Krebsforschung Frei zugängliches KI-Tool analysiert Hirntumore in Echtzeit
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08. Juli 2023, 16:58 Uhr
Was normalerweise Tage oder Wochen dauert, schafft die KI während einer Hirn-OP in Echtzeit: die Genom-Entschlüsselung des Tumors. Dadurch werden bessere chirurgische Maßnahmen und Behandlungsentscheidungen möglich.
Eine Forschungsgruppe unter Leitung der Harvard Medical School hat ein KI-Tool entwickelt, mit dem die DNA eines Hirntumors schnell entschlüsselt werden kann, um seine molekulare Beschaffenheit schon während der Operation zu bestimmen. Die Beschaffung dieser wichtigen Information hat bislang Tage oder sogar Wochen gedauert.
Durch die Kenntnis der genauen Tumor-Beschaffenheit können Neurochirurgen zum Beispiel besser entscheiden, wie viel Hirngewebe zu entfernen ist. Wenn zu viel entfernt wird, obwohl der Tumor gar nicht so aggressiv wie gedacht ist, kann es zu unnötigen neurologischen oder kognitiven Beeinträchtigungen beim Patienten kommen. Wird zu wenig entfernt, obwohl der Tumor aggressiv ist, dann kann bösartiges, schnell wachsendes Gewebe zurückbleiben.
Echtzeit-Untersuchung von Hirntumoren bislang unmöglich
Zu wissen, wie der Tumor molekular beschaffen ist, ist auch deshalb wertvoll, weil bestimmte Tumore durch eine Behandlung mit Medikamenten, die während der Operation direkt ins Gehirn eingebracht werden, abgetötet werden können, sagt Kun-Hsing Yu, Assistenzprofessor für biomedizinische Informatik und Hauptautor der Studie. "Derzeit ist es selbst in der modernsten klinischen Praxis nicht möglich, während der Operation ein molekulares Profil von Tumoren zu erstellen. Unser Tool überwindet diese Herausforderung, indem es bislang ungenutzte biomedizinische Signale aus gefrorenen pathologischen Proben extrahiert."
Der bislang übliche diagnostische Ansatz besteht darin, Hirngewebe zu entnehmen, es einzufrieren und unter dem Mikroskop zu untersuchen. Ein großer Nachteil ist, dass das Einfrieren des Gewebes das Aussehen der Zellen verändert und die Genauigkeit der klinischen Bewertung beeinträchtigen kann. Außerdem kann das menschliche Auge, selbst bei Verwendung leistungsstarker Mikroskope, subtile genomische Veränderungen auf einem Objektträger nicht zuverlässig erkennen.
KI-Instrument CHARM wurde mit mehr als 2.000 Tumorproben angelernt
Künstliche Intelligenz kann das besser als der Mensch. Das Tool mit der Bezeichnung CHARM ("Cryosection Histopathology Assessment and Review Machine" ) ist für andere Forscher frei auf der Plattform GitHub verfügbar. Es muss allerdings noch durch weitere Tests in der Praxis klinisch validiert und von der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA genehmigt werden, bevor es in Krankenhäusern eingesetzt werden kann, schreibt das Forschungsteam.
CHARM wurde mit 2.334 Hirntumorproben von 1.524 Personen mit drei verschiedenen Arten von Gliomen angelernt. Die KI unterschied danach Tumore mit spezifischen molekularen Mutationen mit einer Genauigkeit von 93 Prozent und klassifizierte erfolgreich drei Haupttypen von Gliomen, die unterschiedliche Prognosen haben und unterschiedlich auf Behandlungen ansprechen.
Noch einen Schritt weiter ging das Tool, indem es erfolgreich visuelle Merkmale des die bösartigen Zellen umgebenden Gewebes erfasste. Dadurch war es in der Lage zu erkennen, ob es sich um mehr oder weniger aggressive Gliomtypen handelte. CHARM kann außerdem genau bestimmen, wie das Aussehen einer Zelle mit dem molekularen Typ eines Tumors zusammenhängt. Diese Fähigkeit, den breiteren Kontext um das Bild herum zu bewerten, macht das Modell genauer und kommt dem sehr nahe, wie ein menschlicher Pathologe eine Tumorprobe in viel längerer Zeit visuell bewerten würde, so Studienleiter Yu.
KI kann auf andere Tumorarten umtrainiert werden, aber ständige Weiterentwicklung nötig
Andere Wissenschaftler haben bereits KI-Modelle zur Erstellung von Profilen für andere Krebsarten wie Dickdarm-, Lungen- und Brustkrebs entwickelt, aber Gliome stellen aufgrund ihrer molekularen Komplexität und der enormen Unterschiede in Form und Aussehen der Tumorzellen eine besondere Herausforderung dar. CHARM wurde nun zwar anhand von Gliom-Proben trainiert und getestet, aber es könnte auch erfolgreich auf andere Hirnkrebs-Subtypen umtrainiert werden, sagen die beteiligten Forscher.
Das Tool müsse allerdings regelmäßig neu trainiert werden, um neue Krankheitsklassifikationen zu berücksichtigen, die sich aus neuen Erkenntnissen ergeben, sagt Studienleiter Yu. "Genau wie menschliche Ärzte, die sich ständig weiterbilden müssen, müssen auch KI-Tools mit dem neuesten Wissen Schritt halten, um auf Spitzenniveau zu bleiben."
(rr)