Fragen & Antworten Obdachlose besonders von Corona-Krise betroffen
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06. April 2020, 16:23 Uhr
Gerade die ärmsten Menschen leiden am meisten unter der Corona-Krise. Neue Studien zeigen, welche Probleme Wohnungs- und Obdachlose derzeit haben - und wie ihnen geholfen werden kann. MDR Wissen beantwortet die wichtigsten Fragen dazu.
Inhalt des Artikels:
- Warum sind Obdachlose besonders gefährdet, sich mit Corona zu infizieren?
- Warum sind Vorerkrankungen so gefährlich für Obdachlose?
- Welche Vorerkrankungen finden sich besonders oft bei Obdachlosen?
- Welche Rolle spielen Not- und Sammelunterkünfte?
- Welche Daten gibt es aktuell zu den Wohnungslosen bei COVID-19?
- Was ist mit obdachlosen Kindern und Jugendlichen?
Warum sind Obdachlose besonders gefährdet, sich mit Corona zu infizieren?
Die naheliegende Antwort: Weil sie keinen Rückzugsort haben. "Wir bleiben zu Hause" ist keine Möglichkeit für Menschen, die kein Zuhause haben. Und das sind allein in Deutschland Hunderttausende. 2018 waren laut Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe rund 678.000 Menschen in Deutschland wohnungslos, 50.000 davon galten als obdachlos.
Eine besonders große Gruppe innerhalb der Wohnungslosen stellen anerkannte Flüchtlinge dar, deren Zahl rund 441.000 betrug. Hierbei handelt es sich aber nur um die offiziellen Angaben. Sozialverbände gehen von einer wesentlich höheren Dunkelziffer an Wohnungs- und Obdachlosen aus.
Hilfsangebote wurden eingestellt
Ein zentrales Problem von Wohnungs- und Obdachlosen ist, dass sie häufig keinen oder nur stark eingeschränkten Zugang zur sanitären Versorgung haben. Auch die vielfach geforderte soziale Distanz ist in Mehrbettzimmern nicht einzuhalten. Zudem sind viele Tagestreffs mittlerweile geschlossen, mobile Hilfsangebote wie Kältebusse wurden eingestellt, Essensausgaben zugemacht, und über stationäre Einrichtungen wurden Aufnahmestopps verhängt.
Darüber hinaus steigt auch bei den Mitarbeitern der Obdachloseneinrichtungen die Zahl der Krankschreibungen, und ehrenamtliche Helfer fallen weg. All das hat den Druck auf die noch offenen Einrichtungen massiv erhöht.
Prekäre Situation für Obdachlose hat sich zugespitzt
Zwar haben mehrere Städte und Gemeinden ihre Unterbringungskapazitäten ausgeweitet, separate Räumlichkeiten für Quarantänefälle angemietet und Teile von Obdachlosenunterkünften zu Isolierstationen erklärt. Dennoch lassen sich die grundlegenden Probleme damit nicht beheben, weshalb die zuständigen Behörden zum Beipsiel in Berlin zu dem Schluss kommen: "Die schon prekäre Lebenssituation obdachloser Menschen hat sich in den vergangenen Wochen weiter zugespitzt." (Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales, Elke Breitenbach).
Neben fehlenden bzw. nicht ausreichenden Sanitäranlagen, gibt es aber auch ganz alltägliche Probleme. Viele Obdachlose haben vor der Coronakrise Flaschen gesammelt oder Straßenzeitungen verkauft. Diese Möglichkeiten sind jetzt weitgehend weggefallen. Auch haben viele von ihnen öffentliche Einrichtungen wie Bibliotheken genutzt, z.B. um dort ins Internet zu gehen, sich über behördliche Anweisungen zu informieren, Mobiltelefone zu laden oder sich einfach nur aufzuwärmen. Durch die Schließung nahezu aller öffentlichen Einrichtungen sind diese Möglichkeiten weitgehend weggefallen.
Viele Obdachlose haben Vorerkrankungen
Zudem mangelt es den Wohnungs- und Obdachlosen an medizinischen Versorgungsangeboten. Wohnungslose werden seltener auf Krankheiten getestet, auch größere Ausbrüche und Übertragungsketten werden dadurch oft nur spät oder gar nicht erkannt. Das ist besonders problematisch, da viele Wohnungslose keinen guten medizinischen Allgemeinzustand haben und oft Vorerkrankungen aufweisen, die nicht selten unbehandelt sind. Hinzu kommt das fortgeschrittene Alter vieler Betroffener. Knapp ein Viertel der Obdachlosen in Deutschland sind 50 Jahre oder älter.
Das mag auf den ersten Blick nicht viel erscheinen, doch zum einen sind in diese Berechnung die große Zahl der meist jungen wohnungslosen Flüchtlinge mit eingerechnet. Zum anderen erreichen viele Obdachlose das 50. Lebensjahr gar nicht. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Obdachlosen liegt in Deutschland bei gerade mal 49 Jahren. Dies liegt auch an dem oft langjährigen Konsum von Drogen, Alkohol und Nikotin, was wiederum viele Vorerkrankungen mit sich bringt, was mit Blick auf Corona zu neuen Problemen führt. Auch zeigen viele Obdachlose ein geringes Wissen über die Gefahren einer Infektion sowie eine gewisse Sorglosigkeit gegenüber einer möglichen Corona-Erkrankung.
Warum sind Vorerkrankungen so gefährlich für Obdachlose?
Covid-19 ist eine Infektionskrankheit, die die Atemwege befällt. Menschen mit Vorerkrankungen, besonders solchen der Atemwege, sind deshalb besonders gefährdet. Zwar haben laut Angaben des Lungeninformationsdienstes die meisten Covid-19-Patienten – auch die mit einer bereits vorhandenen Atemwegserkrankung – im Verlauf ihrer Infektion mit dem Coronavirus nur milde Symptome gezeigt und sich vollständig von der Infektion erholt. Dennoch sind Menschen mit einer Atemwegserkrankung besonders gefährdet, da bei ihnen das Risiko einer schweren Infektion erhöht ist und die Erkrankung auch häufiger tödlicher verläuft.
Gerade Wohnungs- und Obdachlose, die - verglichen mit dem Rest der Bevölkerung - überproportional oft Vorerkrankungen haben, zählen diesbezüglich zur Hochrisikogruppe. Dies umso mehr, weil der Anteil von Nikotin-, Alkohol- und Drogenabhängigen in dieser Gruppe signifikant höher ist als im Rest der Bevölkerung, was - neben den genannten sozialen Problemen - die vorhandenen Krankheitsbilder noch weiter verschärft. Daten aus den USA zeigen, dass Wohnungslose schwere und chronische Krankheiten oft 10-15 Jahre früher als nicht-wohnungslose Menschen bekommen.
Welche Vorerkrankungen finden sich besonders oft bei Obdachlosen?
Zahleiche Studien haben gezeigt, dass vor allem Lungenerkrankungen unter Wohnungs- und Obdachlosen weit verbreitet sind. Daten aus Hamburg aus den Jahren 2007 bis 2015 ergaben, dass von 263 untersuchten Wohnungslosen fast 38 Prozent an einer Erkrankung der Lunge litten. Eine Untersuchung aus den USA aus dem Jahr 2019 wies für fast ein Drittel der Wohnungslosen chronische Lungenerkrankungen nach, und eine 2019 in Großbritannien erstellte Studie kam zu ähnlichen Ergebnissen. Von 1.336 untersuchten Wohnungslosen litten hier rund 14 Prozent an einer Chronisch Obstruktiven Lungenerkrankung (COPD).
Daten aus den USA zeigen zudem, dass die Gefahr einer COPD bei Obdachlosen zwei bis drei Mal höher ist als beim Rest der Bevölkerung. Daten, die zwischen 2002 und 2006 in Kanada erhoben wurden, gehen sogar von einem noch deutlich höheren Risiko aus. Sie zeigen, dass Pneumokokken, die bei Erwachsenen der häufigste Grund für Lungenentzündungen sind, bei Wohnungslosen bis zu 27 Mal häufiger auftauchen als bei Nicht-Wohnungslosen. Für die Tuberkulose sind die Daten ähnlich, weshalb nach Ansicht von Mario Raviglione, der von 2003 bis 2017 das Tuberkuloseprogramm der WHO leitete, die Wohnungslosen in den reichsten Staaten zu einer am meisten gefährdeten Gruppen gehören.
Viele Obdachlose haben keinen Versicherungsschutz. Von den rund 80.000 Menschen, die in Deutschland ohne Krankenversicherung leben, ist ein Großteil obdachlos. In den USA sind alleinstehende Erwachsene, die unter der Armutsgrenze leben, zwar über das Medicaid-Programm versichert. Allerdings haben 14 Bundesstaaten die entsprechende Änderung von Obamacare nicht übernommen. Im Ergebnis sind dort zwei Drittel der Obdachlosen nicht krankenversichert. Aber auch in den teilnehmenden Bundesstaaten gibt es große Versorgungslücken, da auch in ihnen fast ein Viertel der Obdachlosen keinerlei Versicherungsschutz besitzt.
Welche Rolle spielen Not- und Sammelunterkünfte?
Das Risiko, sich in einer Not- oder Sammelunterkunft mit dem Coronavirus anzustecken, ist groß. Dies liegt zum einen an der räumlichen Enge, zum anderen daran, dass gemeinsam genutzte Gegenstände in den Einrichtungen zur Verbreitung der Krankheitserreger beitragen. Für das Coronavirus selbst gibt es hierfür noch keine validen Daten. Aber eine Studie, die 2019 in Obdachlosenunterkünften von Seattle, einer der aktuellen Hochburgen der Coronaerkrankungen in den USA, durchgeführt wurde, konnte die Übertragungswege rekonstruieren. Das größte Problem waren dabei die Matratzen, die im Laufe der Zeit von verschiedenen Wohnungslosen zum Schlafen und Ruhen benutzt wurden. Die Forscher kamen zu dem Schluss, dass vor allem Influenza übertragen wurde, wobei auch hier Menschen mit Vorerkrankungen der Atemwege besonders stark betroffen waren.
Dennoch versuchen sowohl in Deutschland, als auch in den USA und anderen Ländern Sozialarbeiter und Polizisten möglichst viele Menschen, die permanent auf der Straße leben, in die Obdachlosenunterkünfte zu holen oder sie in neu angemieteten Hotels und Pensionen unterzubringen. Die Maßnahmen sind unter Sozialarbeitern und Forschern jedoch umstritten. Zwar bieten Unterkünfte Sanitäranlagen zum Händewaschen und zur Desinfektion, bessere Möglichkeiten für medizinische Betreuung, Überwachung und Tests sowie die Versorgung mit Lebensmitteln und sauberer Kleidung. Die geforderte soziale Distanz lässt sich jedoch häufig besser auf der Straße, in Parks oder U-Bahn-Schächten herstellen, zumal viele Obdachlosenunterkünfte durch die Corona-Krise stark überfüllt sind. In den USA wurde der allgemeine Sicherheitsabstand von sechs Fuß für die Unterkünfte auf drei Fuß gesenkt.
Welche Daten gibt es aktuell zu den Wohnungslosen bei COVID-19?
Bisher wurden in Deutschland nur einzelne Fälle von erkrankten Obdachlosen bekannt. Gleiches gilt für die USA, wo bisher drei Tote nachweislich obdachlos waren. Hinzu kommen einige hundert Infizierte, die in den Gemeinschaftsunterkünften isoliert wurden bzw. sich außerhalb dieser selbst isoliert haben. Eine erste, auf allgemeinen Corona-Pandemieszenarien basierende Schätzung geht davon aus, dass sich allein in den USA rund 22.000 Obdachlose infizieren werden. Rund 7.000 von ihnen werden eine intensivmedizinische Betreuung benötigen, etwa 3.500 werden laut der Schätzung an Covid-19 oder dem verschärften Ausbruch einer Vorerkrankung sterben.
Was ist mit obdachlosen Kindern und Jugendlichen?
Sie sind eine häufig vergessene Gruppe. In Deutschland gelten rund 19.000 Kinder und minderjährige Jugendliche als obdachlos, allerdings sind in dieser Zählung Geflüchtete nicht mit inbegriffen. In den USA gehen die Behörden und Sozialdienste von bis zu 2,5 Millionen Betroffenen aus. Etwa die Hälfte von ihnen lebt in wohnungslosen Familien. Die Coronakrise stellt sie vor ganz besondere Probleme. Ein Großteil der Kinder aus diesen Familien geht ganz regulär zur Schule oder besucht eine Kindertagesstätte. Dadurch sind diese Kinder und Jugendlichen einen Großteil des Tages abgesichert, erhalten Bildung, Essen und Unterkunft. Durch die Schließung fast aller Schulen und Kitas fallen diese Möglichkeiten jetzt weg. Das führt dazu, dass ein Teil der Familien, die sonst auf der Straße leben, jetzt in die Wohnunterkünfte für Obdachlose drängen, wodurch die dort bereits existierenden Probleme weiter verstärkt werden. Da viele Unterkünfte Angst haben, dass die Kinder das Coronavirus mitbringen, wurden bereits zahleiche Familien abgewiesen.