Gesellschaft extrem Wenn der Extremsport zum Normalzustand wird

24. September 2024, 10:31 Uhr

Wenn schon, denn schon: Während die WHO warnt, dass mehr als die Hälfte aller Europäer zu dick ist, und ein Krankenkassen-Report den Deutschen den Bewegungsmuffel-Stempel verpasst hat, boomen ganz im Gegensatz dazu Extremsportarten. Man hat das Gefühl, dass diejenigen, die Sport machen, es gleich auf die Spitze treiben: Ein Marathon reicht nicht mehr, da muss es schon der Ultra-Trail sein, beim Bergsteigen am liebsten gleich ein 8.000er und beim Skifahren bringt einen der Helikopter in den Tiefschnee. Neigen wir etwa auch in unserer Freizeit zum Extremen?

Wann wird Sport extrem?

Wann ein Sportler die Grenze zum Extremen überschreitet, ist kaum objektiv zu beurteilen. Während für den Laien manch eine Sportart schon beim bloßen Anblick viel zu extrem erscheint, schätzen aktive Sportler die Risiken und Gefahren womöglich ganz anders ein.

Bei vielen gängigen Sportarten wie Laufen, Klettern, Tauchen oder Skifahren könnte man den Punkt festmachen, an dem man nicht mehr zu der Masse der Sportler gehört, sondern zu einer Elite, die eben die mehrfache Marathondistanz läuft. Doch zu solchen Gruppen wollen offenbar immer mehr Freizeitsportler aufschließen: Den Social-Media Accounts von Ultra-Läufern und anderen Extremsportlern folgen zehntausende Menschen und zahllose Freizeitsportler teilen ihre eigenen Trainingsbemühungen.

Je mehr Menschen damit anfangen, ihren Freizeitsport auf die Spitze zu treiben, desto mehr verschiebt sich auch die Grenze zum Normalzustand. Was wir als "normal" oder "extrem" empfinden, unterliegt einem ständigen Wandel: Warum das so ist, zeigt die Forschung von Psychologie-Professor Joshua Knobe an der Yale University.

Ein Bergsteiger beim Freeclimbing an einer steilen Felswand des Hochstaufens bei Bad Reichenhall
Ganz normal? Freeclimber klettern ohne sichernde Seile. Bildrechte: imago/imagebroker/auth

Er sagt: Normalität ist nur ein Konstrukt unseres Geistes und wir vermischen dafür zwei Urteile über die Welt - unsere Alltagsbeobachtungen, welches Verhalten häufig der Fall ist, und die Vorstellung davon, wie etwas idealerweise sein sollte. Unser Sinn für Normalität ist sozusagen ein Mischung aus gefühlter Statistik und moralischen Vorstellungen, erklärte der Forscher in der New York Times.

Knobes stellt schließlich fest, dass wir auch ungewöhnliches Verhalten immer normaler finden können, je öfter wir damit konfrontiert werden. Kommen wir also in Kreise aus Menschen, für die ein Marathon eine Aufwärmstrecke ist, wird uns das zunehmend normal vorkommen. Ein anschauliches Beispiel für diesen Effekt ist beispielsweise die vegane Ernährungsweise: Kam es den meisten Menschen noch vor wenigen Jahren sehr extrem vor, gar keine tierischen Produkte zu essen, sorgt das heutzutage kaum mehr für Aufregung. Als extrem gelten dagegen Menschen, die sich zum Beispiel nur von Früchten oder Rohkost ernähren.

Gegenentwurf zur kollektiven Anstrengungsvermeidung

Extremsportler bringen ihre Psyche und ihren Körper ganz bewusst an die äußersten Grenzen der möglichen Leistungsfähigkeit. Und nicht selten leiden sie beim meist einsamen Training still vor sich hin, bis der gewünschte Trainingseffekt einsetzt. Aber warum macht man sowas? Der Sportsoziologe Karl-Heinrich Bette von der Technischen Universität Darmstadt beschreibt dieses Verhalten als einen Ausbruch aus dem Normalzustand der Moderne. Denn die krasse Ermüdung, der Schweiß und völlige Verausgabung bei harter körperlicher Arbeit seien in der heutigen Zeit nicht mehr überlebensnotwendig.

Anstrengungen und Entbehrungen sind in dieser Handlungslogik positiv besetzt, weil sie in einer Zeit der körperlichen Anstrengungsminimierung und Leidensvermeidung knappe und außeralltägliche Erlebnishorizonte eröffnen.

Prof. Dr. Karl-Heinrich Bette, TU Darmstadt

Und am Ende ist für Bette der Extremsport auch ein Symptom einer Gesellschaft, die auf einen starken Individualismus ausgerichtet ist. Denn im Extremsport gehe es nicht etwa um Gesundheit, Krankheitsvermeidung und Lebensverlängerung, sondern Extremsportler gefährdeten ihre Gesundheit sogar, weil sie so auf Distanz zum Üblichen gehen und sich selbst Signale der Besonderheit geben könnten. Während der Rest der Gesellschaft der "Anstrengungsvermeidung" frönt, ist das schmerzvolle Training ein Gegenentwurf dazu, so Bette.

In einer Gesellschaft, in der Organisationen Risiken durch strukturelle Vorkehrungen zu entschärfen trachten, erscheinen Extremsportler ihren Mitmenschen als real existierende Chiffren einer verdrängten Welt, in der das wilde und extreme Sein noch seinen Platz hat.

Prof. Dr. Karl-Heinrich Bette, TU Darmstadt

Die Theorie, dass der Risikosport ein Alleinstellungsmerkmal sein soll - gespeist aus dem Wunsch, aus einem überzivilisierten Leben voller Langeweile auszubrechen - teilen viele von Bettes Fachkollegen. Zusätzlich vermuten Psychologen, dass Extremsportler der Nervenkitzel antreibt. Sie werden deshalb auch als "Sensation Seekers" bezeichnet.

Genetisch ganz normal: Der Mensch, der Läufer

Doch gerade beim Laufen reiben sich faule Couch-Potatoes die Augen, wie viele Menschen diese Freizeitbeschäftigung auf die Spitze treiben. Viele aktive Sportler dagegen finden ihr Verhalten gar nicht extrem, sie haben sogar Freude an der Schinderei.

Und ganz unrecht können sie damit nicht haben, denn das Langstreckenlaufen liegt uns sozusagen in den Genen. Wie eine aktuelle Studie von Forschern der University of California in San Diego (UCSD) zeigt, hat eine Gen-Mutation unsere Vorfahren offenbar zu echten Ausdauer-Profis gemacht. Genaugenommen ist das Gen "CMAH" beim Menschen im Vergleich zu anderen Primaten kaputt. Doch das sorgt den Forschern zufolge dafür, dass unsere Beinmuskulatur effektiver und vor allem ausdauernder arbeiten kann als die unserer tierischen Verwandten. Und das wiederum könnte dem Menschen dabei geholfen haben, die Welt zu dominieren.

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 08. August 2018 | 18:05 Uhr