Grünes Wunder? ETS-Zertifikate: Warum die Industrie jedes Jahr Milliarden von der EU geschenkt bekommt
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13. Juni 2023, 12:38 Uhr
Für die EU ist es eine der wichtigsten Säulen für den Klimaschutz: das Emissionshandelssystem. Die Idee: Jedes Unternehmen muss so viele "CO2-Zertifikate" kaufen, wie es Emissionen ausstößt. Das Ziel: Bis 2050 alle Emissionen in Europa kompensieren. Doch die Industrie bekommt seit Beginn einen Großteil der Zertifikate geschenkt. Aus Angst, die Unternehmen könnten ins Ausland abwandern. Ein Team von Journalismus Studierenden hat die Funktionsweise dieses Klimainstruments unter die Lupe genommen.
Die EU will strenger werden. Die Fehler der letzten 20 Jahre korrigieren. Die Emissionsobergrenze soll schneller sinken, die Industrie weniger kostenlose CO2-Zertifikate erhalten. Für die Kohleindustrie soll es künftig gar keine kostenlosen CO2-Zertifikate mehr geben. Am 18. April dieses Jahres hat das Europäische Parlament dieser Revision des Emissionshandelssystems zugestimmt. Doch viele Industriesektoren profitieren weiterhin. Auch aufgrund gezielter Lobbyarbeit.
Was ist das EU-Emissionshandelssystem?
Das sogenannte EU-ETS (EU-Emission Trading System, deutsch: EU-Emissionshandelssystem) ist laut Experten eines der wichtigsten Werkzeuge zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen und Einhaltung der Klimaziele der Europäischen Union. Nach dem chinesischen ist es das weltweit zweitgrößte Emissionshandelssystem und deckt rund vierzig Prozent der Treibhausgasemissionen der EU ab.
Energieintensive Industrien und Stromerzeuger können dabei sogenannte CO2-Zertifikate erwerben, um CO2 ausstoßen zu dürfen. Das System basiert auf einer Mengensteuerung, dem sogenannten “Cap and Trade“-Prinzip. Das bedeutet, für bestimmte Branchen (zum Beispiel Kraftwerke für die Stromversorgung oder die Luftfahrt) werden die Emissionen durch eine feste Gesamtobergrenze (Cap) begrenzt. Diese Obergrenze wird jedes Jahr nach unten korrigiert und soll dazu beitragen, die Klimaziele der EU zu erreichen.
Unternehmen müssen durch das EU-ETS also eine bestimmte Anzahl von Emissionszertifikaten erwerben, um ihre Emissionen zu decken. Schaffen es Unternehmen, ihre Emissionen zu reduzieren oder zu vermeiden, können sie ihre überschüssigen Emissionsrechte an andere Unternehmen verkaufen, die ihre Emissionen nicht ausreichend reduzieren konnten. Das soll Anreize für Unternehmen schaffen, ihre Emissionen zu vermindern, innovative Technologien zu entwickeln und emissionsärmere Technologien zu fördern.
Das EU-Emissionshandelssystem umfasst derzeit nicht vollständig die CO2-Emissionen der gesamten Wirtschaft. Das System beinhaltet die Strom- und Wärmeerzeugung sowie energieintensive Industriesektoren. Das sind zum Beispiel die Kohleindustrie, Erdölraffinerien, Eisen- und Stahlindustrie, Zement-, Glas-, und Papierproduktion und die chemische Industrie. Außerdem umfasst es den gewerblichen Luftverkehr im europäischen Wirtschaftsraum. Dieses Spektrum an Sektoren erweitert sich kontinuierlich.
Cap & Trade Mechanismus In diesem Beispiel hat Unternehmen A mehr kostenlose CO2-Zertifikate bekommen als sie benötigen. Das Unternehmen kann jetzt entscheiden, ob sie die überschüssigen Zertifikate behalten oder an andere Unternehmen verkaufen. Unternehmen B hat weniger kostenlose CO2-Zertifikate als sie CO2-Emissionen ausstoßen. Deswegen kann Unternehmen B in diesem Beispiel entweder die überschüssigen Zertifikate von Unternehmen A kaufen oder bei einer Auktion weitere CO2-Zertifikate erwerben.
Die CO2-Zertifikate-Börse in Leipzig
Der Marktplatz zum Kaufen und Verkaufen dieser europäischen CO2-Zertifikate hat seinen Sitz in Mitteldeutschland. Denn die European Energy Exchange (EEX), mit Sitz in Leipzig, wurde zur Hauptauktionsplattform ernannt. Die Auktionen, also die Versteigerungen von CO2-Zertifikaten, finden seit 2012 sogar für fast alle EU-Mitgliedsstaaten an der EEX in Leipzig statt. Steffen Löbner, von der Abteilung "Business Development" der EEX erklärt: "Eigentlich passiert alles in Leipzig. Wir haben hier einmal die Börse, die EEX AG und einmal das sogenannte Clearing House ECC, das ist im Grunde eine Bank mit Sitz in Leipzig. Von der Zulassung der Teilnehmer zum Handel, über den Handel selbst, bis zur Abwicklung ist alles in Leipzig zentral organisiert."
Der Unterschied zwischen privaten und staatlichen CO2-Zertifikaten
Doch CO2-Zertifikate sind nicht gleich CO2-Zertifikate. Das macht es nicht unbedingt leichter, dieses System zu verstehen. Da sind einmal die “staatlichen" CO2-Zertifikate, deren Handel im EU-ETS geregelt ist und die sowohl auf europäischer als auch auf staatlicher Ebene gesetzlich verankert sind. Mit genau dieser Art von Zertifikaten beschäftigen wir uns hier.
Und dann gibt es da noch den Handel mit freiwilligen – also nichtstaatlichen – CO2-Zertifikaten, eine in den letzten Jahren immens gewachsene Industrie. Sie ermöglicht es Unternehmen wie Netflix, Gucci und Disney, sich mit Labels wie “CO2-neutral" zu schmücken. In den letzten Jahren sind mehrere Start-ups entstanden, die als Händler fungieren und CO2-Zertifikate an private Unternehmen verkaufen. Dafür arbeiten sie mit Projektbetreibern zusammen, die weltweit versuchen, in Klimaschutzprojekten CO2 einzusparen, in dem zum Beispiel Regenwald aufgeforstet oder geschützt wird. Zertifizierungsfirmen versuchen dann zu ermitteln, wie viel CO2 durch das jeweilige Projekt gespart wird und entscheiden danach, wie viele CO2-Zertifikate auf den Markt kommen. Wie sehr in diesem Business getrickst wird, in dem zum Beispiel doppelt oder dreifach so viele Zertifikate freigegeben werden, wie eigentlich durch die Projekte eingespart werde, zeigte im Januar 2023 eine Recherche der Zeit und des britischen Guardian.
Wie die Industrie mit den Zertifikaten Geld verdient
Doch auch bei den CO2-Zertifikaten der EU läuft einiges schief: Bereits 2014 hat der WWF in einer Analyse darauf aufmerksam gemacht, dass große Industrieunternehmen sogar zusätzlich Gewinn mit den kostenlosen CO2-Zertifikaten machen. Deutschlands größter Stahlhersteller Thyssenkrupp hat insgesamt fünf Mal mehr kostenlose CO2-Zertifikate erhalten, als er Emissionen ausgestoßen hat. Im Jahr 2009 hat Thyssenkrupp 139 Prozent seiner Emissionen nur durch kostenlose Zertifikate erhalten. Das bedeutet, das Unternehmen könnte diese überschüssigen 39 Prozent entweder verkaufen oder für später aufheben. Entscheidet es sich für die zweite Variante, könnte es die Zertifikate entweder zur Abdeckung zukünftiger Emissionen verwenden oder, bei gestiegenem Marktpreis für CO2-Zertifikate, mit Gewinn verkaufen.
Das liegt zum einen daran, dass das EU-ETS in verschiedenen Phasen eingeführt wurde. Die genaue Erklärung der einzelnen Phasen finden sie weiter unten in der Infobox. In den ersten beiden Phasen des Europäischen Emissionshandelssystems basierte die kostenlose Zuteilung von Zertifikaten auf Emissionswerten aus der Vergangenheit. Die unzureichende Qualität dieser Daten führte dann dazu, dass vielen Betreibern übermäßig viele Zertifikate zugeteilt wurden. Besonders auffällig wurde dies infolge des Produktionsrückgangs durch die Rezession 2008. Ab Phase 3 (2013 bis 2020) orientierte sich die Höhe der kostenlos zugeteilten CO2-Zertifikate dann an Mittelwerten, die aus den effizientesten/nachhaltigsten zehn Prozent der Anlagen (in Bezug auf den geringsten CO2-Ausstoß) eines Industriezweigs berechnet wurden.
Zum anderen hat die EU-Kommission Sorge, dass Unternehmen, die viele Emissionen ausstoßen müssen, aus Kostengründen ihre Produktion in andere Länder verlegen, um so den Kauf von CO2-Zertifikaten zu umgehen. Dieses Risiko wird als sogenanntes “Carbon Leakage" bezeichnet, also die Verlagerung von CO2-Ausstoß ins Ausland. Welche Produkte diesem Risiko unterliegen, wird von der EU-Kommission in einer sogenannten "Carbon-Leakage-Liste“ festgelegt. Steht ein Sektor auf dieser Liste, erhält die Anlage bis 2026 eine weitestgehend kostenlose Zuteilung von Zertifikaten. So konnte Thyssenkrupp auch im Jahr 2022 mit den kostenlos erhaltenen Zertifikaten immer noch 95 Prozent seiner Emissionen abdecken.
Das Europäische Emissionshandelssystem … wurde 2003 beschlossen und ab 2005 in vier Phasen, auch Handelsperioden genannt, eingeführt.
Phase 1 von 2005 bis 2007
- gilt als Testphase
- Vergabe der Zertifikate erfolgte fast ausschließlich (95%) kostenlos
- Menge der kostenlos vergebenen Zertifikate orientierte sich an historischen Emissionen
- Nach der ersten verpflichtenden Veröffentlichung von Emissionsdaten wurde deutlich, dass zu viele kostenlose CO2-Zertifikate an die Unternehmen vergeben worden waren.
- Die Folge: massives Überangebot von Zertifikaten und erheblichen Preisverfall. Ende 2007 tendierte der Preis gegen null.
Phase 2 von 2008 bis 2012
- konkrete Emissionsreduktionsziele für EU-Mitgliedsstaaten
- Neue Länder traten dem europäischen Emissionshandel bei: neue EU-Staaten Rumänien und Bulgarien, sowie Nicht-EU-Staaten Liechtenstein, Island und Norwegen
- Der Anteil an kostenlos ausgegeben Zertifikaten wird auf 90% reduziert
Phase 3 von 2013 bis 2020
- erstmals eine EU-weite Gesamtobergrenze für CO2-Emissionen
- kostenlos zugeteilte CO2-Zertifikate orientieren sich ab jetzt an sogenannten Produkt-Benchmarks
- kommen aus dem Durchschnitt der zehn Prozent effizientesten Betreiber eines Industriezweiges zustande
- markiert den Übergang von größtenteils kostenlos vergebenen Zertifikaten hin zu deren Versteigerung
- Bis zum Jahr 2030 sollen hundert Prozent der Zertifikate versteigert werden
- Ausnahme: Besteht für einen Industriesektor ein hohes Risiko, seine Produktion aus Kostengründen ins Ausland zu verlagern, erhält dieser auch bis 2026 einen großen Teil der Zertifikate kostenlos (ab dann sinkt die Zuteilung bis 2034 auf 0 Prozent)
Phase 4 von 2021 bis 2030
- die in Phase drei angestoßenen Entwicklungen werden ausgebaut und fortgeführt
Fit for 55
Am 18. April 2023 vom Europäische Parlament bestätigtes Reformpaket, beinhaltet:
- ein CO2-Grenzausgleichssystem (CBAM)
- ein separates Emissionshandelssystem für Verkehr und Gebäude (EU-ETS 2) ab 2027
- neue Regeln für den Emissionshandel in der Luft- und Schifffahrt
- eine Reduzierung der Emissionshöchstmenge von -2,2 Prozent auf -4,2 Prozent
Für viele Umweltorganisationen ist der Sinn von einem Emissionshandelssystem durch die Verteilung von kostenlosen Zertifikaten verfehlt. "Aus unserer Sicht hätte es von Anfang an gar keine kostenlose Zuteilung geben sollen. Ein Emissionshandelssystem muss auch als Emissionshandelssystem ausgestaltet sein", so Lisa Strocks vom Naturschutzbund Deutschland.
Aus unserer Sicht hätte es von Anfang an gar keine kostenlose Zuteilung geben sollen.
Besonders für die Stahl- und Eisenindustrie, die durch das Emissionshandelssystem jährlich Milliarden kostenlose CO2-Zertifikate erhält, ist es ein sehr vorteilhaftes System. Und um dieses aufrechtzuerhalten, stützt sich die Stahlindustrie auf ein Lobbynetzwerk, das in Brüssel besonders gut verankert ist. "Sie wehren sich vehement gegen jede Änderung dieses Systems und dieser Regelung. Daher sind sie in den Verhandlungen und Diskussionen sehr aktiv", betont Klaus Rohring, Experte für Klima- und Energiepolitik bei der NGO CAN Europe. Ein ehemaliger Europaabgeordneter, der anonym bleiben möchte, erzählte uns zudem, dass bei informellen Treffen einige Lobbyisten ihre Gleichgültigkeit gegenüber Klimafragen auch überhaupt nicht verbergen: "Ich erinnere mich, dass ich einen Manager von Arcelor fragte: 'Was ist Ihre Vision vom ETS?' Er antwortete: 'Für Mittal ist es sehr einfach, die Umweltpolitik darf uns nicht nur nichts kosten, sondern sie muss uns im Gegenteil Geld einbringen’."
Für Mittal ist es sehr einfach, die Umweltpolitik darf uns nicht nur nichts kosten, sondern sie muss uns im Gegenteil Geld einbringen.
Es gibt ein Ziel, doch der Weg dahin ist unklar
Der Naturschutzbund Deutschland sieht jedoch Probleme beim “Cap and Trade“-Prinzip. Er kritisiert, dass die Menge an Zertifikaten sich nicht an dem endgültigen Klimaziel, der Treibhausgasneutralität bis 2045 (Deutschland möchte schon fünf Jahre vor der EU klimaneutral werden) ausrichtet. "Wir brauchen einen Pfad, der bis zum Endziel − Treibhausgasneutralität 2045 − definiert ist. Nur damit können Investitionen in die richtige Richtung gelenkt werden" sagt Lisa Strocks vom Naturschutzbund Deutschland.
Diese Kritik wird in Deutschland häufiger laut. Ein Zielpfad ohne die Ausrichtung auf das Endziel 2045 bringt einige Herausforderungen mit sich. Vor allem die fehlende Planungssicherheit für alle Akteure im Markt ist ein großes Problem. So will die Politik zwar, dass alle Unternehmen rechtzeitig in nachhaltige und emissionsärmere Technologien investieren, aber wenn die Schritte nur auf Zwischenziele ausgerichtet sind, ist die Verunsicherung der Unternehmen groß und die Motivation für Investitionen in emissionsärmere Technologien klein.
Crossborder Journalism Campus Dieser Beitrag entstand im Rahmen von "Crossborder Journalism Campus", einem Erasmus+-Projekt der Universität Leipzig, der Universität Göteborg und des Centre de Formation des Journalistes in Paris. Unter Mitarbeit von: Nicolás Berlinger, Jakob Ranglin Grissler, Jonas Linde, Solène Du Roy, Mahmoud Naffakh, Yann Doree, Hadrien Valat.
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