Coronavirus Leben mit dem Virus: Blick in die Zukunft mit vier Szenarien
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16. Februar 2022, 17:18 Uhr
Wie es über den Sommer hinaus bestenfalls und schlechtestenfalls mit Corona weitergehen könnte, zeigt ein Expertenbericht aus dem Vereinigten Königreich. Die Überlegungen dahinter sind auch auf Deutschland übertragbar und bieten neuen Diskussionsstoff, ob eine Impfpflicht sinnvoll ist.
Wird aus der Pandemie eine Endemie? Hat zukünftig der Mensch das Virus im Griff und nicht mehr das Virus den Menschen? Eine Antwort "Ja" erhoffen sich alle, aber die Wissenschaft kann sie noch nicht geben. Im Gegenteil, zumindest in diesem Sommer 2022 dürfte noch nicht alles vorbei sein.
Und später? Niemand weiß es genau, dafür ist das Virus zu unberechenbar. Das wird auch in einem von der britischen Regierungsbehörde "Scientific Advisory Group for Emergencies" (SAGE) veröffentlichten Papier (hier als PDF-Download) deutlich, in dem es um mittelfristige Covid-19-Szenarien geht. Mittelfristig bedeutet in diesem Fall: für die nächsten zwölf bis 18 Monate und auch darüber hinaus. Mit den vier Szenarien haben die beteiligten Wissenschaftler, die die Regierung in Notfällen beraten, versucht, einen möglichst großen Bereich abzudecken. Dass sich die zukünftige Covid-19-Entwicklung innerhalb dieses Bereichs abspielt, halten sie nicht für absolut sicher, aber für recht wahrscheinlich.
Worst-Case-Szenario
Im schlimmsten (aber nicht komplett unwahrscheinlichen) Fall wären mutierte Virusvarianten denkbar, die durch die hohe globale Inzidenz, unzureichende Impfungen und die Zirkulation der Viren im Tierreich entstehen. Diese Varianten könnten den Immunschutz umgehen, ansteckender sein und zu noch schwereren Erkrankungen führen.
Kurz gesagt, jeder Aspekt des Virus wäre noch schlimmer als bisher, flächendeckende jährliche Impfungen wären nötig, staatliche Maßnahmen wie Lockdowns würden die Konflikte in der Gesellschaft weiter zunehmen lassen. Schon in den nächsten eineinhalb Jahren gäbe es große Infektionswellen mit vielen schweren Erkrankungen und Todesfällen, vor allem unter denen, die keine Immunität besitzen.
Pessimistisches Szenario
Auch im "zweitschlimmsten" formulierten Szenario wird davon ausgegangen, dass zukünftig viele verschiedene Virusvarianten zirkulieren, die aber nicht so schwere Erkrankungen hervorrufen wie im Worst-Case-Szenario. Die hohe globale Inzidenz zusammen mit der zunehmenden Immunität der Bevölkerung führt zur unvorhersehbaren Entstehung von Varianten über viele Jahre hinweg, mit größerer Übertragbarkeit im Vergleich zu Omikron und in schlechten Jahren mit einem ähnlichen Schweregrad wie Delta.
Geimpfte sind weiter größtenteils vor schweren Verläufen geschützt, aber Infektionswellen mit verschiedenen Erregern können überlappen und das Gesundheitssystem an seine Grenzen bringen.
Optimistisches Szenario
Im optimistischen Szenario führt die zunehmende globale Immunität zu einem allgemein niedrigeren Schweregrad der Krankheitsverläufe. Infektionswellen kommen durch regional nachlassende Immunität oder durch neue Varianten von Omikron oder anderen Viruslinien zustande. Das allgemeine Muster ist das einer jährlichen saisonalen Infektion mit besseren und schlechteren Jahren, wobei schlechtere wie etwa in Delta-Zeiten sind.
Schwere Erkrankungen und Todesfälle beschränken sich weitgehend auf gefährdete, ältere Menschen und Menschen ohne Immunität. Regelmäßig aufgefrischte Impfstoffe werden jährlich an die gefährdeten Personen und in schlechten Jahren auch an andere Personen verabreicht.
Best-Case-Szenario
Im besten Fall wird im Gegensatz zu allen anderen Szenarien davon ausgegangen, dass dem Virus immer seltener eine Immunflucht gelingt, dass also die menschliche Immunität durch Impfung oder frühere Infektion vor neuer Ansteckung oder zumindest einem schweren Verlauf schützt. Weitere Virusvarianten tauchen zwar auf, aber es gibt keine Zunahme der Übertragbarkeit und keine Rückkehr zum Delta-Niveau hinsichtlich des Schweregrads.
Es gäbe dann nur noch geringfügige saisonale und regionale Ausbrüche. Impfstoffe werden jährlich nur zur Auffrischung von gefährdeten Personen eingesetzt. In Jahren mit höheren Sars-CoV-2-Wellen treten tendenziell weniger Grippefälle auf. Schon für den Herbst und Winter 2022/23 würde das ein nur geringes Wiederaufflammen des Infektionsgeschehens bedeuten, mit geringem Ausmaß an schweren Erkrankungen.
Das Virus bleibt
In allen Szenarien gleich ist, was man ohnehin schon wusste: Das Virus, in welchen Varianten auch immer, wird dableiben. Alle Szenarien wurden zwar ausdrücklich für das Vereinigte Königreich erstellt. Aber die darin beschriebenen Entwicklungen wurden aus dem weltweiten Infektionsgeschehen hergeleitet. Und weil sich auch Bevölkerungsstruktur und Impfstatus in Großbritannien nicht komplett von denen in Deutschland unterscheiden, darf man sich zumindest gedanklich auch hierzulande darauf einstellen, dass die kommenden Monate und Jahre von einem dieser Szenarien (oder sogar mehreren, sich abwechselnden) geprägt sein könnten.
Diskussion um Impfpflicht
Welches Szenario eine Impfpflicht ab Herbst oder darüber hinaus hierzulande rechtfertigen oder gar notwendig machen würde, lässt sich trefflich diskutieren. Das Science Media Center hat Fachleute verschiedener Forschungsrichtungen dazu befragt.
Dr. Björn Meyer, Leiter der Arbeitsgruppe Virusevolution am Institut für Medizinische Mikrobiologie der Uni Magdeburg, kann die Überlegung nicht ganz nachvollziehen, "dass eine Impfpflicht nur dann möglich ist, wenn diese eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindert". Die jetzt vorherrschende Omikron-Variante werde aus seiner Sicht etwas verharmlost. Zwar verursache sie im Vergleich mit Delta häufiger leichtere Verläufe, auch bei Ungeimpften, doch gelte es zu beachten, "dass die Verläufe immer noch schwerer sind als bei anderen, vorangegangenen Varianten. Man kann auch keine weitere Veränderung in Zukunft ausschließen."
Ein Argument, dass Omikron 'mild' sei, ist somit weder ganz richtig, noch heißt es, dass dies von jetzt an so bleiben wird.
Prof. Dr. Gérard Krause, Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, macht die Rechtfertigung einer Impfpflicht von der Wirksamkeit der Impfungen abhängig. Wenn man recht sicher davon ausgehen könnte, dass zum Beispiel die Booster-Impfung auch nach einem Jahr noch eine hohe Schutzwirkung hätte, dann "wäre eine generelle Impfpflicht eher zu befürworten, als wenn dies nur für ein halbes Jahr gelten würde". Aber viele dieser Fragen seien bei Covid-19-Impfungen noch mit Unsicherheiten behaftet, "sodass eine Impfpflicht sowieso zeitlich begrenzt sein müsste", so Krause.
Dr. Marco Binder, der sich am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg mit der Dynamik von Virusreplikationen und der Immunantwort befasst, sieht die Impfung der Bevölkerung zwar als aus wissenschaftlicher Sicht bestes Mittel gegen einen pandemischen Erreger. Wie hoch der Anteil der geimpften Bevölkerung dafür sein soll und welche Maßnahmen (wie eine mögliche Impfpflicht) nötig sind, dieses Ziel zu erreichen, sei aber nicht nur Sache der Wissenschaft, sondern müsse "gemeinsam mit Vertretern des Gesundheitssystems, des Rechtswesens, der Politik und der Gesellschaft 'verhandelt' werden".
Prof. Dr. Stefan Kluge, Direktor der Klinik für Intensivmedizin an der Uniklinik Hamburg-Eppendorf, findet eine Impfpflicht insbesondere für Risikogruppen hilfreich für das Gesundheitssystem. Vielen erscheine die Notwendigkeit jetzt fraglich, wegen sinkender Infektionszahlen und weniger schwerer Fälle. "Sollte es jedoch im Herbst zum Auftreten einer kränker machenden Variante kommen, dann werden wir dies wieder von vorne diskutieren", meint der Intensivmediziner.
Was genau im Herbst und danach sein wird, kann tatsächlich niemand vorhersagen. In dem Papier mit den vier möglichen Szenarien heißt es: "Bei jedem Szenario wird davon ausgegangen, dass im Laufe der Zeit (zwei bis zehn Jahre) ein relativ stabiles, sich wiederholendes Muster erreicht wird, es ist jedoch wahrscheinlich, dass der Übergang zu diesem Muster sehr dynamisch und unvorhersehbar sein wird."
(rr/smc)
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