Tag der Geschwister Geschwister: Vertraute oder Rivalen?
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17. April 2023, 10:04 Uhr
Wer Geschwister hat, weiß: Kaum eine Beziehung ist widersprüchlicher und einzigartiger als diese. Engste Vertraute, Spielgefährten, härteste Rivalen. All das können Brüder und Schwestern füreinander sein und dabei unglaublich viel voneinander lernen. Kein Wunder, dass sich auch die Forschung für diese besondere Liaison interessiert. Viele Thesen wurden aufgestellt, bewiesen und widerlegt. Doch wieviel wissen wir über die wohl längste Beziehung unseres Lebens?
Schon Sigmund Freud und seine Kollegen interessierten sich vor gut hundert Jahren dafür, wie Geschwister unsere Entwicklung und damit unser Leben beeinflussen. Welche Rolle spielt der Platz, den wir in der Reihenfolge der Geburt einnehmen? Sind Erstgeborene schlauer, Sandwichkinder in der Mitte durchsetzungsfähiger und die Letztgeborenen draufgängerischer? Was macht diese nicht freiwillig gewählte Beziehung so besonders?
These 1: Geschwister als Entwicklungsmotor
Was Geschwister neben dem gemeinsamen Alltag miteinander verbindet, sind zum Beispiel ein vertrauensvolles Miteinander, das kooperative Spiel und die gemeinsame Bewältigung von Problemen. Aber Brüder und Schwestern suchen wir uns nicht aus und wir sind ihnen im Gegensatz zu gleichaltrigen Klassenkameraden und Freunden im Hinblick auf die Entwicklung nicht ebenbürtig. Geschwister leben also in einem Macht- und Kompetenzgefälle, in einer asymmetrischen Beziehung. An dieser Tatsache scheiden sich die Geister der Entwicklungstheoretiker: Piaget, Sullivan und Youniss argumentieren, unter diesen Umständen würde der unterlegene Interaktionspartner das Verhalten des überlegeneren unreflektiert übernehmen. Andere wie Vygotsgy und Rogoff hingegen gehen davon aus, dass Entwicklungsimpulse eher vom Zusammenspiel mit überlegeneren Interaktionspartnern ausgehen. Eine Analyse verschiedener Studien zum kooperativen Lernen (Azmitia & Perlmutter, 1989) hat ergeben dass es vorteilhafter ist, von einem kompetenteren Gegenüber, also einem älteren Geschwisterkind zu lernen. Welchen Einfluss Brüder und Schwestern darüber hinaus auf die Entwicklung nehmen können und welche Studien es dazu gibt, ist unter anderem im Online-Familienhandbuch des Staatsinstituts für Frühpädagogik und Medienkompetenz nachzulesen.
These 2: Sag mir an welcher Stelle du bist und ich sage dir, was aus dir wird.
Zahlreiche Studien stellen einen Zusammenhang zwischen dem Platz im Geschwisterreigen und den persönlichen Stärken und Schwächen her, zumindest statistisch. So kam der Psychologe Brent Roberts von der University of Illinois in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis: Erstgeborene sind schlauer als ihre jüngeren Geschwister, gemessen am Intelligenzquotienten allerdings nur um einen Prozentpunkt. Das ergab die Auswertung der Daten von 272.003 Schülern. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt ein Team der University of Edinburgh: Die Forschenden begleiteten rund 5.000 Kinder bis zu ihrem 14. Lebensjahr und testeten sie alle zwei Jahre auf ihre Lesefähigkeiten und ihr Vokabelwissen. Dabei zeigte sich, dass die kognitiven Fähigkeiten der Erstgeborenen besser ausgebildet waren als die ihrer jüngeren Geschwister, wenn auch nur gering.
Erklärungsversuch: Stärkere Aufmerksamkeit der Eltern ist der Schlüssel
Studienleiterin Ana Nuevo-Chiquero vermutet, dass Eltern dem ersten Kind in der Familie mehr Aufmerksamkeit schenken und es dadurch stärker fördern. Dieser Erklärungsansatz fußt auf dem familiendynamischen Modell des US-Psychologen Frank Sulloway. Er geht davon aus, dass Erstgeborene von Natur aus stärker und intellektuell besser entwickelt sind, weil sie die volle Aufmerksamkeit der Eltern erfahren haben. Seiner Theorie zufolge gilt es, diesen Status zu erhalten und sich entsprechend "anzustrengen". Im Gegensatz dazu müssten die jüngeren Geschwister alles dafür tun, um die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zu lenken und sei es durch eine größere Risikobereitschaft. Auch im Sport wurde diese These schon untersucht. So konnten Sulloway und Zweigenhaft 2010 in einer Metaanalyse zeigen, dass jüngere Geschwister häufiger potenziell riskantere Sportarten wählen als ältere. Außerdem verglichen sie 700 Brüder, die in der amerikanischen Major League Baseball spielen. Später Geborene führten dabei etwa zehnmal häufiger eine besonders riskante Spielaktion aus, das sogenannte Base stealing.
Dass die Risikobereitschaft jedoch nicht bis ins Erwachsenenalter reiche, zeigte 2019 ein deutsch-spanisches Forscherteam um Ralph Hertwig, Daniel Schnitzlein, Renato Frey und Tomás Lejarraga. Ihre Resultate veröffentlichten sie im Fachblatt PNAS. Zwar müssten die Jüngeren in der Kindheit ihren körperlichen und geistigen Rückstand zu den größeren Geschwistern ausgleichen. Im Laufe des Lebens aber gleiche sich dieser an und dann sei es nicht mehr zwingend nötig, mehr Risiken einzugehen, erklären die Wissenschaftler.
These 3: Das Geschlecht der Geschwister beeinflusst die Persönlichkeitsentwicklung
Der Tenor bisheriger Studien: Geschwister lernen voneinander und nehmen dabei auch sogenannte geschlechtskonforme Verhaltensweisen des andersgeschlechtlichen Geschwisters an: Merkmale, die in der Gesellschaft als "typisch männlich" oder "typisch weiblich" beschrieben werden. Oder sie verhalten sich genau entgegengesetzt, zur Abgrenzung vom Geschlecht des Geschwisters. In beiden Fällen würde das Geschlecht der Geschwister die Persönlichkeitsentwicklung indirekt beeinflussen.
Eine Forschungsgruppe der Uni Leipzig und ein Team aus Zürich und Neuseeland hat diesen Zusammenhang erneut untersucht und dafür zwölf Langzeiterhebungen mit Daten von knapp 86.000 Menschen verschiedener Staaten ausgewertet. Sie gaben Aufschluss über die Zusammensetzung der Geschwister der Befragten und ausgewählte Persönlichkeitsmerkmale wie Risikotoleranz, Vertrauen, Geduld, Offenheit für Erfahrungen oder Gewissenhaftigkeit.
Das Ergebnis: Das Geschlecht der Geschwister ist für die Persönlichkeitsentwicklung unerheblich. Studienmitautorin Julia Roher von der Uni Leipzig sagt: "Unsere Ergebnisse widerlegen die Idee, dass das Aufwachsen mit Brüdern oder Schwestern dazu führt, dass wir langfristig bestimmte Persönlichkeitseigenschaften entwickeln, die in einer Gesellschaft als 'typisch weiblich' oder 'typisch männlich' gelten."
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Ricarda Stephan, die an der Hochschule Merseburg in ihrer Bachelorarbeit der Frage nachging: Wie stark beeinflusst das Aufwachsen mit Geschwistern unseren späteren Erfolg in Paarbeziehungen? Ihre Antwort: Kaum! Ihre Vermutung: Wie sich Menschen in späteren Paarbeziehungen verhalten, hängt wahrscheinlich eher davon ab, was Eltern oder andere relevante Bezugspersonen vorleben.
Für die Zukunft wünscht sie sich, dass sich die Geschwisterforschung von den einfach zugeschriebenen Merkmalen bestimmter Geschwisterpositionen verabschiedet und sich stattdessen stärker auf die Persönlichkeitsmerkmale der Kinder fokussiert. Und die Umstände, unter denen sie aufwachsen – wie zum Beispiel auf die Beziehungs- bzw. Ehezufriedenheit der Eltern, die ethnische Abstammung, die Religionszugehörigkeit oder auf die Qualitätsmerkmale der Eltern-Kind- und der Geschwisterbeziehung.
krm
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT | 10. April 2023 | 08:40 Uhr
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