Grünes Wunder? Gebäudeenergie: Die Renovierung Europas
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04. September 2023, 05:57 Uhr
Kennen alle: Die Skala auf Waschmaschinen und anderen Haushaltsgeräten, die von grün zu rot die Energieklassen A bis G anzeigt. Sowas will die EU nun auch für Gebäude einführen. Und: In den nächsten Jahren sollen die unteren Klassen gänzlich verschwunden sein – durch umfassende Renovierungen. Eigentümerverbände kritisieren schon jetzt, dass der Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg nichts dagegen war. Aber eine andere Lösung im Kampf gegen den Klimawandel scheint es nicht zu geben.
Der Wohnsektor verbraucht vierzig Prozent der Energie in der EU und verursacht 36 Prozent der CO2-Emissionen. Schon 2010 erkannte die Europäische Union, dass das Bauen und Wohnen reguliert werden muss. Mit der Einführung der EU-Gebäuderichtlinie (englisch: Energy Performance of Buildings Directive, kurz EPBD) wurde dafür der Rahmen gesetzt.
Nach einer ersten Überarbeitung 2018 wird die Gebäuderichtlinie im EU-Apparat derzeit wieder erneuert. Die Novelle bringt umfassende Veränderungen für alle EU-Bürger und -Bürgerinnen mit sich. Das Quasiverbot für neue, reine Öl- und Gasheizungen ab 2024 bildet dabei erst den Anfang.
Den Klimaschutzambitionen gegenüber stehen diverse Probleme: ein Wohnungsmarkt, der schon jetzt von Verdrängung geprägt ist, Handwerker- und Materialmangel. Wird die EU es schaffen, Europa klimagerecht und sozial zu sanieren?
Aufwendige Sanierung nötig: Dreißig Millionen Gebäude betroffen
Diese Hauptverantwortung liege vor allem bei den Mitgliedstaaten, heißt es in der Richtlinie. Denn die müssen die EU-Vorgaben in nationale Gesetze umwandeln. Die sogenannten Nationalen Renovierungspläne sollen neben den Regeln für die Sanierungen auch die Finanzierungs- und Fördermaßnahmen und den Schutz von vulnerablen, also sozial schwächeren Bevölkerungsgruppen in den Blick nehmen.
Die EU sieht vor, dass jedes Land bis 2030 die 15 Prozent der Gebäude mit den meisten Emissionen renoviert haben muss. Diese Bewertung erfolgt anhand der Energieniveaus. Die untersten 15 Prozent des Gebäudebestandes fallen in das Energieniveau G, sogenannte Nullemissionsgebäude bilden das Niveau A. Die Stufen B bis F sind in gleichmäßige Abstände aufgeteilt.
Bis 2030 müssten somit in Deutschland laut Eigentümerverband Haus & Grund fast drei Millionen Eigenheime und Mehrfamilienhäuser vom Niveau G mindestens auf das Niveau F gehoben werden. Bis 2033 erfolgt dann die nächste Anhebung des Gebäudebestandes auf das Niveau E. Bis 2050 sollen dann alle Gebäude in der EU, rund dreißig Millionen, das Niveau A haben.
Verkauf, Vermietung, Sanierung: Wann Energiezertifikate wichtig werden
Die Niveaus werden für Gebäude durch ein sogenanntes Energiezertifikat ausgewiesen. Die Aufmachung dürfte einigen von Waschmaschinen und anderen Haushaltsgeräten bekannt sein. Bei Gebäuden wird das Energiezertifikat in Zukunft wichtig, wenn die Immobilie verkauft, vermietet oder saniert werden soll. Die EU schreibt vor, dass die Mitgliedsstaaten dann dafür sorgen müssen, dass jedes Gebäude, das zum Verkauf oder zur Vermietung steht oder eine Renovierung hinter sich hat, ein Energiezertifikat erhält. Gleiches gilt für neue Gebäude.
Unabhängige Sachverständige sollen nach einer Sichtung des Gebäudes die Zertifikate ausstellen. In Deutschland muss so ein Prüfsystem erst einmal eingerichtet werden. Bisher können die Zertifikate teilweise für zwanzig Euro im Internet erworben werden – ohne eine Inaugenscheinnahme vor Ort. Dass die Zahlen zur Energieeffizienz auf diese Weise leicht geschönt werden können, ist in Fachkreisen schon lange bekannt.
Wie ist das jetzt mit den Energiezertifikaten? Es gibt bisher zwei Arten von Energiezertifikaten: den Bedarfsausweis und den Verbrauchsausweis. Beim Bedarfsausweis wird der Energiebedarf aufgrund der Gebäude- und Heizungseigenschaften berechnet. Beim Verbrauchsausweis wird der Energiebedarf auf Basis gemessener Verbrauchsdaten bestimmt. In Deutschland gibt es derzeit noch die Energieeffizienzklassen A+ bis H, die mit dem neuen Renovierungsplan zu A bis G umgewandelt werden.
Energetische Sanierung: Fehlende Handwerker und Rohstoffknappheit
Doch vor der Überprüfung kommt die Umsetzung. Die soll laut Kai Warnecke, Präsident von Haus & Grund, nahezu unmöglich sein: "Ich weiß nicht, wo die Handwerker herkommen sollen. Ich weiß nicht, wo die technischen Geräte herkommen sollen." Hochrechnungen des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks ergeben, dass rund 250.000 Handwerker und Handwerkerinnen fehlen, um die Klima- und Energiewende zu bewältigen.
Der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg war klein dagegen.
Außerdem haben Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg die eh schon bestehende Rohstoffknappheit durch unterbrochene Lieferketten verschärft. Laut dem Münchner ifo-Institut für Wirtschaftsforschung waren 2022 rund die Hälfte der Baubetriebe von Lieferengpässen betroffen – während die Auftragslage steigt.
So beispielsweise bei Wärmepumpen: Schon jetzt warten Hauseigentümerinnen und -eigentümer nicht selten mehr als ein Jahr auf ein neues Heizsystem. Derzeit ist diese klimafreundliche Umrüstung noch freiwillig. Mit einer gesetzlichen Verpflichtung könnte jahrelanges Warten zur Regel werden. "Der Wiederaufbau Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg war dagegen klein", kommentiert Kai Warnecke. "Es ist uns völlig unklar, wie die neue Gebäuderichtlinie praktisch umsetzbar sein soll."
Neue Heizung und Dämmung: Wie viel müssen Mieterinnen und Eigentümer bezahlen?
Sein Vorschlag: Gebäude nicht nach Energieniveau, sondern nach technischen Möglichkeiten renovieren. Doch der Ansatz der EU, zuerst die Gebäude der Klasse G in Angriff zu nehmen, hat auch einen sozialen Grund. In Häusern dieser Art wohnen häufig Personen und Familien mit niedrigem Einkommen. Die Nebenkosten in energetisch schlechten Gebäuden, mit fossilen Brennstoffen wie Öl oder Gas, werden ansteigen – und damit auch die Energiearmut. Im Gegensatz dazu sind in der ursprünglichen EU-Gebäuderichtlinie von 2010 die wichtigsten Passagen zur Sozialverträglichkeit gestrichen worden.
Die nun im Raum stehende Renovierung Europas soll 240 Milliarden Euro jährlich kosten. 120 Milliarden Euro kommen aus EU-Geldern, die vorrangig an vulnerable Haushalte vergeben werden sollen.
Für die restlichen 120 Milliarden jährlich wird zum einen der Bund zur Kasse gebeten. Doch auch die Eigentümer und Eigentümerinnen werden ihren Teil beitragen müssen. Inwiefern Vermieterinnen und Vermieter ihre Kosten auf Mietende umlegen können und ob es Mechanismen gibt, die vor extremen Mieterhöhungen und Verdrängung schützen, ist noch nicht geklärt.
Die Uhr tickt: Wegen Klimawandel darf die Umstellung nicht 100 Jahre dauern
Ruth Schagemann, Präsidentin des Architects Council of Europe, vertritt in Brüssel die Interessen von rund 600.000 europäischen Architekten und Architektinnen und ist als Expertin an der Ausarbeitung der Gebäuderichtlinie beteiligt. Sie kann die Kritik von Eigentümerinnen und Eigentümern sowie von Mieterschutzverbänden verstehen: "Sie haben absolut Recht. Es gibt Rohstoffmangel, es gibt Fachkräftemangel."
Wir haben keine Zeit mehr, darüber nachzudenken.
Dennoch sieht sie den derzeitigen Entwurf als die beste Lösung – und die einzige. Denn mit der aktuellen jährlichen Renovierungsrate von rund einem Prozent würde die Dekarbonisierung des Gebäudesektors Jahrhunderte dauern. "Wir sind jetzt tatsächlich an einem Zeitpunkt angekommen, wo wir gar keine Zeit mehr haben, darüber nachzudenken, ob das klappen könnte. Sondern wir müssen jetzt mutig sein und sagen: Ja, es wird klappen."
Dekarbonisierung? Unter der De- oder Entkarbonisierung versteht man die Transformation hin zu einer Wirtschaft, insbesondere der Energiewirtschaft, die CO2-Emissionen reduziert und vermeidet.
Die Europäische Kommission unter Ursula von der Leyen hat den Vorschlag für die neue Gebäuderichtlinie bereits Ende 2021 ausgearbeitet. Seitdem wurde der Entwurf mehrmals in den zuständigen Komitees und dem Parlament diskutiert. Nun befindet sich die Novelle im sogenannten Trilog zur Besprechung von Detailfragen. Das sind informelle Verhandlungstreffen zwischen Vertreterinnen und Vertretern der drei am EU-Gesetzgebungsprozess beteiligten Organe – also von Kommission, Parlament und Ministerrat.
Sobald die Überarbeitung der Gebäuderichtlinie dann offiziell verabschiedet wurde, liegt es an der Bundesregierung, die Vorgaben in einen Nationalen Renovierungsplan zu übersetzen. Das soll bis Mitte 2024 geschehen.
Crossborder Journalism Campus Dieser Beitrag entstand im Rahmen von "Crossborder Journalism Campus", einem Erasmus+-Projekt der Universität Leipzig, der Universität Göteborg und des Centre de Formation des Journalistes in Paris.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 05. September 2023 | 13:30 Uhr