Multiple Sklerose Digitaler Zwilling als Therapiebegleiter der Zukunft
Hauptinhalt
02. Juni 2021, 08:23 Uhr
Multiple Sklerose ist nicht nur die häufigste neurologische Erkrankung im jungen Erwachsenenalter, sie ist auch die "Krankheit der tausend Gesichter". Bei jedem Patienten zeigt sie sich in unterschiedlichen Facetten und das erschwert die Therapie. In Dresden wird derzeit an einem digitalen Zwilling geforscht, der künftig eine individuellere Behandlung und sogar einen Blick in die Zukunft ermöglichen soll.
Bei Multipler Sklerose (MS) richtet sich das Immunsystem gegen den eigenen Körper. Es treten Entzündungen an verschiedenen Stellen des Zentralen Nervensystems auf: Im Gehirn und im Rückenmark. Wird dadurch die Isolierschicht der Nervenfasern, das Myelin, beschädigt, werden Impulse nicht mehr oder nur eingeschränkt weitergegeben. Die Symptome sind wie die Krankheit selbst vielgestaltig: Sehstörungen, Kribbeln in Händen und Füßen oder Müdigkeit können erste Anzeichen sein. Manchmal treten sie nur vorübergehend auf, manchmal dauerhaft. Der eine Patienten spürt sie kombiniert miteinander, der andere einzeln. Genau das macht es so schwer, jedem Betroffenen eine maßgeschneiderte Therapie zu ermöglichen.
Die Krankheit der tausend Gesichter
Der Neurologe Prof. Dr. Tjalf Ziemssen arbeitet seit 2003 in Dresden mit MS-Patienten. 2006 hat er das MS-Zentrum am Universitätsklinikum Carl-Gustav-Carus gegründet und begleitet seitdem gemeinsam mit seinen Kollegen rund 1.000 Patienten aus ganz Deutschland. Täglich begegnet ihm die Krankheit mit all ihren Gesichtern: "Wir haben Patienten, die haben sehr viele Entzündungsherde im Gehirn. Bei den einen regenerieren sich die Areale sehr gut, bei anderen wiederum wird Nervengewebe dauerhaft zerstört. Dann kommt es auch darauf an, wo die Entzündungsherde sitzen. Treten sie im Halswirbelbereich auf, haben die Betroffenen eine schlechtere Prognose und brauchen eine aggressivere Therapie."
Wie sich eine Multiple Sklerose beim einzelnen Patienten entwickelt, hängt noch von vielen weiteren Faktoren ab. Deshalb wäre eigentlich ein großes Spektrum an Therapiemöglichkeiten nötig, um jedem Erkrankten eine maßgeschneiderte Behandlung zu ermöglichen. Die Palette ist jedoch derzeit noch sehr überschaubar. Das MS-Zentrum am Universitätsklinikum Carl-Gustav-Carus arbeitet deshalb an einer anderen Lösung, um die Patienten dennoch so individuell wie möglich zu begleiten.
Der Digitale Zwilling als MS-Begleiter der Zukunft
Was in der Produktentwicklung bereits ein etabliertes Instrument ist, hält seit einiger Zeit auch in der Medizin Einzug: der Digitale Zwilling, ein virtuelles Abbild eines Patienten. Prof. Dr. Tjalf Ziemssen und seine Kollegen entwickeln jetzt solche Zwillinge für Patienten mit Multipler Sklerose, die sie mit allen Daten "füttern", die die Krankheit des jeweiligen Betroffenen im Detail dokumentieren: Befunde, Werte, Therapieempfehlungen und daraus abgeleitet gegebenenfalls sogar Prognosen.
Jeder Patient kann sich dann in seinen Zwilling einloggen und schauen, was als nächstes für ihn ansteht. Er kann abgleichen, ob es ihm mit der aktuellen Behandlungsroutine gut geht oder ob sich etwas ändern muss.
Damit kommen die Mediziner dem individuellen Behandlungsbedarf auch mit den vorhandenen Therapiemöglichkeiten näher. Langfristig sieht Tjalf Ziemssen darin auch eine Möglichkeit, die Digitalen Zwillinge für Studien zu nutzen. Dafür ist es wichtig, die Krankheit eines jeden einzelnen Patienten möglichst gut zu beschreiben.
Noch ist der digitale Zwilling in der Entwicklungsphase und nicht jede Patient hat ein MS-Kompetenzzentrum wie das des Universitätsklinikums Dresden in der Nähe. Dennoch müssen hierzulande rund 252.000 Betroffene ihr Leben mit MS meistern. Dorothee Hoffmeier ist eine von Ihnen. 2006, im Alter von damals 33 Jahren ging sie mit einem Kribbeln in den Zehen zu ihrem Hausarzt. Innerhalb weniger Tage bekam sie ihre Diagnose: Multiple Sklerose. Ohne weitere Erklärung, ohne Perspektive. Nachdem sie sich in eigener Initiative zu ihrer Krankheit informiert hatte, folgte eine schwere Zeit für sie:
Es war ein gruseliger Gedanke zu wissen, da ist etwas in meinem Gehirn, mein Körper greift sich selbst an. Und man merkt es nicht einmal, wenn man nicht gerade einen Schub hat.
Geholfen hat Dorthee Hoffmeier vor allem ihre positives Lebenseinstellung, so sieht sie es heute. Sie war immer eine leidenschaftliche Joggerin gewesen, hat an Marathonläufen teilgenommen. Als klar wurde, dass das nicht mehr möglich sein würde, ging sie wandern. Und als das nicht mehr möglich war, kaufte sie sich einen Crosstrainer. Inzwischen trainiert sie Pilates, was sie früher nicht ernsthaft für einen Sport gehalten hat. Auf Bewegung im Freien möchte sie nach wie vor nicht verzichten. Eine Unterschenkelorthese unterstützt sie soweit beim Gehen, dass sie immerhin noch eine halbe Stunde spazieren gehen kann. "Das war der Tipp meines Physiotherapeuten. Es ist ein glücklicher Umstand, wenn einen Leute so begleiten wie er.", sagt Dorothee Hoffmeier dankbar.
Der Plan ist, im hier und jetzt zu leben
So mit der Krankheit leben zu lernen, ist ein jahrelanger Prozess gewesen, der ihr auch gezeigt hat: Ein Leben mit Multipler Sklerose kann man nicht planen. Man weiß nicht, ob und wann es den nächsten Schub geben wird. Man weiß nicht, welche Einschränkungen er zurücklassen wird. Oder ob die Krankheit schleichend vorangehen wird. Deshalb versucht Dorothee Hoffmeier ganz im hier und jetzt zu leben.
Die Krankheit hat mich auch stark gemacht. Ich habe gelernt, dass man mit Eigeninitiative viel erreichen kann. Nicht aufgeben, machen, was möglich ist, so lange es geht.
Auch der Austausch mit anderen Patienten hilft ihr sehr. Sie stellt fest: "Diejenigen, denen es am schlechtesten geht, die schon im Rollstuhl sitzen oder am Rollator gehen, die sind immer noch am Besten drauf." Und so genießt sie jeden Tag bewusst und macht, was ihr noch möglich ist, weil sie nicht weiß, wie es vielleicht im nächsten Jahr sein wird. Denn Multiple Sklerose ist immer noch eine unheilbare Krankheit.
Größter Durchbruch ist bislang die Früherkennung
Es wird zwar viel an weiteren Therapiemöglichkeiten geforscht, um Multiple Sklerose aufzuhalten, der größte Durchbruch ist jedoch bislang die Früherkennung. Denn je früher die Diagnose gestellt wird und mit der Behandlung begonnen werden kann, desto besser sind die Aussichten für den Patienten.
Das ist der Siegeszug der bildgebenden Verfahren. Dank der Kernspintomografie können wir die MS heute wesentlich früher erkennen als noch vor 15 Jahren.
Während die Mediziner noch vor einigen Jahren einen weiteren Schub beim Patienten abwarten musste, um eine Diagnose stellen zu können, ist das heute schon viel eher möglich. Prof. Tjalf Ziemssen wünscht sich für seine Patienten einen weiteren Durchbruch und das wäre für ihn ein Medikament, das die Nerven vor den Attacken des eigenen Immunsystems schützt. Das würde auch Alzheimer-, Parkinson-, Schlaganfall- und Traumapatienten helfen. Doch obwohl weltweit intensiv daran geforscht wird, gibt es bislang keine bahnbrechenden Erfolge auf diesem Gebiet.
Dorothee Hoffmeier hofft, dass ihre Erkrankung durch ein modernes Medikament aufgehalten werden kann. Der Wirkstoff Siponimod, der seit Januar 2020 in Deutschland für erwachsenes MS-Patienten zugelassen ist, beeinflusst das Immunsystem. Damit soll verhindert werden, dass das Nervensystem weiter angegriffen wird. Seit September 2020 nimmt Dorothee Hoffmeier die Tabletten. Wie erfolgreich diese Therapie für sie ist, wird sie bei ihrer nächsten MRT-Untersuchung sehen, die in einigen Monaten ansteht.
Not Found
The requested URL /api/v1/talk/includes/html/da2c3b9d-1755-416c-98f6-3780122792be was not found on this server.