Tag der Geschwister Die längste und widersprüchlichste Beziehung unseres Lebens
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10. April 2022, 05:00 Uhr
Wir können sie uns nicht aussuchen und wir können ihnen nicht kündigen: Brüder und Schwestern, die wir lieben und mit denen wir streiten. Was macht diese Beziehung so besonders und wie prägt sie uns?
In Deutschland wachsen mehr als Dreiviertel der Kinder mit Geschwistern auf. 2021 waren es laut aktuellen Zahlen des Statistischem Bundesamtes 75,4 Prozent der unter 18-Jährigen und damit ähnlich viele wie bereits seit 20 Jahren. Der Alltag mit Geschwistern ist ein Wechselbad der Gefühle. Von inniger Liebe und ausgelassener Fröhlichkeit über erbitterten Streit und taktischen Konkurrenzkampf ist meist alles dabei. Dennoch möchten laut einer Umfrage nur drei Prozent der Erwachsenen ein Einzelkind sein und 52 Prozent gaben an, ihren Bruder oder ihre Schwester zu lieben, 42 Prozent, gern mit ihnen zu teilen. Was uns derart miteinander verbindet ist, dass wir als Kinder mit unseren Geschwistern die meiste Zeit verbringen, dass wir Erlebnisse miteinander teilen.
Geliebte Rivalen, zum Fressen gern
Dabei sind Geschwister nicht nur Verbündete, sondern – evolutionsbiologisch gesehen – auch Rivalen, die um beste Bedingungen und die meiste Aufmerksamkeit der Eltern kämpfen. Nicht ganz so brutal wie der Nachwuchs im Tierreich, wo das Blaufußtölpelküken seine Geschwister tötet, wenn das Futter nicht für alle reicht. Adelphophagie heißt das wissenschaftlich und stammt aus dem Griechischen von adelphoi = Geschwister, und phagos = Fresser. Bei den Bullen- und Sandtigerhaien kommt das schon im Mutterleib vor: uteriner Kannibalismus, wenn der eigene Dottervorrat alle ist, müssen die Geschwister herhalten. Dagegen ist der Kampf der Ferkel mit Bissen um die milchreichsten Zitzen schon fast als sportlicher Wettkampf anzusehen.
Aber zurück zu uns, wo das Miteinander zwischen Liebe und Konkurrenz uns auch hilft, soziales Verhalten zu trainieren. Kann ich Nähe genießen? Wie gehe ich mit Ablehnung und Konflikten um? Wie funktioniert Versöhnung? Der Schatz an Gefühlen, Denkmustern und Handlungsstrategien, den wir mit Geschwistern entwickeln, werde zum Grundmuster für den Umgang mit der Welt, schreibt der Schweizer Psychologe Jürg Frick in einem seiner Bücher über Geschwisterbeziehungen.
Ene Mene Mu, an welcher Stelle bist du?
Ob sich Kinder je nach Platz in der Geschwisterreihenfolge unterschiedlich entwickeln, das interessierte schon Sigmund Freud und seine Kollegen vor 100 Jahren. Auch sie kamen in ihren Überlegungen zu keinem einhelligen Ergebnis und so ist es bis heute geblieben. Sind Erstgeborene schlauer, Sandwichkinder in der Mitte durchsetzungsfähiger und Letztgeborene draufgängerischer? Diese Fragen lassen sich vielleicht statistisch beantworten. Aber im Hinblick auf die Ursachen für mögliche Unterschiede können auch die Wissenschaftler nur mutmaßen. Zu viele Faktoren spielen eine Rolle: mit welchen genetischen Voraussetzungen wir ausgestattet sind, wie wir aufwachsen, wie uns unser Umfeld prägt.
Erstgeborene: Schlauer oder nicht?
Ja, aber nur gering. Psychologe Brent Roberts von der University of Illinois kam mit seiner Studie zu dem Ergebnis: Der Unterschied ist da, aber verschwindend gering. Der Intelligenzquotient der Erstgeborenen lag seinen Erhebungen zufolge gerade einen Prozentpunkt über dem der nachfolgenden Geschwister. Zwar seien die "Großen" ein wenig verantwortungsbewusster, gewissenhafter, dominanter und weniger ängstlich, aber auch das verschwindend gering. Roberts und sein Team hatten dazu die Daten von 272.003 Schülern ausgewertet. Allerdings waren nicht die Geschwister innerhalb einer Familie miteinander verglichen worden, sondern immer Gleichaltrige.
Ein Team der University of Edinburgh kommt mit seiner Untersuchung zu einem ähnlichen Ergebnis: Die Forschenden begleiteten rund 5.000 Kinder bis zu ihrem 14. Lebensjahr und testeten sie alle zwei Jahre auf ihre Lesefähigkeiten und ihr Vokabelwissen. Dabei zeigte sich, dass kognitiven Fähigkeiten der Erstgeborenen besser ausgebildet waren als die ihrer jüngeren Geschwister, wenn auch nur gering Studienleiterin Ana Nuevo-Chiquero vermutet, dass Eltern dem ersten Kind in der Familie mehr Aufmerksamkeit schenken und es dadurch stärker fördern.
Wer im Geschwisterreigen macht Karriere?
Das lässt sich natürlich nicht vorhersagen. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock haben jedoch herausgefunden, dass Erstgeborene die Studienfächer mit größeren Karrierechancen wählen. Für ihre Untersuchung werteten sie Daten von rund 146.000 schwedischen Studierenden aus. Das Ergebnis: Die Wahrscheinlichkeit für ein zweitgeborenes Kind, Medizin zu studieren, ist um 27 Prozent kleiner als für das große Geschwisterkind. Ein drittes Kind wird sogar zu 54 Prozent weniger wahrscheinlich diesen Weg einschlagen. Dagegen wählen jüngere Geschwister mit höherer Wahrscheinlichkeit Kunst als Studienfach.
Eltern investieren mehr in die zuerst geborenen Kinder.
So erklärt Studienautor und Bevölkerungsforscher Kieron Barclay die Unterschiede. Er geht davon aus, dass dieses Verhalten die Fähigkeiten und Ambitionen der Kinder prägt. Außerdem profitierten sie von der exklusiven Zuwendung durch die Eltern in der Zeit als Einzelkind. Explizit untersucht haben die Forscher die Ursachen jedoch nicht. Auch wie die Berufswahl ausfällt, wenn die Kinder keinen akademischen Weg einschlagen, bleibt offen.
Darum gibt es den Tag der Geschwister
Was Geschwister unterscheidet, ist das eine. Was uns verbindet, ist das andere. Dieser Gedanke hat wohl auch Claudia A. Evart dazu veranlasst, den 10. April zum Tag der Geschwister zu erklären, als Ergänzung zum Mutter- und Vatertag und in Erinnerung an ihre Geschwister Alan und Lisette, die sie durch einen Verkehrsunfall verloren hat.
krm
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