Zwei männliche Hände halten und bnerühren eine andere Hand.
Schmerzen und Ängste lindern, Stimmung aufhellen mit Berührungstherapie Bildrechte: Colourbox.de

Körpertherapie Die heilsame Kraft von Berührungen in der Medizin

16. Juni 2024, 16:00 Uhr

Wie wohltuend und wichtig Berührungen für unsere Entwicklung, unser Wohlbefinden und sogar für unsere Gesundheit sind, ist inzwischen eingehend erforscht worden. Sie können sogar Schmerzen und andere Symptome lindern. Kann Berührung deshalb als Therapieform herkömmliche Verfahren ergänzen und damit Patienten zu mehr Lebensqualität verhelfen? Immerhin ist die Massage die älteste Heilmethode überhaupt, die ca. 2.700 Jahre vor Christus in China ihren Ursprung hat.

Porträtfoto einer Frau mit einer rosa Bluse.
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Dass professionelle Berührung Einzug halten sollte in den klinischen Alltag, davon ist Depressionsexperte und Psychopharmakologe Bruno Müller-Oerlinghausen überzeugt. Zahlreiche internationale Studien bestätigen das und auch er selbst hat dazu geforscht. "Ich bin ein hoffnungsloser Pragmatiker und Empiriker. Ich glaube an das, was ich sehe und erlebe am Patienten", sagt er.

Diese Erfahrung in seiner Zeit als Leiter der Spezialambulanz zur Langzeitbehandlung von Depressionen an der Freien Universität Berlin gab ihm auch den Impuls, sich eingehender mit der heilenden Wirkung von professioneller Berührung zu beschäftigen. "Im direkten Kontakt mit den Patienten erlebte ich damals, dass vielen von ihnen Medikamente und Psychotherapie allein nicht zur vollständigen Gesundung verhelfen konnten. Sie litten weiterhin an Restsymptomen wie Schlafstörungen, Antriebslosigkeit und Müdigkeit", blickt er zurück. Die Wirksamkeit von Antidepressiva sieht er zunehmend kritischer.

Prof. Dr. Bruno Müller-Oerlinghausen
Prof. Dr. Bruno Müller-Oerlinghausen forscht zur Wirksamkeit von professioneller Berührung in der Medizin Bildrechte: Tillema Kees

Professionelle Berührung: Technik und Feingefühl

Inspiriert von eigenen Erfahrungen mit verschiedenen Massagetechniken entwickelte Müller-Oerlinghausen in Zusammenarbeit mit Masseurin Claudia Berg eine spezielle Technik, um Patienten durch die Berührung der Haut zu behandeln. Bei der "Slow-Stroke-Massage" wird diese am ganzen Körper sanft und langsam gestrichen. Dadurch werden die zahlreichen Sinneszellen der Oberfläche und die obere Faszie stimuliert. "Denken Sie daran, wie Sie Ihre Katze streicheln würden, damit sie schnurrt", beschreibt der Arzt das Vorgehen. Es gehe dabei um eine Berührung, bei der sich die Hand mit etwa drei bis fünf Zentimeter pro Sekunde über die Haut bewegt. Wissenschaftler nennen das "affective touch“, eine emotionale Berührung, die international erforscht wird.

"Das erfordert viel Empathie und psychologische Energie des Gebenden. Man braucht also entsprechende Pausen", räumt der Psychiater ein. Doch eine zwanzigminütige klassische Massage, wie sie oft bei muskulären Verspannungen verordnet wird, reiche eben nicht, um die angestrebten psychischen Effekte zu erzielen. Das Verfahren wurde über mehrere Jahre in der Praxis erprobt und im Rahmen einer kontrollierten Studie geprüft. Die Ergebnisse wurden 2003 in der Deutschen Zeitschrift für Klinische Forschung veröffentlicht.

Die Studienergebnisse haben mich selbst überrascht.

Prof. Dr. Bruno Müller-Oerlinghausen, Psychiater und Pharmakologe

32 an Depression erkrankte Patienten, davon 24 Frauen und 8 Männer erhielten jeweils zu drei Terminen eine einstündige "Slow Stroke Massage", die immer von ein und derselben Person ausgeführt wurde.

Zur Kontrolle nahmen die gleichen Personen an anderen Tagen ohne Massagen auch 60 Minuten an einer Aufmerksamkeits- und an einer Wahrnehmungsübung teil. Anschließend füllten sie Fragebögen aus und wurden von einem Psychiater untersucht, der nicht wusste, ob sie an diesem Tag an einer Massage oder an einem Aufmerksamkeits- beziehungsweise Wahrnehmungstraining teilgenommen hatten.

Depression findet nicht nur im Kopf, sondern im ganzen Körper statt

Das Ergebnis: Die Frauen und Männer zeigten nach der Berührungstherapie eine im Vergleich zur Kontrollbedingung statistisch signifikant deutlichere Besserung ihrer depressiven Stimmung generell, ihrer Angespanntheit, Unruhe und ihrer Verspannungen im Nacken- und Schulterbereich.

Sie haben meine Hände massiert und damit meine Seele berührt.

Patientin mit Depression nach der Berührungstherapie

Über die in Zahlen und Skalen messbaren Studienergebnisse hinaus sind für Bruno Müller-Oerlinghausen die Aussagen der Patienten maßgeblich. Beschreibungen wie "Sie haben meine Hände massiert und damit meine Seele berührt." oder "Ich habe mich immer zweigeteilt gefühlt, aber jetzt habe zum ersten Mal meine Beine wieder gespürt." zeigen, dass Depressionen sich nicht nur im Kopf abspielen, sondern auch im Körper. Deshalb könne man durch die Stimulation der Haut und teilweise auch der oberen Faszien bei dieser Erkrankung viel erreichen, so der Wissenschaftler.

Unter anderem vermuten er und seine Kollegen, dass die spezielle Massage die sogenannten interozeptiven Prozesse positiv beeinflusst. "Das ist die Summe aller Signale aus dem Körperinneren, die in einem Moment ans Gehirn weitergeleitet werden. Das sind Signale der Muskulatur, der Blase, des Magens und so weiter. Sie alle zusammengenommen machen aus, wie wir uns in diesem Augenblick fühlen. Dieses Empfinden und auch das Vertrauen in den eigenen Körper sind bei depressiven Patienten gestört", erklärt Müller-Oerlinghausen und er fügt hinzu: "Wir vertreten die Hypothese, dass das, was wir hier machen, diese interozeptive Störung zurückbildet beziehungsweise aufhebt."

Hohes Interesse an Weiterbildungen zur Berührungsmedizin

Darüber hinaus ist die Wirksamkeit professioneller Berührung inzwischen auch für weitere Beschwerden wissenschaftlich belegt. Grundsätzlich kann sie nachhaltig Schmerzen lindern, wie sie zum Beispiel bei einer Tumorerkrankung, bei Rheuma, nach Operationen und unter der Geburt auftreten. In China zum Beispiel werden werdende Väter angeleitet, ihre Frauen vorbereitend auf die Entbindung zu massieren. Es zeigte sich, dass dadurch nicht nur weniger Schmerzmittel während der Geburt verbraucht wurden, sondern auch postnataler Depressionen zurückgingen. Auch bei Fatigue, also außerordentlicher Müdigkeit, bei Stress und Angst kann Berührung Betroffenen helfen.

Bruno Müller-Oerlinghausen erlebt eine große Resonanz auf die therapeutischen Möglichkeiten von Berührung, vor allem von Physiotherapeuten und Pflegepersonal aus Pflegeheimen, aus der Geriatrie, aus psychiatrischen und neurologischen Kliniken, aus der Palliativmedizin und von Hebammen. Sie alle besuchen entsprechende Weiterbildungen mit großem Interesse und berichten von Erfolgserlebnissen in ihrer beruflichen Praxis.

Trotzdem fasst die professionelle Berührung als Therapie im klinischen Alltag nur schwer Fuß. Vor allem bei Erkrankungen, bei denen die Psychotherapie, besonders die analytische Psychotherapie im Vordergrund steht, würde überwiegend vom Kopf her gedacht, und nicht über den Körper, so Müller-Oerlinghausen. In dieser Hinsicht wünscht er sich mehr Dialog, um das Potenzial der alternativen Therapieform nutzen zu können. Ein weiteres Problem sieht er darin, dass die Methoden trotz entsprechender Gutachten und einer Reihe weiterer vorliegender Studien von den Krankenkassen nicht anerkannt und demzufolge auch nicht finanziert werden. Für psychiatrische Erkrankungen zum Beispiel ist im deutschen Heilmittelkatalog überhaupt keine physische Therapie vorgesehen.

Wie wirksam sind Berührungen? Weitere Studien sind nötig

Um das zu ändern, seien weitere Studien mit verbesserter Methodik nötig, räumt Müller-Oerlinghausen ein. Unter anderem dafür hat er gemeinsam mit anderen Forschenden auf dem Gebiet die Deutsche Gesellschaft für Berührungsmedizin gegründet. Ziel der Arbeitsgruppe ist es aber auch, die Erkenntnisse, die es bereits gibt, stärker in den Fokus des klinischen Alltags zu rücken.

Nachholbedarf sieht er zum Beispiel im Hinblick auf die Leitlinien, die die Anwendung bestimmter Therapien und ihrer Finanzierung bestimmen. "Die zuständigen Experten kennen die existierende wissenschaftliche Literatur dazu nicht", kritisiert der Psychiater und er ergänzt, möglicherweise interpretierten sie darüber hinaus die Ergebnisse aus einer anderen Perspektive, und zwar aus einer rein neurobiologischen, die allein die Befunde aus MRT oder Blutbild berücksichtigt und nicht das Allgemeinbefinden des Patienten im Zusammenspiel von Körper und Seele, von Physis und Geist.

Berührungsmedizin - eine neue Disziplin?

Das Potenzial dazu sehen Bruno Müller-Oerlinghausen und seine Kollegen durchaus. Denn Berührung an sich sei vom Beginn bis zum Ende unseres Lebens von großer Bedeutung. Im Hinblick auf die Versorgung zu früh geborener Babys müsse man heute niemanden mehr überzeugen; die "Känguru-Methode", also möglichst viel Körperkontakt zu haben, sei heute auf den Frühchenstationen etabliert.

Und auch in der Palliativmedizin und im Hospizdienst wüssten Ärzte und Pfleger um die wohltuende, schmerzlindernde und beruhigende Wirkung von Berührung für die Patienten. "Die Berührungsmedizin ist nicht auf ein einziges medizinisches Fachgebiet beschränkt, sondern stellt vielmehr ein interdisziplinäres Unterfangen mit weitreichenden anderen Einsatzmöglichkeiten insbesondere auch innerhalb der Pflege dar", so der Vorsitzende der Deutschen Fachgesellschaft.

Er sieht in der Etablierung der Berührungsmedizin die Chance zu einem Paradigmenwechsel im Gesundheitswesen, der die tiefgreifende Bedeutung der Berührung für die Förderung einer ganzheitlich gedachten Gesundheit anerkennt. Ob Berührungsmedizin wirklich eines Tages als eigene Disziplin anerkannt sei, könne man heute noch nicht sagen. Wichtig sei jedoch, auf dem Gebiet weiter zu forschen, die vorhandenen Potenziale zu nutzen und damit die Behandlungsergebnisse für die Patienten zu verbessern.

Hände 45 min
Hände Bildrechte: MDR/Hoferichter & Jacobs
45 min

Ohne Berührung kann sich ein Neugeborenes nicht gesund entwickeln. Wer lange Zeit an Berührungsmangel leidet, psychisch oder physisch isoliert ist, wird krank. Auch Schimpansen pflegen Freundschaften.

MDR Wissen Mo 24.05.2021 22:35Uhr 44:46 min

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Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Der Nachmittag | 10. April 2024 | 15:30 Uhr

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