Weitwinkelige Vogelperspektive auf einen Jenga-Turm (Turm aus verschachtelten Bauklötze, die nacheinander herausgezogen werden müssen, ohne dass der Turm umfällt), junge Erwachsene (ein Mann, eine Frau, Arm einer weiteren Person) sitzen drum herum und spielen, leicht unscharf.
Wann's kippt lässt sich in der Physik leicht vorhersagen – in Ökosystemen ist das was anderes. Bildrechte: imago/Panthermedia

Umwelt Kippt es oder nicht? – Schwellenwerte sagen bei Ökosystemen wenig aus

20. August 2020, 06:00 Uhr

Irgendwann kippt das doch alles! Wenn es um Umweltfragen geht, ist die Vorstellung des Kippens weit verbreitet. Das heißt: Ist ein Schwellenwert überschritten, zum Beispiel Rückgang der Arten, dann droht die Katastrophe, dann verschlimmert sich alles exponentiell. Und wir können es nicht mehr aufhalten. Doch: Gibt es überhaupt solche Kipp-Punkte und was sagen sie eigentlich aus? Ziemlich wenig, hat jetzt eine internationale Studie herausgefunden, die Schwellenwerte von Ökosystemen überprüft hat.

Begeben wir uns kurz in die Karibik, Heimat vieler schillernder Korallen. Jetzt kommt aber Abwasser dazu und schon wird aus dem Korallenriff ein Paradies für kleine Algen, sehr zum Leid der sensiblen Korallen. Wann genau passiert das? Wenn ein bestimmter Schwellenwert überschritten wird. Von solchen Schwellenwerten haben wir schon oft gehört. Die Vorstellung, dass ein Ökosystem irgendwann kippt, ist weit verbreitet, gerade in der Umweltpolitik. Helmut Hillebrand, Direktor des Hemholtz-Instituts für funktionelle Marine Biodiversität an der Uni Oldenburg:

Ich glaube, wir haben ein sehr einseitigen Fokus auf solche Schwellenwerte.

Helmut Hillebrand Hemholtz-Institut für funktionelle Marine Biodiversität

"Wir definieren einen Wert A und glauben, dass unterhalb dieses Wertes A alles gut ist und danach eine sehr, sehr starke und von uns ja oft auch nicht gewollte Antwort des Ökosystems eintritt", erklärt Hillebrand sein Problem mit Schwellenwerten und Kipp-Punkten. "Und ich glaube, wir sollten uns fragen, ob das die richtige Annahme für viele Prozesse in diesem global-change-Bereich ist?"

Naturschutzgebiet Bos en Heide bei Averbode in Belgien: Stimmung mit tiefstehender Sonne hinter Bäumen, etwas Nebel, ein Teich mit Schilf, warme, dunkle Farben.
Alles im Lot im Biotop? Schwellenwerte für die Gesundheit von Ökosystemen existieren – sind jedoch sehr schwer zu berechnen. Bildrechte: imago images/blickwinkel

Er hat sich das nicht nur gefragt, er hat es auch überprüft. Grundlage dafür waren über 4.600 Feldexperimente und dazu noch Simulationen. Ein solches Experiment kann man sich so vorstellen: Man nehme ein Ökosystem, dann gebe man einen bestimmten Grad an Umweltbelastung dazu, wie Kohlendioxid, und dann suche man nach dem Kipp-Punkt. Nur: Den konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den wenigsten Fällen finden. Was nicht unbedingt heißt, dass er nicht existiert, räumt der Biodiversitätsexperte ein:

Unsere Studie sagt nicht, dass es keine Schwellenwerte gibt. Sie stellt nur in Frage, ob wir für solche biologischen Prozesse Schwellenwerte überhaupt identifizieren können bevor sie eintreten.

Helmut Hillebrand Hemholtz-Institut für funktionelle Marine Biodiversität
Porträt von Prof. Helmut Hillebrand: Man mit grau-blond-lockigen Haaren, Bart und freundlichem Gesichtsausdruck. Trägt gestreiftes Hemd. Im Hintergrund unscharf Natur und Grün.
Helmut Hillebrand, Direktor des Hemholtz-Instituts-für funktionelle Marine Biodiversität an der Uni Oldenburg Bildrechte: Universität Oldenburg

Denn nur dann sind sie ein sinnvolles Instrument in der Umweltpolitik. Wir müssen ja die Schwellenwerte kennen, die wir nicht überschreiten sollten. "Aber selbst wenn sie da sind, wir sie aber nicht detektieren können, sind sie immer noch kein sehr gut geeignetes Instrument, um Grenzwerte in Umweltpolitik zu definieren, weil wir eben gar nicht wissen, wo sie denn sein könnten." Das gilt übrigens nicht für alle Schwellenwerte, die wir aus der Umweltpolitik kennen. Die Forschenden haben biologische Ökosysteme überprüft, also das Geflecht von Lebewesen und Umwelt. Physikalische Prozesse haben dabei keine Rolle gespielt.

Klima-Schwellenwerte sind sinnvoll

Prominente Schwellenwerte bleiben also von der neuen Studie weitestgehend unberührt: Klimaberechnungen zum Beispiel, wie das Zwei-Grad-Ziel, oder ab wann ein Gletscher unaufhaltsam schmilzt. Das ist Physik. Dort sind die Schwellenwerte gut zu berechnen. „In den physikalischen Prozessen kann man diese Kipppunkte sehr viel genauer bestimmen, weil man die Prozesse sehr stark modellieren kann. In den biologischen Systemen haben wir oft sehr artenreiche Gemeinschaften und alle Arten reagieren leicht anders."

Soll heißen: In der Biologie wirken so viele unterschiedliche Akteure, dass es schwer fällt, irgendwas vorauszusagen, vor allem einen Schwellenwert. Und dann birgt die Idee eines Schwellenwerts auch Gefahren: Denn erst dann zu reagieren, ist falsch, sagt Helmut Hillebrand. Seine Untersuchung zeigt: Die kleinen kontinuierlichen Veränderungen haben es genauso in sich.

Mit gut 20 Kilometern Länge ist der Aletsch der größte Gletscher in den Alpen. Wie ein Fluss aus Eis erstreckt er sich durchs Hochgebirge. Noch wirkt er mächtig, doch sein Eisschild schmilzt Jahr für Jahr immer weiter ab.
Mit gut 20 Kilometern Länge ist der Aletsch der größte Gletscher in den Alpen. Wie ein Fluss aus Eis erstreckt er sich durchs Hochgebirge. Noch wirkt er mächtig, doch sein Eisschild schmilzt Jahr für Jahr immer weiter ab. Bildrechte: SWR/Vidicom/Bardehle
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