Das Insektizid DDT wird durch Verneblung in einer amerikanischen Wohnsidlung verteilt. Aufnahme von 1948 4 min
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Vom Lebensretter zum Insektentöter DDT – Das verfluchte Wundermittel und ein Buch als Gegengift

16. Mai 2024, 10:09 Uhr

Der Stoff war ein Mythos und ist es bis heute. DDT galt seit dem Nobelpreis für Paul Müller vor 75 Jahren als ein Lebensretter der Menschheit. Erst langsam wuchs die Erkenntnis, wie gefährlich der Stoff tatsächlich ist.

"Wenn mir der Ausdruck erlaubt ist, so möchte ich sagen, dass Dr. Paul Müller der Star unter den diesjährigen Nobelpreisträgern ist." So beginnt eine im Deutschen Rundfunkarchiv erhaltene Radioreportagen von 1948 über den Schweizer Industriechemiker, der als Entdecker des DDT gilt.

Ich habe heute Morgen noch mit ihm im Hotel gesprochen, und er hat mir erzählt, dass er keinen Schritt ohne Zeitung tun kann, ohne dass nachher in der Zeitung steht, was er gesagt hat, in welches Restaurant er gegangen ist.

Radioreportage über Paul Müller, 1948

Der Reporter berichtet von einem Warenhaus in Stockholm mit einer eindrücklichen Dekoration. Im Schaufenster Paul Müller auf einem überlebensgroßen Bild, dann eine Landkarte, die die Wirksamkeit gegen die Malaria zeigen soll, Schweizer Fahnen dazu und natürlich die DDT-Produkte.

Toxisch, wirksam, ökonomisch – die Erfindung des DDT

Müller ist Angestellter des Basler Phamazieherstellers "Geygy". Er erhält den  Nobelpreis im Bereich Medizin für seine Erforschung des Dichlordiphenyltrichlorethans, abgekürzt DDT. Erstmals beschrieben wurde diese chemische Verbindung in den 1870er-Jahren, aber Paul Müller aber war derjenige, der 60 Jahre später die tödliche Wirkung des Stoffes auf Insekten erkannte.

"Nachdem ich bereits Hunderte von Substanzen durchgeprüft hatte, kam ich, von einer Literaturstelle angeregt, im Herbst 1939 auf das Diphenyltrichlorethan, die Grundsubstanz des DDT, die bereits eine auffallend starke Kontaktgift-Wirkung auf Fliegen zeigte. DDT war für Insekten so giftig, dass mein Versuchskasten, in welchem die Fliegen besprüht wurden, trotz der üblichen Reinigung nach kurzer Zeit, auch ohne neue Zerstäubung, für neu eingesetzte Fliegen, welche sich auf die vergifteten Wände setzten, tödlich war." Das sagt Paul Müller im Jahre 1948.

Bedingt durch den Zweiten Weltkrieg sind 1939 die bis dahin üblichen Insektizide kaum mehr verfügbar, weil man zu ihrer Herstellung Importstoffe braucht. Dazu kommt, dass sie nur sehr eingeschränkt wirksam sind und oftmals auch giftig für den Anwender, denn sie enthalten zum Beispiel Arsen. DDT dagegen erfüllt – scheinbar– die von Forschern wie Paul Müller aufgestellten Idealanforderungen an ein Pestizid:

"Rascher Eintritt der toxischen Wirkung. Keine oder geringe Toxizität gegenüber Warmblütern und Pflanzen. Keine Reizwirkung und kein oder schwacher, jedenfalls nicht unangenehmer Geruch. Lange Dauer der Wirkung, das heißt große chemische Stabilität. Niedriger Preis = ökonomische Anwendung." Das steht in den Idealanforderungen für Insektizide, aufgestellt in den 1930er-Jahren.

Der Krieg als Treiber der Entwicklung

1942 kommen die DDT-haltigen Mittel "Neocyd" und "Gesarol" auf den Markt. Der Basler Historiker Christian Simon schreibt dazu in seiner Kulturgeschichte des DDT, dass die Kriegswichtigkeit des von der Basler Firma probeweise zugestellten DDT sehr schnell von den Militärs erkannt wurde. Sie stuften den neuen Stoff als "sekundären Kampfstoff" ein, er würde "im Tropenkrieg die Kampfkraft der Soldaten verstärkten."

Die Mittel töten Läuse, Zecken und Milben. Mit DDT imprägnierte Unterhosen schützen die Soldaten vor Ungeziefer. Kriegswichtiger noch ist der Einsatz von DDT gegen die Anopheles-Mücke, die Überträgerin der Malaria. Flugzeuge der US-Air Force und der Royal Air-Force versprühen vor dem Einsatz von Bodentruppen DDT und schützen so die Soldaten vor Ansteckung. Den größten Durchbruch aber feiert DDT 1943. Damals bricht in Neapel Flecktyphus aus, eine extrem ansteckende Krankheit, die durch Kleiderläuse übertragen wird. Christian Simon schreibt dazu:

DDT gestattete eine wirkliche Rationalisierung, ja geradezu Industrialisierung der "Entwesung" bei gesteigerten Erfolgschancen. In der sogenannten "Zweiten Schlacht" um Neapel wurden in 43 Entlausungsstationen 1,3 Millionen Behandlungen durchgeführt.

Der Historiker Christian Simon in "DDT – Kulturgeschichte einer chemischen Verbindung" (Christoph Merian Verlag Basel 1999)


Die Menschen und ihre Sachen werden mit DDT-Pulver besprüht. Und obwohl 250.000 Neapolitaner an Typhus sterben, gilt die schnelle Eindämmung der Epidemie doch als Erfolg. Ein Erfolg, den sich "Geygy" nicht nehmen lassen will. Die Firma legt großen Wert darauf, als Erfinder des "Wundermittels" bekannt zu werden. Paul Müller erhält einen Doktortitel ehrenhalber.

Nach dem Krieg ist es vor allem die landwirtschaftliche Anwendung, die den Ruhm von DDT weiter trägt. "Geygy" verspricht "Höchsterträge". DDT tötet Obstschädlinge genauso wie Ameisen oder Holzwürmer – in Deutschland wird es vor allem gegen den Kartoffelkäfer eingesetzt, erst per Hand, später per Flugzeug. Tonnenweise wird DDT über den Obsthainen im Schweizer Wallis, über Amerikas Baumwollplantagen, über Deutschlands Kartoffeläckern und über den Getreidefeldern der Sowjetunion versprüht.

Die Euphorie für das neue "Wundermittel" ist so groß, dass es bis in die Wohn- und Schlafzimmer vordringt: als wirksamer Schutz gegen Motten und Insekten. Alte Werbebilder zeigen Hausfrauen, die mit einer Sprühdose DDT auf Matratzen ausbringen oder das weiße Pulver neben dem Mülleimer streuen, um Ameisen zu vernichten. Nichts scheint DDT aufhalten zu können. Bis Rachel Carson ihr Buch "Silent Spring" veröffentlicht.

Der stumme Frühling – ein folgenreicher Vorabdruck

Die Zeitschrift "Der New Yorker" veröffentlicht 1962 eine Artikelserie, die sich mit dem Einsatz von Chemikalien in der Landwirtschaft beschäftigt. Und zwar kritisch.

Sie sprühten die tausend Quadratmeter großen Grundstücke der Vorstädte, verschonten auch eine Hausfrau nicht, die sich verzweifelt bemühte, ihren Garten abzudecken, bevor die dröhnenden Flugzeuge sie erreichten.

Rachel Carson, "Silent Spring"
Rachel Carson
Rachel Carson Bildrechte: IMAGO / Everett Collection

 "Sie sprühten die tausend Quadratmeter großen Grundstücke der Vorstädte, verschonten auch eine Hausfrau nicht, die sich verzweifelt bemühte, ihren Garten abzudecken, bevor die dröhnenden Flugzeuge sie erreichten. Sie überschütteten spielende Kinder und wartende Fahrgäste an den Eisenbahnstationen mit dem Insektizid. In Setauket trank ein schönes Pferd aus einem Trog auf einem Feld, das die Flugzeuge besprüht hatten: zehn Stunden später war es tot." Das schreibt Rachel Carson, in "Silent Spring".

Die Artikel im "New Yorker" fasst Rachel Carson zum Buch "Der stumme Frühling" zusammen – es trifft einen Nerv der Zeit. Die Biologin schildert ein für die damalige, fortschrittsgläubige Zeit düsteres Bild der Gegenwart - und ein noch düstereres der Zukunft. Der massenhafte Einsatz von Schädlingsbekämpfungsmitteln töte nicht nur die Schädlinge, sondern greife massiv in das ökologische Gleichgewicht ein.

Die Herrschaft über die Natur ist ein Schlagwort, das man in anmaßendem Hochmut geprägt hat. Es stammt aus der "Neandertal-Zeit" der Biologie und Philosophie, als man noch annahm, die Natur sei nur dazu da, dem Menschen zu dienen und ihm das Leben angenehm zu machen.

Rachel Carson, US-amerikanische Biologin

Schon jetzt – so Carson weiter – sei der Frühling mancherorts stumm, ohne Vogelgesang. In der Folge des Einsatzes von Mitteln wie DDT drohe nicht nur das Artensterben für die Vögel und Wildtiere, sondern auch der Mensch selbst sei bedroht. Es sie, sagt sie, ein beängstigendes Unglück, dass sich eine so "primitive Wissenschaft für ihren Kampf gegen die Insekten mit den modernsten und fürchterlichsten Waffen ausgerüstet und damit die ganze Welt gefährdet" habe.

Emotionale Streitschrift auf wissenschaftlicher Basis

Nach der Artikelserie wird Rachel Carson heftig attackiert: Kritiker versuchen, das Erscheinen ihres Buches zu verhindern. Der ehemalige Landwirtschaftsminister Ezra Taft Benson schimpft sie eine Kommunistin. Insektizidhersteller bezichtigen sie der Sabotage. Carson würde mit ihren Thesen die amerikanische Lebensmittelproduktion untergraben. Dabei macht Rachel Carson vor allem eins deutlich: Zu sehr waren in der Vergangenheit Stoffe wie das DDT als Heilsbringer angepriesen worden – nach dem Motto: ohne Insektizide keine Beherrschbarkeit der Natur.

Carsons Buch wird ein internationaler Bestseller. Es berührt seine Leser mit einem eingängigen, feuilletonartigen Stil – der damals für das Genre des Sachbuches außergewöhnlich ist. Carson schreibt eindringlich, emotional, entwirft ein Horrorszenario für eine fiktive amerikanische Kleinstadt: Keine Bienen summen dort mehr, keine Vögel singen, fischleer sind die Flüsse und Seen. Dann sterben auch die Menschen: Neuartige Leiden treten auf, plötzliche Übelkeit befällt die Kinder, die mitten im Spiel umfallen, machtlos müssen hilflose Ärzte ihrem Sterben zusehen.

"Diese Stadt gibt es in Wirklichkeit nicht, aber ihr Ebenbild könnte sich an tausend Orten in Amerika oder anderswo in der Welt finden. Fast unbemerkt ist ein Schreckgespenst unter uns aufgetaucht und diese Tragödie, vorerst nur ein Phantasiegebilde, könnte leicht raue Wirklichkeit werden, die wir alle erleben. Was geht hier vor, was hat bereits in zahllosen Städten Amerikas die Stimmen des Frühlings zum Schweigen gebracht? Dieses Buch will versuchen, es zu erklären." Das schreibt Rachel Carson, erste deutsche Ausgabe 1963.

Langfristfolgen als immenses Risiko

Auf 280 Seiten folgt Rachel Carson den Spuren, die DDT und der Feldzug gegen Insekten in der Natur hinterlassen. Ihre Gewährsleute sind Biologen, Mediziner und Wissenschaftler, die sich mit den erschreckenden Folgen des Pestizideinsatzes beschäftigen. Carsons Kritik baut dabei auf drei Säulen auf:

  1. DDT ist  nicht so harmlos für Nicht-Insekten, wie von Herstellern und Anwendern behauptet wird.
  2. DDT - so wirksam es auch ist -  führt langfristig zu Resistenzen.
  3. DDT richtet mehr Schaden als Nutzen an, gerade wegen seiner erwünschten Eigenschaften.

Weil das Breitbandinsektizid so wirkt, wie wirkt, vernichtetet es auch nützliche Insekten wie etwa Bienen. Außerdem, so Carson, führe die Langlebigkeit und Fettlöslichkeit des Stoffes zu einer Anreicherung in der Nahrungskette – bis hin zu gefährlichen Dosen im Fettgewebe von Säugetieren, auch in dem des Menschen.

In den wissenschaftlichen Debatten der Zeit wird immer wieder betont: Eine akute Toxizität, von der man bei Einnahme einer bestimmten Dosis von DDT erkrankt, ließ sich nicht beobachten. Deswegen dachte man lange, für den Menschen sei das Gift unwirksam, also könne man es ruhigen Gewissens einsetzen. Im Laufe der Zeit aber rückten die Langfristfolgen in den Fokus, DDT wurde als potenziell krebserregend erkannt und als neurotoxisch, und auch mit Wirkung auf Hormone, insbesondere für Kinder im Mutterleib.

Rachel Carsons Buch wirkt wie ein Gegengift. Sie holt das Thema an die breite Öffentlichkeit. Was ihr dabei hilft, ist ihre Bekanntheit. Die Biologin hatte bereits mehrere erfolgreiche Bücher über Meereskunde geschrieben. Rachel Carson, 1907 in der Nähe von Pittsburgh geboren, lernte die Liebe zur Natur und Literatur von ihrer Mutter. Als ihr Vater starb, musste die Zoologin ihre Promotion abbrechen, um die Familie zu versorgen. Sie arbeitet bei der Fischereibehörde und machte im Krieg Reklame für Fisch als alternatives Nahrungsmittel.

1951 erscheint ihr erstes Buch "The Sea around us" - "Wunder des Meeres". Ein Erfolg, der es ihr ermöglichte, fortan als freie Sachbuchautorin zu leben. Es folgten The Edge of the Sea" - "Am Saum der Gezeiten" und "Under the Sea-Wind" - Unter dem Meerwind. Sie alle  werden Bestseller. Wie eben "The silent spring" – "Der stumme Frühling" auch. Es zählt bis heute zu den folgenreichsten Publikationen des 20. Jahrhunderts und es hat das Thema Umweltschutz salonfähig gemacht. Carson gilt als die Erste, die auf populäre Weise vor den akuten Eingriffen in ökologische Kreisläufe warnt. Das Gleichgewicht der Natur - wie sie es damals nennt - wird zwar von ihren Gegnern als Ammenmärchen abgetan; von ihr selbst aber immer wieder gekonnt verteidigt.

Für diese Leute ist das Gleichgewicht der Natur offenbar in dem Moment abgeschafft worden, als der Mensch auf den Plan trat. Da könnte man genauso gut die Schwerkraft abschaffen.

Rachel Carson in einem Interview mit der Kanadischen CBS

Vom Zweifel zum Verbot

Nach Carsons Buch begann eine Zeit der Expertisen. Wissenschaftler wurden zu politischen Akteuren. Präsident Kennedy wies seine Berater an, einen Bericht zu den aufgeworfenen Fragen auszuarbeiten. Der Historiker Christian Simon schreibt: "Der Bericht "Use of Pesticides" bestritt, dass DDT Gefahren für Menschen berge, und unterstrich, dass biologische Methoden chemische nicht ersetzen könnten. Aber der Bericht gestand zu, dass Pestizide ein Umweltproblem seien: Trotz lokal beschränkter Anwendung hätten sie überregionale Auswirkungen, zu denen namentlich eine hohe Sterblichkeit in der Fauna gehöre."

Das Verbot schließlich kam aus dem Bundesstaat Wisconsin. Dort sollte in einem Gerichtsverfahren geklärt werden, ob DDT für Mensch und Tier sicher sei und deshalb die Behörden ein Recht hätten, es anzuwenden. Die Anhörung im Oktober 1968 wurde zum Desaster für die Behörden: Im Kreuzverhör mussten Vertreter des Landwirtschaftsministeriums zugeben, dass sie keine unabhängigen Tests durchführten, um die Angaben der Industrie zu kontrollieren. Das Gericht empfahl schließlich, auf den weiteren Gebrauch von DDT in Wisconsin zu verzichten.

Sieben Jahre nach dem Erscheinen von "Der Stumme Frühling" erließ Präsident Nixon 1969 schließlich ein amerikaweites Verbot von DDT. Ein Riesenerfolg für die amerikanische Umweltbewegung, und dieser Erfolg schwappte bis nach Europa. Auch hier wurde in vielen Staaten DDT in den folgenden Jahren verboten, in der Bundesrepublik z.B. 1972.  

Die Gründe hinter den Gründen

Allerdings: DDT war zu diesem Zeitpunkt längst kein Kassenschlager mehr: "Die DDT-Kritik fand erst zu einem Zeitpunkt offiziell Gehör, als die DDT-Verwendung in den USA um die Hälfte zurückgegangen war (Bilanz des Jahrzehnts von 1960). Die Wirksamkeit von DDT war um 1970 längst nicht mehr so überragend wie 1945: 89 Arten waren bereits als DDT-resistent bekannt" schreibt Christian Simon in "DDT".

Neue Pestizide, moderner und wirksamer, sollten die Gewinne wieder steigern. Und so kam – mit ganz anderen Wirksamkeiten und Anwendungen – zum Beispiel das heute so umstrittene Herbizid Glyphosat 1974 auf den Markt. Aber das ist eine ganz eigene Geschichte …

Für DDT ist noch zu bemerken: Heute wird es zur Bekämpfung von Malaria-Mücken zum Beispiel in Afrika wieder eingesetzt, im Wechsel mit anderen Substanzen, um Resistenzen zu vermeiden. Der Basler Historiker Christian Simon hatte das bereits Ende der 1990er Jahre vorausgesehen: "Sollte sich aber DDT von der moralischen Stigmatisierung als Teufelszeug (…) je befreien, dann können wir sicher sein, dass es (im Wechsel mit biologischen Methoden und im Wechsel zwischen verschiedenen Pestizidfamilien) bald wieder einen Platz erhielte. Nicht nur im Süden, auch in Europa", so Christian Simon in "DDT – Kulturgeschichte einer chemischen Verbindung".

Sein Fazit lautet: Der höchst umstrittene Stoff hat sowohl eine weltweit zusammenhängende, technische Zivilisation vorangetrieben als auch die moderne Technikkritik, die den Zivilisationsprozess begleitet.

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