Corona-Infektionen US-Forscher: "Herdenimmunität zur Bekämpfung der Pandemie unrealistisch"

27. Oktober 2020, 09:18 Uhr

Wer auf die Immunität der Bevölkerung setzt, um selbst vor Corona geschützt zu sein, macht sich falsche Hoffnungen. US-Forscher rechnen vor: Eine Herdenimmunität verlange hohe Impfraten, das sei derzeit unrealistisch. Der individuelle Schutz bleibe deshalb die oberste Priorität.

Der Herbst ist angebrochen und die Corona-Infektionszahlen schnellen deutschlandweit nach oben. Verschiedene Impfungen sind in der Entwicklung, die Menschen erwarten ihre Anwendung mit Hochdruck. Impfskeptiker glauben allerdings, dass eine rasche Durchinfektion der Gesellschaft das Problem löst. Wenn alle das Virus gehabt und eine eigene Immunantwort dagegen aufgebaut haben, gibt es den sogenannten Herdenschutz. US-Forscher dämpfen die Hoffnung darauf jetzt allerdings in einer neuen Studie. Sie sehen eine Herdenimmunität gegen das Corona-Virus noch in weiter Ferne. Das schreiben Saad B. Omer, Direktor des Yale Institute for Global Health, und seine Forscherkollegen in einem Aufsatz.

Für Herdenimmunität in USA müssten 198 Millionen Menschen immun sein

Als Beispiel führen die Wissenschaftler die Situation in den USA mit vielen Infizierten heran. Um dort die Herdenimmunitätsschwelle von etwa 60 Prozent zu erreichen, müssten nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation etwa 198 Millionen der 330 Millionen Einwohner immun sein. "Geht man davon aus, dass bisher weniger als zehn Prozent der Bevölkerung für etwa zwei bis drei Jahre immun sind, ist eine Herdenimmunität zur Bekämpfung der Pandemie zum jetzigen Zeitpunkt nicht realistisch", schreiben die Forscher.

Herdenimmunität
Von Corona bis Ebola: Diese Herdenimmunität ist nötig, um die jeweiligen Krankheiten zu bekämpfen. Bildrechte: American Medical Association

Herdenimmunität ist auf soziale Durchmischung angewiesen

Den Wissenschaftlern zufolge besteht eine weitere Schwierigkeit für das Entstehen einer Herdenimmunität: Die avisierten Schwellenwerte gingen von einer zufälligen Vermischung zwischen Individuen in einer Population aus. Kurz: Nur wenn Individuen viel miteinander agieren, können sie sich gleichmäßig infizieren und dabei einen Immunschutz aufbauen.

Verkehren die Menschen jedoch in getrennten und abgeschlossenen gesellschaftlichen Kreisen, erschwere das die Ausbreitung und damit den daraus resultierenden Infektionsschutz einer Bevölkerung. "Das tägliche Leben ist kompliziert. Die Menschen vermischen sich nicht zufällig", erklären die Wissenschaftler. Während einige Menschen viel interagieren, seien andere nur in ihren festen Kreisen unterwegs. Bislang bestehe jedoch "Unsicherheit hinsichtlich der genauen Auswirkung der sozialen Durchmischung auf die Corona-Herdenimmunität."

im Bild eine Schafherde auf den Poller Wiesen.
Für eine Herdenimmunität ist eine Gesellschaft auf Durchmischung angewiesen. Bildrechte: imago images/Future Image

Die Forscher schätzen den Schwellenwert für eine Corona-Herdenimmunität auf 50 bis 67 Prozent ein. Mindestens die Hälfte der Bevölkerung müsste also gegen Corona immun sein, um eine Herdenimmunität zu erzeugen.

Hohe Impfraten erforderlich

Individuelle Immunität kann jedoch nicht nur durch die Krankheit selbst, sondern auch durch Impfungen entwickelt werden. Derzeit sind viele davon in der Entwicklung. Doch selbst, wenn es schon Impfungen gäbe, sehen die Wissenschaftler verhaltene Aussichten auf die Herdenimmunität. "Die Impfstoffe müssen nicht nur wirksam sein", erklären Saad B. Omer und Kollegen. "Die Impfprogramme müssen auch effizient sein und auf breiter Basis angenommen werden."

Herdenimmunität Herdenimmunität oder auch Gemeinschaftsimmunität besteht, wenn ein ausreichend großer Anteil der Menschen einer Gemeinschaft immun ist. Infizierte können so die Epidemie nicht mehr weiter befördern, weil der Kontakt zu empfänglichen Personen fehlt. Die individuelle Immunität kann durch eine natürliche Infektion oder durch Impfung erworben werde.

Der Begriff Herdenimmunität entstand  in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In dieser Zeit stiegen die Diskussionen über die Ausrottung von Krankheiten und Kosten-Wirksamkeits-Analysen von Impfprogrammen sowie die Notwendigkeit einer Durchimpfung. Die Ausrottung der Pocken gilt als ein Erfolg für Herdenimmunität und den Triumph einer internationalen Impfstrategie.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts starben Schätzungen zufolge etwa 400 Millionen Menschen an Pocken. Im Jahr 1977 infizierte sich Ali Maow Maalin aus Somalia als letzter Mensch, der auf natürlichem Wege von der Krankheit heimgesucht und offiziell gemeldet wurde. Zwei Jahre später gab die Weltgesundheitsorganisation die Ausrottung der Pocken bekannt.

Schwellenwert der Herdenimmunität Um eine Herdenimmunität zu definieren, muss ein Schwellenwert festgelegt werden. Er beschreibt den Anteil der Menschen, die mit ihrer Immunität nicht mehr an der Übertragungskette teilnehmen können. Ist der Schwellenwert erreicht, wird die Übertragung des Erregers unterbrochen.

Im einfachsten Modell hängt die Schwelle der Herdenimmunität von der Basis-Reproduktionszahl ab. (R0 = die durchschnittliche Anzahl von Personen, die von einer infizierten Person in einer vollständig empfänglichen Population infiziert wurden). Die effektive Reproduktionszahl schließt teilweise immunisierte Personen ein und berücksichtigt dynamische Veränderungen des Anteils empfänglicher Individuen. Diese Veränderungen können zum Beispiel während eines Ausbruchs oder nach Massenimpfungen auftreten.

Hochgradig übertragbare Erreger wie beispielsweise Masernviren haben einen hohen R0-Wert (12-18). Hier muss ein hoher Anteil der Bevölkerung immun sein, um die Übertragung zu verringern und eine Herdenimmunität zu bekommen.

Seit Beginn der Corona-Pandemie wurde in den meisten Studien geschätzt, dass der R0-Wert von SARS-CoV-2 im Bereich von 2 bis 3 liegt. Unter der Annahme, dass es keine Immunität der Bevölkerung gibt und dass alle Individuen gleich anfällig und gleich infektiös sind, würde der Schwellenwert der Herdenimmunität für Corona voraussichtlich zwischen 50 und 67 Prozent liegen.

kt

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