges Leben vor. Damit das möglichst störungsfrei gelingt, brauchen die Tiere zu dieser Zeit einen besonderen Schutz. Dabei können Hunde schnell zum Problem werden.
Hunde: Schon die bloße Anwesenheit im Wald stört
Ist ein Hund wie Jenö im Wald oder auf offenem Feld anwesend, beeinflusst er das Wildleben – völlig unabhängig davon, wie gut er trainiert ist. Denn selbst wenn ein Hund nur brav den Weg entlang trottet und keinen Wildtieren nachstellt, wird er von diesen trotzdem als potenzielle Gefahr wahrgenommen. Das führt dazu, dass sich die Grundstoffwechselrate der Tiere erhöht. Puls und Blutdruck steigen, es herrscht die umgangssprachliche Alarmbereitschaft. Aus Angst verlassen so beispielsweise bodenbrütende Vögel fluchtartig ihre Nester. Die Eier sind dadurch ungeschützt und können auskühlen – die Küken sterben, bevor sie überhaupt schlüpfen.
Und auch bei größeren Tieren sprechen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie der Zoologe und Verhaltensforscher Udo Gansloßer vom sogenannten "Landscape-of-fear"-Effekt – eine Art "vorbeugende Wachsamkeit". Diese werde durch die bloße Anwesenheit eines Hundes ausgelöst und sei anstrengend für die Tiere, die sich bedroht fühlen. Da das Stressniveau zudem nur langsam abfällt, verkürzt sich auch die Zeit für eine entspannte Nahrungsaufnahme. Wenn dann noch der Nachwuchs mitversorgt werden will, können laut Gansloßer schnell Unterernährung und Mangelerscheinungen auftreten, die langfristig zu einer Gefahr für die Biodiversität werden.
Brut und Setzzeit: Die Leine als einzige Lösung?
Was also tun? Laut Vogelexperte Martin Rümmler vom NABU ist die Antwort äußerst simpel: Hunde müssen während der Brut- und Setzzeit an die Leine – im Wald, auf offenen Feldern und ganz besonders in Schutzgebieten. So könne der Hund am besten kontrolliert werden und zumindest die Gefahr einer Verfolgungsjagd wäre ausgeschlossen. Die Leine hat aber auch noch einen anderen Effekt: Studien haben nämlich gezeigt, dass die Wildtiere einen angeleinten Hund anders wahrnehmen.
Ist ein Hund an der Leine, sinkt sein Einfluss auf das Wildleben. "Das Sehvermögen der größeren Wildtierarten reicht aus, um die Leine oder das geänderte Verhalten durch die Leine wahrzunehmen. Ob sie den Strick wirklich sehen oder etwa an der Körperspannung des Hundes erkennen, dass er geführt wird, wissen wir natürlich nicht – doch der geführte Hund wird als weniger gefährlich eingestuft", sagt Udo Gansloßer.
Aus diesem Grund herrscht während der Brut- und Setzzeit auch in einigen Bundesländern eine zeitweise Leinenpflicht. In Sachsen sind derartige Verordnungen, wenn überhaupt, nur in ausgewiesenen Schutzgebieten zu finden. Jana und Jenö machen also nichts Unrechtes, wenn sie ohne Leine durch diesen Teil des Auwaldes spazieren. Folgt man der Elster jedoch ein paar Kilometer flussabwärts, sieht es anders aus: In Sachsen-Anhalt gilt eine Sonderregelung für die Brut- und Setzzeit. Vom ersten März bis zum 15. Juli müssen Hunde hier an die Leine. In Thüringen gilt im Wald sogar ein ganzjähriger Leinenzwang. Bei Verstößen drohen teils saftige Bußgelder.
Leinenzwang: Ist das mit einer tiergerechten Haltung vereinbar?
Der Freilauf der Hunde wird also vielerorts eingeschränkt, um den Fortbestand des Wildlebens zu ermöglichen. Doch wie ist das mit einer tiergerechten Haltung vereinbar? "Der Vogel muss fliegen und der Hund muss laufen", sagt eine vorbeikommende Spaziergängerin. Ihr Hund läuft ebenfalls ohne Leine. Und auch die Tierschutz-Hundeverordnung in §2 Absatz 1 sieht vor, dass einem Hund "ausreichend Auslauf im Freien außerhalb eines Zwingers zu gewähren" ist.
Hunde brauchen freie Bewegung, um ihre Muskulatur, Gelenke und den Bewegungsapparat fit zu halten, darüber herrscht in der Wissenschaft Einigkeit. Laut Zoologe und Verhaltensforscher Udo Gansloßer würden Hunde jedoch weniger Auslauf brauchen als oft angenommen, viel eher ginge es um "Qualität statt Quantität". Die freien Tobe-Einheiten seien zwar durch nichts – auch nicht durch eine angeleinte Mitnahme des Hundes beim Joggen oder Radfahren – zu ersetzen, doch sie müssen nicht ständig und vor allem nicht zwangsläufig im Schutzgebiet von Wildtieren stattfinden.
Eine Beobachtung italienischer Straßenhunde hat gezeigt, dass diese die meiste Zeit nur entspannt herumspazieren. Wirkliche Tobe-Einheiten erstrecken sich pro 24h maximal auf 30min – unterteilt in kleine Blöcke von jeweils 3-5min. Auf diese Bewegungszeit könne man problemlos auch in Hundeschulen, Vereinen oder auf ausgewiesenen Hundewiesen beziehungsweise Freilaufflächen kommen.
Sächsische Städte sind besonders hundefreundlich
Derartige Flächen sind auch in mitteldeutschen Großstädten zahlreich zu finden. In Studien verschiedenster Unternehmen zu den hundefreundlichsten Städten Deutschlands landen zum Beispiel die sächsischen Metropolen Leipzig und Dresden stets in den Top 5 – häufig sogar ganz oben. Besonders in der Kategorie der Freilaufflächen schneiden die Städte sehr gut ab. In Leipzig gibt es derzeit 43 solcher Hundewiesen mit einer Größe von insgesamt rund 17 Hektar – zwei davon im Auwald.
Nach Angaben des Amtes für Stadtgrün und Gewässer sollen in den kommenden Jahren noch Weitere dazukommen. Dazu werde die Qualität sukzessive erhöht: Auf Basis eines Stadtratsbeschlusses von 2023 sollen einige der Flächen eine Umzäunung und neue Sitzgelegenheiten für die Hundehalterinnen und -halter bekommen. Auch die Belange der Wildtiere würden bei der Planung berücksichtigt. Jana kennt diese Flächen, glaubt aber, dass diese für Jenö zu viel Stress bedeuten.
Es ist und bleibt ein Interessenskonflikt
Schlussendlich ist und bleibt es ein klassischer Zielkonflikt zwischen dem Individual-Tierschutz der Hunde und der Wildbiologie, größer dem übergeordneten Naturschutz. Dieser Konflikt darf laut Zoologe und Verhaltensforscher Udo Gansloßer nicht einseitig aufgelöst werden – auch die Interessen der Hunde müssen Beachtung finden.
Da diese jedoch durch entsprechende Bemühungen der Halter auch auf alternativen Flächen an ihren benötigten Auslauf kommen, überwiegt im Wald der Schutz des Wildlebens. Die anderen Tiere haben schließlich nicht die Möglichkeit, sich einen anderen Schutz- bzw. Lebensraum zu suchen. Vogelexperte Martin Rümmler vom NABU betont deswegen, dass es aus Sicht des Arten- und Naturschutzes wünschenswert sei, in der Brut- und Setzzeit den Hund auch dort an der Leine zu führen, wo es nicht behördlich vorgeschrieben ist.
Jana möchte zumindest darüber nachdenken. Als sie geht, läuft Jenö dicht neben ihr, sie hält den Stock in seinem Maul fest.
Links/Studien
Einige der im Artikel aufgegriffenen Studien zum Nachlesen:
- Hunde beeinflussen das Wildleben
- Erkundungstrieb von Hunden ohne Leine
- Bewegungsverhalten italienischer Straßenhunde
- Dresden und Leipzig sind hundefreundlichste Städte
- Leipzig mit meisten Freilaufflächen pro Hund
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 18. Mai 2024 | 06:48 Uhr
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