Nach Solingen-Attentat Brauchen wir mehr Überwachung? Forschende verweisen auf Verhältnismäßigkeit

31. August 2024, 13:00 Uhr

Nach dem Attentat in Solingen wird diskutiert, ob die Überwachungsbefugnisse deutscher Behörden ausgeweitet werden sollten. Forschende verweisen darauf, dass diese Befugnisse mit anderen Grundrechten im Verhältnis stehen müssen. Bereits jetzt sei es möglich, durch das Zusammenführen von Daten eine große Menge an Informationen über Personen zu sammeln, die keine Straftat planen.

Welche Ermittlungs- und Überwachungskompetenzen deutsche Polizei und Behörden haben sollten, ist immer wieder Gegenstand von Debatten. Zuletzt hat der Anschlag in Solingen das Thema wieder in den öffentlichen Diskurs gebracht. Die einen fordern nun, möglichst alles technisch Mögliche auszuschöpfen, für andere steht das Recht auf Privatsphäre wiederum an erster Stelle. Hannah Ruschemeier ist Juniorprofessorin für Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Datenschutzrecht/Recht der Digitalisierung an der Fernuni Hagen.

Sie macht darauf aufmerksam, dass in Deutschland bereits umfangreiche Möglichkeiten gesetzlich geregelt sind – und zwar auf Bundes- und Landesebene. Auf diesen beiden Ebenen werde zusätzlich noch weiter zwischen den Kompetenzbereichen von Polizei und Strafverfolgungsbehörden zur operativen Gefahrenabwehr beziehungsweise Strafverfolgung und den Nachrichtendiensten (BND, MAD, Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbehörden der Länder) zur informationellen Vorfeldaufklärung differenziert.  

Zusammenführen von Daten aus verschiedenen Quellen wird bereits praktiziert

Indra Spiecker ist Leiterin des Lehrstuhls für Recht und Digitalisierung des Instituts für Digitalisierung an der Uni Köln. Sie weist darauf hin, dass die Polizeibehörden bereits jetzt vielfältigste Bedürfnisse haben, dazu gehören auch zunehmend das Zusammenführen von Daten aus verschiedensten Quellen. "Nach dem Attentat auf den Berliner Weihnachtsmarkt 2016 hat man hier erhebliche Erleichterungen und Querverbindungen auch über die Länder hinweg geschaffen."

Während einige über eine Ausweitung der Befugnisse diskutieren, wird die aktuelle Gesetzgebung mitunter auch kontrovers gesehen, Hannah Ruschemeier sagt: "Besonders umstritten sind beispielsweise die Quellen- Telekommunikationsüberwachung im Bundeskriminalamtgesetz (BKAG) zur Überwachung laufender Kommunikation, wozu eine Verfassungsbeschwerde anhängig ist, der Einsatz biometrischer Gesichtserkennung, die auch im Kontext der KI-Verordnung stark diskutiert wurde und die Reform des Bundespolizeigesetzes." Die Rechtswissenschaftlerin findet, generell fehle es an empirischen Erkenntnissen zur Effizienz von behördlichen Befugnissen im Detail und in der Breite: "Hoch gepriesene Vorhaben vermeintlich technisch innovativer Instrumente wie Modellprojekte zu 'Predictive Policing' [Anm. d. R.: Das ist ein Modell, mit dem Straftaten vorhergesehen werden sollen] wurden teilweise aufgrund fehlenden Erfolgs oder schlicht mangelnder Datengrundlage eingestellt."

Reflexhafte Forderung nach Ausweitung der Überwachungsbefugnisse seit 9/11

Aus der Perspektive von Hannah Ruschemeier hat sich seit dem Terroranschlag vom 11. September 2001 in der rechtspolitischen Debatte eine Art reflexhafte Forderung nach einer Ausweitung der Überwachungsbefugnisse der Sicherheitsbehörden entwickelt. "Zahlreiche dieser Vorhaben sind am Bundesverfassungsgericht gescheitert. Rechtsstaatlicher Grundrechtsschutz sollte allerdings nicht so verstanden werden, dass erst Gerichte entscheiden müssen, sondern bei parlamentarischen und exekutiven Entscheidungen stets berücksichtigt werden." Insbesondere bei datenmächtigen Akteuren bestehe aus ihrer Sicht Missbrauchspotenzial, vor allem, wenn beispielsweise staatliche Akteure in diesem Zusammenhang Dienstleistungen privater Anbieter nutzen, die eigene Interessen verfolgen, wie beispielsweise im Fall von Palantir und "Hessendata".

Indra Spiecker betont, dass man immer auch die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen im Blick behalten müsse. Wie bei jeder Verbindung von Datensätzen unterschiedlichster Lebensbereiche entstehe ein umfassenderes Bild über einen Verdächtigen als für die konkrete Ermittlung im Nachhinein notwendig sei, dann jedoch seien die Daten nun mal vorhanden. "Angesichts der Bedeutung eines Smartphones ist zum Beispiel die Nachverfolgung der dortigen Aktivitäten ein weitreichender Eingriff. Und nicht jeder Untergetauchte ist sogleich ein potenzieller Attentäter", sagt die Leiterin des Lehrstuhls für das Recht der Digitalisierung. Sie weist darauf hin, dass weitreichende Ermittlungsmethoden neben dem Strafrecht und der Privatsphäre in einen gesamtgesellschaftlichen Ausgleich mit anderen Interessen gebracht werden müssen. Beispielsweise auch mit Belastungen für den Sozialstaat.

Überwachungsgesetzen sollten zeitlich begrenzt sein

Der IT-Sicherheitsrechtler Dennis Kenji-Kipker betont zusätzlich, das Hauptproblem liege aus seiner Perspektive darin, dass mit nahezu jeder Regierung neue Überwachungsmaßnahmen in die Gesetze aufgenommen werden, ohne alte Befugnisse wieder zurückzunehmen. "Das führt dazu, dass die verfassungsrechtliche Betrachtung immer auf eine Momentaufnahme des konkreten gesetzgeberischen Vorhabens reduziert wird. Was wir deshalb für jedes Überwachungsgesetz brauchen, wenn wir unsere digitalen Grundrechte ernst nehmen wollen, ist eine zwingende Evaluationsklausel, die die Effektivität einer Maßnahme nach einem festgelegten Zeitraum bewertet." Aus seiner Sicht sollte man Gesetze zeitlich begrenzen und so gestalten, dass sie nach festgelegten Zeiträumen einer Verlängerung durch das Parlament bedürfen.

iz mit smc

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR Aktuell | 29. August 2024 | 22:36 Uhr