Gesundheitswesen Im Verteidigungsfall: Worauf muss das deutsche Gesundheitswesen vorbereitet werden?
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03. Mai 2024, 10:45 Uhr
Deutschland muss laut Verteidigungsminister Boris Pistorius wieder kriegstüchtig werden. Das umfasst nicht nur die Truppen selbst. Auch das Gesundheitssystem muss für den NATO-Bündnisfall adäquat ausgestattet werden.
Der Krieg ist seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine wieder zurück in Europa. Er ist kein theoretisches Konstrukt mehr. Und in diesem Kontext verändert sich auch die Planung der NATO. Diesbezüglich soll auch Deutschland wieder kriegstüchtig werden.
Laut Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius geht es bei all diesen Überlegungen darum, Stärke zu demonstrieren, damit der tatsächliche Kriegsfall nicht zustande kommt. Und dennoch wird sich auf das Szenario eines zivil-militärischen Landesverteidigungs- und NATO-Bündnisfalls vorbereitet. Dies geschieht durch die Reform des Verteidigungswesens. Aber auch auf Ebene des Gesundheitswesens muss nachjustiert werden. Welche Herausforderungen da auf Deutschland zukommen, wurde auf dem Deutschen Chirurgie-Kongress in Leipzig diskutiert.
1.000 Verletzte pro Tag müssten versorgt werden
Sollten die NATO-Mitglieder im Ukrainekrieg eingreifen müssen, rechnet das theoretische Szenario damit, dass 1.000 Verletzte pro Tag versorgt werden müssten. Dietmar Pennig, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU), glaubt, dass derzeit die Bettenzahl auf militärischer Ebene innerhalb von 48 Stunden ausgeschöpft wäre. Innerhalb von zwei Tagen müssten verletzte Soldaten also auch in zivilen Krankenhäusern und Kliniken behandelt werden.
Da Deutschland in vielen Planungen als Drehscheibe fungiert, spielen die Versorgungsstrukturen nicht nur eine Rolle für die eigenen Einsatztruppen, sondern auch für alliierte Soldatinnen und Soldaten. Worauf muss sich die Bundesrepublik also vorbereiten?
Norbert Weller, Generalstabsarzt der Bundeswehr, sagt, man stehe auch hier vor einer Zeitenwende, denn die europäischen Gesundheitssysteme mussten sich in den letzten 30 Jahren nicht mit der Versorgung mehrerer hundert Kriegsverletzer pro Tag beschäftigen. Es gehöre nicht zur Lebenswirklichkeit, daher sei eine umfassende Strategie erforderlich, was eine gesamtstaatliche Aufgabe sei.
Die Verletzungsmuster haben sich mit der Zeit verändert
In diese Strategie fließen auch die jüngsten Erkenntnisse des Ukrainekrieges ein. So hat man zum Beispiel festgestellt, dass sich Verletzungsmuster verändert haben. Es gibt sehr viele Gefäß- und Amputationsverletzungen.
"Eine Mine in alten Zeiten hat dazu gedient, denjenigen, der auf sie tritt, zu töten. Heute sind sie so konzipiert, dass, ich sag mal 'nur' die unteren Gliedmaßen geschädigt werden, weil dieser Verletzte sofort wieder andere Einsatzkräfte bindet, um ihn oder sie zu retten und in ein geeignetes Krankenhaus zu bringen", führt Pennig aus.
Nun ist es aber so, dass in Deutschland Kriegsverletzungen nicht Teil der chirurgischen Ausbildung sind. In den USA hingegen rotieren laut Pennig pro Jahr 50.000 Ärztinnen und Ärzte in die Militärkrankenhäuser. Das wird staatlich finanziert, gefordert und gefördert. In Deutschland sei das – bislang – undenkbar.
Ist das zivilmedizinische System darauf vorbereitet?
Auf die Frage, wie gut der zivilmedizinische Sektor im Moment auf solch ein Szenario vorbereitet wäre, antwortet Christiane Bruns, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie: "Ich mache mir schon Gedanken, inwieweit in den genannten Häusern, auch den Universitätskliniken das vorhandene Personal die zeitnahe Versorgung der Verletzten in dieser Masse übernehmen soll. Wir sind alle hoch spezialisiert, können Tumoroperationen durchführen, aber die grundsätzliche Versorgung dieser Schwerverletzten bedarf einer großen Menge mehr an Personal." Bruns ist sich sicher, dass jetzt schon erfahrene Chirurgen auf dieses Gebiet umgeschult und jüngere Kollegen grundsätzlich darin ausgebildet werden sollten.
Auch Pennig fordert deutlich mehr Kurse und ein Training der Systeme. "Das heißt, Krankenhäuser müssen einen Tag vom Netz genommen werden können, um solche Szenarien zu trainieren. Das Kostet für ein Krankenhaus der mittleren Größe etwa 100.000 Euro. Diese Finanzmittel werden aber an keiner Stelle bereitgestellt. Das muss aber budgetiert werden, denn sonst leidet die Zivilbevölkerung im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung auf deutschem Boden."
Die Rettungskette eines Verletzten hat viele Glieder
Hinzukommt, dass die ärztliche Versorgung nicht auf dem Gefechtsfeld endet. Die Rettungskette geht von der Notfallversorgung über eine erste chirurgische Versorgung hin zum adäquaten Transport des Verletzen über sehr weite Strecken bis hin zur Weiterversorgung in Deutschland und der anschließenden Reha.
Im Hinblick auf Reha sei Deutschland nur auf dem Papier gut aufgestellt, denn es gäbe zwar mehr als 1.000 Rehaeinrichtungen im Land, aber das, was derzeit in Deutschland in Rehakliniken behandelt wird, stimmt nicht mit dem überein, was aus den Einsatzgebieten erwartet wird, so Weller. Auch hier braucht es also explizit geschultes Personal.
Belastbares Netzwerk, Kooperation und Digitalisierung
Um sich für das Szenario des Bündnisfalls zu wappnen, braucht es laut Weller starke Partner und etablierte Kooperationen. Es brauche ein belastbares Netzwerk sowie neue rechtliche Rahmenbedingungen für die Zusammenarbeit zwischen den Bundeswehrkliniken, den berufsgenossenschaftlichen Kliniken, den Unikliniken und den über 660 Kliniken des Traumanetzwerkes Deutschland. Und nicht zuletzt brauche es auch: "Digitalisierung, Digitalisierung, Digitalisierung - da sind wir noch nicht, wo wir sein sollten", so Weller.
Es muss wieder eine Daseinsvorsorge finanziert werden
Doch wie soll das alles angesichts des Sparkurses im Gesundheitswesen umgesetzt werden? Benedikt Friemert, Oberstarzt am Bundeswehrkrankenhaus Ulm und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) sagt: "Wir müssen wieder dahin kommen, eine Daseinsvorsorge zu finanzieren. Man muss sich damit auseinandersetzen, wie man wieder Vorhaltekosten finanziert. Die Feuerwehr ist ja auch da, für den Fall, dass es mal brennt. Und das wird von der Gemeinschaft bezahlt. Dahin müssen wir im Gesundheitswesen auch wieder kommen."
Das bedeutet, dass wir in Deutschland Rahmenbedingungen schaffen müssen, in denen es Überkapazitäten, also freie Betten, freies Personal, freie Materialien gibt. Das ist die Ausgangslage und nun muss dafür gesorgt werden, dass wir kriegstüchtig werden. Aus zeitlicher Sicht sollte das genauso schnell passieren, wie es dauert, die Bundeswehr kriegstüchtig zu machen. Denn Kriegstüchtigkeit bedeutet eben auch, dass mögliche Verletzte bestmöglich versorgt werden können.
Mehr Informationen und Erfahrungsaustausch nötig
Für manch einen Chirurgen im Vortragssaal des Kongresses erscheint das im Moment unvorstellbar, auch in Hinblick auf die gerade erst durchlebte Pandemie. Eine junge Frau äußert: "Ich persönlich kann den Begriff 'nicht lieferbar' nicht mehr hören. Wir haben ja jetzt schon zum Teil Probleme, ganz normale Standardmedikamente anzubringen und müssen irgendwelche Ersatzmedikamente benutzen. Ich weiß nicht, wie man sich das dann in einer noch schwierigeren Situation vorstellt."
An Vorstellungskraft fehlt es auch Christiane Bruns noch: "Die rein politisch, militärischen Dinge, die sind mir nach wie vor unvorstellbar. Das sage ich ganz ehrlich, weil ich pazifistisch groß geworden und im Frieden erzogen worden bin." Daher betont Bruns in ihrem Schlussstatement, wie unheimlich wichtig es jetzt ist, mehr in den Erfahrungsaustausch zu gehen, Informationen darüber zu geben, wie sich aufgestellt werden muss und alles in die Praxis umgesetzt wird.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 30. April 2024 | 13:17 Uhr
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