Gefahr in der Ostsee? Extrem selten tödlich: Warum wir Vibrionen trotzdem ernst nehmen müssen
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02. August 2021, 12:10 Uhr
Es gibt Vibrionen in der Ostsee. Die Bakterien haben offenbar auch in diesem Jahr bereits für mindestens eine Infektion gesorgt. Die Behörden warnen. Im schlimmsten Fall kann das tödlich enden. Aber wie groß ist die Gefahr wirklich?
Die Zahl scheint niedrig, angesichts von 7,15 Millionen Badegästen allein im Jahr 2020: 69 Fälle, in denen Menschen sich mit Vibrionen ansteckten, in den vergangenen 18 Jahren. Neun Menschen mit relevanten Vorerkrankungen (Diabetiker und Menschen mit geschwächtem Immunsystem) sind daran gestorben, so das Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lagus) von Mecklenburg-Vorpommern. In diesem Jahr hat sich ein 80-Jähriger Mann aus Mecklenburg-Vorpommern infiziert.
Alles nur ein Hype, wie bei Haiangriffen?
Also ist es mit Vibrionen ähnlich wie mit Haiattacken, es gibt extrem wenige, aber die mediale Aufmerksamkeit ist hoch? Im Fall der Haiattacken mag das stimmen. Davon gab es weltweit im vergangenen Jahr 57, zehn davon endeten tödlich. Eine gleichbleibend niedrige Zahl, sogar Selfies sind tödlicher. Und die Vibrionen? Hier ist der Fall etwas anders, deren Zeit beginnt gerade erst. Denn der Ostsee, dem bei Touristen beliebten Binnenmeer, steht ein dramatischer Wandel bevor.
Prof. Dr. Ulrich Bathmann ist Meeresforscher am Leibniz-Institut für Ostseeforschung Warnemünde (IOW). Er kennt die Entwicklung, die sein Institut in einem Szenario erstellt hat. Dabei gingen die Forscher davon aus, "dass die Entwicklung des Klimagases CO2 in der Erdatmosphäre weiter zunimmt, aber im gedämpften Maßstab", so Bathmann. Aber schon das hätte zur Folge, "dass die Ostsee bis zum Jahr 2100 um mehrere Grad, also zwei, drei Grad wärmer werden wird und damit auch die Periode im Sommer länger wird, in denen das Ostsee-Wasser über 20 Grad ist".
Warmes Wasser, mehr Badespaß?
Ostsee statt Mittelmeer? Klingt doch nicht schlecht. Die weggefallenen Fahrtkosten in CO2 wären sicher gut für die Umwelt, zumindest in Mitteldeutschland. Weiter südlich ändert sich das schnell. So sind es von München an die Ostsee fast 800 Kilometer – von dort an die Adria nur 450. Und das ist nicht das eigentliche Problem. Kommen wir also zurück zur Ostsee, wo die Erwärmung bedeutet, dass die natürliche Bakterienflora aus dem Gleichgewicht gerät. Und da sind wir wieder bei den Vibrionen. Für einige von ihnen, wie die Sepsis-auslösende Vibrio vulnificus, sind 20 Grad die Temperatur, ab der sie sich am liebsten vermehren.
"Es gibt etwa 130 Vibrioarten, von denen etwa zehn Prozent pathogen sein können", sagt Prof. Dr. Matthias Labrenz, Mikrobiologe am IOW. "Und hier in der Ostsee sind es vor allen Dingen Vibrio Parahaemolyticus, Vibrio Vulnificus und Cholera, allerdings nicht dieser Choleraerreger, wie wir ihn kennen, sondern ein etwas weniger aggressiver Stamm."
Durch den Anstieg der Wassertemperaturen hat sich seit den 1980er-Jahren die Anzahl der Tage, an denen diese Bakterien aktiv sind, verdoppelt. 2018 waren es 107 Tage. Außerdem werden die Erreger auch durch invasive Fische verbreitet, wie die aus dem Schwarzen Meer eingeschleppte Schwarzmundgrundel. Die hat die Forschung mittlerweile als den Superspreader für Vibrionen ausgemacht. Übrigens: Im teilweise wärmeren Atlantik und Mittelmeer ist der Salzgehalt mit über drei Prozent vielerorts zu hoch für Vibrionen.
In der Ostsee können sie sich hingegen ungestört ausbreiten – und gerade Vorerkrankten gefährlich werden. Über ein geschwächtes Immunsystem oder eine offene Wunde können die Bakterien leichter in den Körper eindringen. Für gesunde Menschen sind die Vibrionen dagegen ungefährlich.
Symptome erkennen, schnell handeln
Gelangen die Vibrionen dann durch eine Wunde in den Körper, können sie zu einer Sepsis, einer Blutvergiftung, führen. Dann muss schnell gehandelt werden: Antibiotika helfen, notfalls müssen befallene Körperteile amputiert werden. Damit es gar nicht so weit kommt, sollten alle die Symptome kennen, rät Heiko Will, Direktor des Landesamtes für Gesundheit und Soziales in Rostock:
Sowas wie Schüttelfrost, Fieber, Krämpfe und so weiter. Aber Voraussetzung für eine Infektion ist immer, dass man immunschwach ist.
Die ersten Symptome zeigen sich übrigens wenige Stunden nach der Infektion. Wer Vibrionen zum Beispiel durch den Mund aufnimmt, weil er Wasser geschluckt hat oder kontaminierte Meeresfrüchte gegessen hat, reagiert mit Brechdurchfällen, Fieber und Schüttelfrost. Auch Rötungen und Schwellungen gehören dazu und Blasenbildung auf der Haut. Wer all das beobachtet: Sofort zum Arzt und unbedingt erwähnen, dass man im Wasser war. Grundsätzlich aber, sagt Heiko Will, ist das Baden in der Ostsee weiter ohne Einschränkung möglich: "Wir sind ja dankbar über gute Sommer und über 20 Grad und mehr in der Ostsee. Allein dass es Bakterien in der Ostsee gibt, ist noch kein Hinweis darauf, dass die Ostsee verseucht wäre."
Es ist ein natürliches Gewässer und in natürliche Gewässer gehören auch Bakterien. Ansonsten müssten Sie in gechlortem Wasser in einer Schwimmhalle baden.
Können natürliche Ingenieure helfen?
Und dieses natürliche Gewässer hat auch das Potential, die Vibrionen zu bekämpfen – mit etwas Hilfe von uns. Daran arbeiten Leibniz-Mikrobiologe Labrenz und Forschende aus weiteren sechs Ostseestaaten. BaltVib heißt das Projekt, das im Mai 2021 an den Start gegangen ist. Es erforscht unter Leitung des IOW, ob spezielle Pflanzen- und Tiergesellschaften wie Seegraswiesen und Muschelbänke die Vibrionen-Belastung in Küstennähe auf natürliche Weise senken und wie dieser Effekt durch Umweltgestaltung aktiv unterstützt werden kann. "Ökosystemingenieure" nennen die Forscher diese Lebensräume mit hoher Biodiversitätn, denen es offenbar gelingt, gefährliche Vibrio-Arten im Zaum zu halten.
"Die besondere Stärke von BaltVib liegt darin, dass das gesellschaftlich hochrelevante Thema ‚Klimawandel und Vibrionen‘ erstmals für den gesamten Ostseeraum und darüber hinaus auch disziplinenübergreifend – gemeinsam von Mikrobiologie, Molekularbiologie, Meeresökologie und Sozioökologie – bearbeitet werden kann. Und auch die zukünftigen Anwender von praxisnahen Lösungsansätzen sind von Anfang an mit im Boot", so beschrieb es Projektleiter Prof. Dr. Matthias Labrenz beim Start.
(HD,UM,AS,gp)
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