MDR KLIMA-UPDATE | 24. Februar 2023 So ein Rohstoffrucksack ist auch nicht gut für den Rücken
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Ausgabe #77 vom Freitag, 24. Februar 2023
10. März 2023, 10:23 Uhr
Liebe Lesende,
wissen Sie, ich bin im Besitz einer elektrischen Zahnbürste und im Dezember trug es sich nun zu, dass das Gerät alsbald seinen Dienst quittieren würde. Also der einzige Knopf am Bürstenschaft, wie die Profis sagen, wollte nicht mehr so ganz wie anfänglich. Da eine dreijährige Lebenszeit für eine 150-Euro-Bürste gefühlt sieben Jahre zu wenig sind, beschloss ich, mein Verbraucherrecht wahrend, innerhalb der letzten Garantietage eine Reparatur zu beantragen.
Diese Reparatur sah so aus: Reklamation bei der Hotline, Auftrag ausgelöst, neue Bürste erhalten, alte Bürste eingeschickt, auf Nimmerwiedersehen – dafür lässt sich die neue jetzt per App steuern, juhu. Was der Hersteller, der auch Mikrochips in seinen drei Monate haltbaren Wechselköpfchen verbaut, damit die Bürste gleich das passende Putzprogramm einstellt, mit meinem „kaputten“ Produkt angestellt hat – also, keine Ahnung. Ich vermute, nichts Gutes. Ist ja auch nicht so appetitlich, an einer benutzten Zahnbürste rumzuschrauben … Kümmern wir uns diese Woche trotzdem um das Ding.
Zahl der Woche:
145
… Gigawatt, das sind die Ausbau-Ziele der Bundesregierung für Windkraftanlagen bis 2030. Ist das realistisch? So wie's aussieht, muss Deutschland auf jeden Fall noch einen Zahn zulegen. Wie viel wir von den Ausbauzielen bisher erreicht haben, können Sie jetzt tagesaktuell live erkunden, direkt bei MDR WISSEN.
Reparieren Sie erst Ihre Gerätschaften. Und dann den Planeten.
Ich vermute, der Zahnbürstenhersteller hat gehofft, dass das Gerät erst wenige Tage nach dem Ablauf der Garantie ein Fall für ebendiese sein würde. Er hätte dann wahrscheinlich eine neue verkauft. Und auch wenn es die verdammte Aufgabe dieses Konzerns gewesen wäre, mein Zahnpflegeprodukt wieder herzurichten, gäbe es noch einen anderen Weg: Selbst Hand anlegen.
Die Lösung für mein Problem kann man bei iFixIt nachlesen, der Internetplattform schlechthin für alle Reparaturbestrebungen dieser Welt. Dort hat sich jemand gemeldet, der mein Zahnbürstenmodell besitzt und dessen Knöpfchen es anscheinend nicht mehr tut, ach ja, man kennt es. Ein anderer User weist darauf hin, dass sich möglicherweise Zahnpastareste und Kalk am Rand der Taste festgesetzt haben und das leicht (selbst) zu reparieren sei. Ja? Nun denn.
Stattdessen hat der Hersteller nicht nur meine Bürste entsorgt (oder, wenn es hoch kommt, ein paar Materialen recycelt). Sondern mit ihr den gesamten Rohstoffrucksack, merken Sie sich diese Vokabel mal kurz. Jetzt schließt sich gleich der Kreis und jetzt Sie wissen auch, warum ich Sie mit meinen Zahnpflegesorgen behellige: Nachhaltiges Rohstoffmanagement ist wichtig für den Klimaschutz, denn Rohstoffnutzung hat eine starke Klimawirkung.
So steht das im Ressourcenbericht für Deutschland 2022, eine empfehlenswerte Lektüre, die ich dieser Tage zu Rate gezogen haben. Das Umweltbundesamt trägt dort Daten und Fakten zur Rohstoffgewinnung und -nutzung zusammen. Auch, dass 2019 fast 82 Prozent des Rohstoffkonsums durch private Haushalte verursacht wurden. Sowas geht bei der Zahnbürste los.
Die ist nicht nur ein schnöder Schrubber, sondern von den Innereien her eher auf dem kecken Niveau eines Smartphones. Neben einem Motor sind sowohl ein Lithium-Ionen-Akku als auch ein Häufchen Halbleiterelektronik verbaut, von der ich ehrlich gesagt keine Ahnung habe, erst recht nicht, was sie in einer Zahnbürste zu suchen hat. Eins ist klar: Es sind Ressourcen. Und deren Nutzung lässt sich in drei Grundkategorien einteilen, schreibt der Ressourcenbericht:
- Direkte Rohstoffnutzung: Biomasse, fossile Energieträger, Metallerze, nicht-metallische Materialien
- Indirekte Rohstoffnutzung: Der sogenannte Rohstoffrucksack bezieht auch Rohstoffe entlang der internationalen Handels- und Produktionsketten mit ein
- Andere natürliche Ressourcen: Fläche, Wasser, Boden, Luft, strömende Ressourcen und alle lebenden Organismen
Wenn die Ressourcen auf einmal das Zehnfache wiegen
Da der Rucksack so eine beliebte Metapher ist, was Verbrauchsgrößen betrifft (denken Sie nur an Ihren CO2-Rucksack), schauen wir uns den mal genauer an. Habe meine Zahnbürste (mit aufgestecktem Wechselköpfchen) gerade auf die Küchenwaage gelegt: 143 Gramm. Das klingt zwar nicht nach viel Rohstoff, der tatsächlich Verbrauch – der Rohstoffrucksack – dürfte aber auf Grund der ganzen Computerinnereien weitaus höher liegen.
💡 Im Übrigen: Hier können Sie Ihren ganz persönlichen Ressourcenrucksack errechnen und gleich noch der Wissenschaft behilflich sein.
Für einen Pkw dürfte zumindest diese Faustregel ganz einprägsam sein: Ein 1,5-Tonner schlägt mit einem Rohstoffrucksack von 15 Tonnen zu Buche.
Alles kein Wunder: Denn Metalle haben besonders große Rohstoffrucksäcke, weil es große Mengen Erz mit niedrigem Metallgehalt braucht, aus denen das Metall extrahiert wird und aufwendig weiterverarbeitet. Nehmen Sie mal ihr Handy: Ein durchschnittliches Smartphone besteht zu 37 Prozent aus Aluminium, Stahl und Kupfer. Auch Gold steckt drin, Kobalt und Coltan – in geringen Mengen, aber mit sehr großen ökologischen Rucksäcken und einem höheren Umweltgefährdungspotenzial.
Zu den Klassikern in dieser Hinsicht zählen sinkende Grundwasserspiegel und Zerstörung von Ökosystemen. Bei Kupfer sieht es richtig schlecht aus: Der Rohstoff hat ein hohes Potenzial, das Grubenwasser zu versauern, Schwermetalle in den Boden zu bringen, für Wasserknappheit zu sorgen und insgesamt eine mittlere Gefährdungsstufe für die Biodiversität.
Deutschland ist zum Beispiel der bedeutendste europäische Hersteller von Kupferprodukten und benötigt die weltweit drittgrößten Mengen. Nur ist das Zeug nahezu überhaupt nicht im eigenen Land zu holen. Bei 99,9 Prozent aller Metallerze ist die deutsche Wirtschaft auf Importe angewiesen. Das ist ein Problem: Denn für den heimischen Markt sind umwelt- und klimafreundliche Vorschriften pille-palle (z.B. Bundesberggesetz), verglichen mit dem maximal indirekten Einfluss auf importierte Rohstoffe.
Lösungen, bitte!
Ein erster Schritt ist das neue Lieferkettengesetz, allerdings bestehen Zweifel, dass es die Rohstoffgewinnung selbst ausreichend positiv beeinflusst. An oberster Stelle steht deshalb nach wie vor: Bestehende Produkte so lang wie möglich zu nutzen und das Konsumverhalten zurückzufahren, wo es nur geht.
Auch ein Pfandsystem wäre nicht schlecht, zum Beispiel für Smartphones. Das habe die Politik verpasst, heißt es beim Verband Deutscher Ingenieure, bei Starterbatterien fürs Auto funktioniert es immerhin.
Ein Schlüssel ist auch die sogenannte Kreislaufwirtschaft: Dazu zählen langlebiges Design, reparierbare Produkte und neue Geschäftsmodelle wie das Mieten von Produkten. Ein Ansatz, den der Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft der Europäischen Union verfolgt. Darin enthalten ist das Recht auf Reparatur, das dieses Jahr in einen konkreten Gesetzesvorschlag gegossen werden soll.
💡 Wenn Sie aber eher so vom Typ Selbstjustiz sind – weiter unten gibt’s ein paar Hinweise, was Sie jetzt mit ihren kaputten Zahnbürsten tun könnten. Und ich dann eben das nächste Mal.
Sachsen und Thüringen fördern im Übrigen die Reparatur von Haushaltsgeräten. Ob sich das lohnt, erfahren Sie von der MDR-Umschau in der ARD-Mediathek. Und auf jeden Fall lege ich Ihnen die aktuelle Ausgabe des MDR WISSEN-Podcasts Meine Challenge ans Herz. In der versucht der Kollege Max Fallert, seine sieben Sachen in Schuss zu halten, Neukauf ist tabu:
🗓 Klima-Termine
24. bis 28. Februar – Schloss Niederspree (Hähnichen)
Der BUND Sachsen lädt zur Wanderausstellung Rückkehr auf leisen Pfoten – die Europäische Wildkatze in Sachsen. Eintritt frei, aber Öffnungszeiten beachten.
27. Februar – online
Die Deutsche Umwelthilfe startet die neue Dialogplattform Natur.Macht.Klima. Zum Auftakt diskutiert wird die Frage Kommt die Zeitenwende für den Naturschutz?. Mit dabei auch Gäste aus Mitteldeutschland: Bundesumweltministerin Steffi Lemke (B90/Grüne) und Aletta Bonn vom UFZ/iDiv. Hier anmelden
1. bis 7. März – Malschwitz
Noch eine Einladung vom BUND Sachsen – und zwar zur Ausstellung Insekten in Gefahr – Ein Rückgang mit Folgen. Kostenfrei im Haus der Tausend Teiche, Öffnungszeiten und Infos hier
Donnerstag, 2. März – Stendal
Filmvorführung Vogelperspektiven mit anschließender Diskussionsrunde im Uppstall-Kinos. Infos beim ZÖNU
Freitag, 3. März – weltweit
Ist schon wieder so weit: Fridays for Future ruft allerorten zum weltweiten Klimastreik auf. Aktionen in und um Mitteldeutschland sind in folgenden Orten geplant: Magdeburg, Helmstedt, Goslar, Halle, Merseburg, Leipzig, Witzenhausen, Erfurt, Fulda, Weimar, Hof, Zwickau, Chemnitz, Riesa, Freiberg, Dresden, Zittau. Infos zu den Aktionen
📰 Klimaforschung und Menschheit
Hunderte neue Airbus-Flugzeuge könnten grüngewaschen werden
Die über 700 neuen Flieger könnten durch laxe EU-Taxonomieregeln als nachhaltig eingestuft werden, schreibt die tageszeitung. Das liege daran, dass diese nach Definition nur effizienter als ältere Modelle sein und diese tatsächlich ersetzen müssen. Die Taxonomie solle eigentlich helfen, für Investoren sichtbar zu machen, ob Güter als öko bewertet werden können. Eine entsprechende Diskussion gab es bereits im vergangenen Jahr um die Taxonomie von Atom- und Erdgas-Energie.
Starker El Niño bedroht 2023 antarktisches Schelfeis
Für 2023 erwarten Meteorologinnen und Meteorologen eine starke Rückkehr von El Niño, ein globales Klimamuster, bei dem vor allem die oberen Wasserschichten des Pazifiks stark aufgeheizt sind. Damit einher gehen etwa höhere globale Durchschnittstemperaturen. Ein internationales Forschungsteam hat nun in einer Simulation die möglichen Folgen für das Eis der Antarktis untersucht. Demnach erwarten die Forschenden, dass sich die oberen Wasserschichten der Meere rund um die Antarktis bei stärkeren El-Niño-Phasen eher abkühlen, wodurch im Wasser treibende Eisberge langsamer schmelzen. Tiefere Wasserschichten aber könnten sich zur gleichen Zeit erwärmen und damit das Schelfeis, also die geschlossene Eisdecke vor der Küste der antarktischen Landmasse, angreifen. Klimaforschende erwarten, dass sich die sogenannte El Niño Southern Oscillation durch den Klimawandel erheblich verstärkt, was vor allem die Intensität und die Zahl der Wetterextreme verstärken könnte.
Chemische Industrie kann bis 2050 besser als CO2-Neutral werden
Dieser Industriesektor kann bis 2050 tatsächlich CO2-neutral werden, wenn in der Produktion und bei den Kunden einige Veränderungen vollzogen werden, rechnet eine neue Studie vor. Die Forschenden zeigen zum einen, dass die Kunden durch einen effektiveren Einsatz und durch Recycling der von ihnen gekauften Produkte zwischen 23 und 33 Prozent der Klimaemissionen reduzieren können. Die Industrie wiederum könnte den Rohstoff Erdöl durch alternative Stoffe ersetzen, bei der Produktion entstehendes CO2 durch Abscheiden im Boden einlagern und ihren Strom nur noch aus regenerativen Energien beziehen. Dadurch könnte die Chemieindustrie bis 2050 sogar netto-negative Emissionen erreichen.
📻 Klima in MDR und ARD
👋 Zum Schluss
Ihr Recht auf Reparatur haben Sie sozusagen selbst in der Hand. Vor dem Kauf sollten Sie auf reparierbare Produkte schielen, eine Orientierung bietet ein Rating bei iFixIt, wo es auch gleich passende Reparaturanleitungen und sogar Werkzeuge gibt. Anleitungen finden Sie auch in Onlinevideos oder bei Helpster.
Nur wüsste ich jetzt auch nicht so recht, wie und mit welchem Tool ich meine Zahnbürste am schlausten geöffnet bekäme. Hier lohnt ein Gang in ein Reparatur-Café. Das sind kleine Selbsthilfewerkstätten, die es seit einiger Zeit auch in Mitteldeutschland gibt. Beim Repair-Café Magdeburg haben Sie zum Beispiel jede Woche die Möglichkeit, kaputte Sachen vor Ort zu reparieren – mit fachkundiger Hilfe, möglicherweise von einem der acht Herren, die auf der Website heiter posieren. Das Leipziger Pendant (Café kaputt) öffnet sogar an drei Tagen pro Woche, zu jeweils unterschiedlichen Produktgruppen.
Ein Blick auf die Karte zeigt: Nicht nur die urbanen Zentren, sondern auch der ländliche Raum ist in und um Mitteldeutschland mittlerweile mit Repair-Cafés versorgt: Zittau, Hof, Wernigerode, Eschwege, Coburg – alles dabei.
Das Repair-Café Dresden wirbt mit „Reparieren, tüfteln und Kaffee trinken“ – was zeigt: Die Initiativen sind mitunter nicht nur Mittel zum Zweck, sondern soziale Begegnungsstätten.
Und zumindest ein Ort, an dem man für Menschen mit kaputten Zahnbürsten Verständnis hat.
Passen Sie auf sich und die Welt auf, herzlichst
Florian Zinner
Sie haben eine Frage oder Feedback?
Schreiben Sie uns an klima@mdr.de.