Krankheit Adipositas: Übergewichtige schätzen sich 23 Kilo dünner ein
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30. Dezember 2020, 10:48 Uhr
Menschen mit Übergewicht schätzen sich viel dünner ein, als sie wirklich sind. Das ist das Ergebnis einer Studie von Forschern und Forscherinnen aus Schweden. Sie haben untersucht, wie sich die Wahrnehmung des eigenen Körpers auf die Regulierung des Gewichts auswirken kann.
Wahrnehmung ist bekanntlich eine Frage der Perspektive, Selbst- und Fremdbild stimmen oft nicht überein. Die Wahrnehmung des eigenen Körpers gehorcht dabei besonderen Gesetzen. Dies zeigt sich besonders stark bei Über- und Untergewicht. Magersüchtige Menschen nehmen sich vor dem Spiegel als Normalgewichtige wahr, sie erkennen nicht, wie ausgemergelt sie sind, dass die Knochen hervorstehen und ihr Gesicht einfällt. Die verzerrte Körperwahrnehmung bei Magersucht stellt die Wissenschaftler weltweit noch immer vor große Rätsel.
Doch auch extrem übergewichtige Menschen, fettleibige Menschen scheinen an einer verzerrten Körperwahrnehmung zu leiden. Sie nehmen sich umgekehrt viel dünner wahr als sie wirklich sind. Diese verzerrte Wahrnehmung kann dazu führen, dass adipöse Menschen weniger motiviert sind, abzunehmen. Das ist das Ergebnis einer Langzeitstudie aus Schweden, die gerade auf dem Internationalen Kongress über Adipositas (ECOICO 2020) vorgestellt wurde.
Adipositas (Fettleibigkeit) Laut Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation (WHO) liegen die BMI-Werte bei Normalgewicht zwischen 18,5 und 24,9. Ab einem Body-Mass-Index von 25 spricht man von Übergewicht und ab 30 von Adipositas (Fettsucht).
Über 2.000 adipöse Menschen über zehn Jahre befragt
Die Forscher und Forscherinnen haben über einen Zeitraum von zehn Jahren mehr als 2.000 adipöse Personen befragt. "Menschen mit Adipositas leiden oft unter einer Körperbildverzerrung, da sie dazu neigen, ihre eigene Körperfülle zu unterschätzen", erklärt Autorin Verena Parzer vom Krankenhaus Rudolfstiftung Wien. "Dies führt dazu, dass die Menschen weniger unzufrieden mit dem eigenen Körper sind und infolgedessen auch weniger Motivation haben abzunehmen."
Befragte bestimmten ihre Körperform auf einer Silhouetten-Skala
Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen verglichen die Aussagen der Probanden, ob ein Unterschied in der Körperbildwahrnehmung besteht, zwischen "Gewichtsgewinnern" und "Gewichtserhaltern". Dabei wurden die Teilnehmer jedes Jahr gebeten, ihre eigene Körperfigur mit Hilfe von neun Silhouettenzeichnungen auf einer bestehenden Stunkard-Skala zu bestimmen. Anschließend berechneten die Wissenschaftler den Körperwahrnehmungsindex (BPI). Dabei teilten sie den geschätzten Body-Mass-Index (BMI) durch den tatsächlichen BMI. Von den Befragten waren knapp drei Viertel Frauen im Durchschnittsalter von 49 Jahren. Niemand unter den Studienteilnehmern war mit einer OP der Magen verkleinert worden.
Teilnehmer schätzen sich 21 Kilogramm dünner ein
Die Ergebnisse zeigten, dass sich alle Befragten viel dünner und schlanker wahrnahmen, als sie es eigentlich waren. Diejenigen, die im Befragungszeitraum noch zugenommen hatten, unterschätzen ihr Gewicht besonders signifikant. Schon nach drei Jahren schätzten sie ihre tatsächliche Körperfülle um etwa 21 Kilogramm geringer ein. Das entspricht etwa 7,5 BMI-Einheiten. Wer dagegen Gewicht verloren hatten, verschätzte sich weniger stark, nahm sich aber trotzdem immer noch um etwa 17 Kilogramm (6 BMI-Punkte) dünner wahr.
Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine Verzerrung des Körperbildes mit der Regulierung des Körpergewichts in Verbindung gebracht werden kann.
Die Fehlwahrnehmung der Befragten stieg den Forschern zufolge im Laufe der Studie jedoch nicht überproportional an. Die Fehlwahrnehmung des eigenen Körpers korrigierte sich sogar bei den "Gewichtserhaltern" ein wenig. Sie nahmen sich noch um etwa 15 Kilogramm dünner war. Bei denjenigen, die weiter zunahmen, verschärfte sich jedoch die verzerrte Körperwahrnehmung noch. Sie unterschätzten ihr Gewicht um durchschnittlich acht BMI-Einheiten. Das entspricht insgesamt 23 Kilogramm.
Assoziationen geben keine Hinweise auf Ursache und Wirkung
Autoren räumen ein, dass die Ergebnisse ihrer Studie Assoziationen zeigen. Damit könnten keine Schlussfolgerungen über Ursache und Wirkung gezogen werden. Zudem verwiesen sie, dass die Skalen zur Bewertung der Körperfülle möglicherweise nicht groß genug sind, um Menschen mit schwerer Adipositas darzustellen.
Adipöse Menschen warten lange, ehe sie sich Hilfe suchen
Menschen mit Fettleibigkeit nehmen also nicht nur oft nicht ab, weil sie nicht können. Sie nehmen sich schlichtweg weniger dick wahr, als sie eigentlich sind. Doch es gibt noch einen weiteren Grund, warum es ihnen schwer fällt abzunehmen. Adipöse Menschen warten lange, ehe sie sich Hilfe suchen. Wie die Analyse einer globalen Adipositas-Studie jetzt zeigte, haben Menschen mit starkem Übergewicht in Großbritannien durchschnittlich neun Jahre gewartet, bis sie sich gesundheitliche oder medizinische Hilfe suchten. Das ist länger als im weltweiten Durchschnitt, anderswo gehen die Menschen durchschnittlich schon nach sechs Jahren auf Hilfesuche.
"Die britischen Gesundheitsversorger unterschätzen die Auswirkungen der Adipositas auf die Gesundheit", schreibt das Forscherungsteam in seiner Studie. "Nur wenige glauben zudem, dass ihre Patienten motiviert sind, Gewicht zu verlieren." Zudem sei in Großbritannien die Zeit vom ersten Gespräch bis zur Behandlung überdurchschnittlich lang gewesen. Die verzögerte medizinische Betreuung erhöhe das Risiko für adipöse Menschen, Krankheiten zu entwickeln, noch viel stärker.
"Verständnis und Wahrnehmung von Adipositas müssen sich in der gesamten Gesellschaft ändern", erklären die Autoren. Der Schwerpunkt solle weniger auf die individuelle Verantwortung fokussieren, die Stigmata fördern. Vielmehr sollte sich auch mit den Gründen für Fettleibigkeit beschäftigt werden sowie den Barrieren, die adipösen Menschen beim Abnehmen im Weg stehen.
Adipositas / Fettleibigkeit - eine Epidemie
Adipositas gilt als Zivilisationskrankheit. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat Adipositas bereits epidemische Ausmaße erreicht. Weltweit sterben mindestens 2,8 Millionen Menschen jährlich an den Folgen von Übergewicht und Fettsucht. Nach Schätzungen sind in Europa knapp ein Viertel aller Frauen und Männer adipös. In Deutschland gilt die Hälfte der Erwachsenen als übergewichtig. Fast ein Viertel der Deutschen sind sogar krankhaft übergewichtig.
Auch sind schon 15 Prozent der Kinder und Jugendliche übergewichtig. Sechs Prozent gelten als adipös. Gerade erst hatte die Kaufmännische Krankenkasse vor einem starken Anstieg von Adipositas bei Kindern und Jugendlichen gewarnt. "Wir beobachten diese Entwicklung voller Sorge", hieß es. "Jeder fettleibige Heranwachsende, hat ein hohes Risiko, spätestens als Erwachsener zu erkranken.“
Übergewicht und Adipositas sind laut WHO wichtige Risikofaktoren für eine Reihe chronischer Krankheiten wie Diabetes, Schlaganfall, Krebs, Arteriosklerose, Gicht, Fettleber und Fettstoffwechselstörungen, Rücken- sowie Gelenkerkrankungen. Hinzu komme eine geringere Lebenserwartung ähnlich wie bei Rauchern. Die WHO weist darauf hin, übergewichtige Menschen Vorurteilen und Stigmatisierungen ausgesetzt sind.
In den vergangen Jahren wurde im Zusammenhang mit Adipositas auch immer wieder die weltweite Nahrungsmittelindustrie thematisiert. In vielen Produkten steckten versteckte Zucker und Fette, lautete die Kritik. Zudem ist vor allem einkommensschwachen Menschen oft der Zugang zu gesunden Lebensmitteln erschwert.
(lfw)
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