Bilanz des 9-Euro-Ticket Arm, Reich, Singles und Familien: 9-Euro-Ticket holte alle in den öffentlichen Nahverkehr
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02. September 2022, 16:54 Uhr
Der Klimaeffekt des 9-Euro-Tickets war wahrscheinlich klein, dafür der Sozialeffekt aber groß: Nach der Coronaflaute holte das einfache, günstige Ticket die Deutschen zurück in den öffentlichen Nahverkehr.
Ein kurzes Geschenk der Bundesregierung oder ein langfristiger Beitrag zur Verkehrswende? Was das 9-Euro-Ticket gebracht hat, dazu haben Wissenschaftler noch nicht alle Daten ausgewertet. Doch ein paar Effekte sind überdeutlich zu Tage getreten. "Es hat den öffentlichen Nahverkehr nach zwei Jahren Pandemie wieder cool gemacht", sagt Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin. Waren Züge und Busse wegen Corona leer, wurden sie durch das 9-Euro-Ticket wieder voll.
Bestechend einfach: Fast alle konnten das 9-Euro-Ticket verstehen
Noch liegen zwar nicht alle Daten von allen Verkehrsunternehmen vor, so der Leiter der Forschungsgruppe "Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung", aber mindestens bei der DB Regio, der Nahverkehrsgesellschaft der Bahn, habe sich ein deutlicher Zuwachs von über 20 Prozent bei den Fahrgästen im Sommer gezeigt.
Sein größter Vorteil war die Einfachheit
"Sein größter Vorteil war die Einfachheit", sagt Claudia Nobis, die mit ihrem Team am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt die Deutschen vor und während der 9-Euro-Ticket-Zeit zu ihrem Mobilitätsverhalten befragt hat. Die Antworten zeigten: Das Ticket wurde von allen Schichten, allen Alters- und Einkommensgruppen und unabhängig vom Bildungsstatus gekauft und genutzt. "Ende Juni kannten 90 Prozent unserer Befragten das Ticket und über 60 Prozent gaben an, es im Detail verstanden zu haben." So hohe Werte habe bisher kein anderes Nahverkehrsangebot erreicht.
Ländlicher Raum: Fehlender Nahverkehr trifft auf hohe Autoorientierung
Auch Nobis und ihre Kollegen stellen fest, dass das Ticket ein paar Wunden der Pandemie heilen konnte. Die Vielfalt der genutzten Verkehrsmittel war während der Pandemie stark zurückgegangen, weil Menschen nur noch ihr eigenes Auto oder Fahrrad nutzten. Durch das 9-Euro-Ticket sehe die sogenannte Multimodalität, also der Mix verschiedener Verkehrsmittel, in etwa wieder so aus wie vor Corona.
Klar ist allerdings auch: Die Nutzung hing stark vom Angebot ab. "In ländlichen Gebieten, wo der Bus nur selten kommt, gab es kaum Effekte durch das Ticket", sagt Andreas Knie. Dort seien öffentliche Verkehrsmittel abseits von Ausbildungs- und Schülerverkehren weiterhin kaum bedeutend. Das fehlende Angebot treffe auf eine hohe Orientierung auf das Auto als zentrales Verkehrsmittel. "Über 90 Prozent der Haushalte im ländlichen Raum haben mindestens ein Auto", sagt Claudia Nobis.
Schnupperverkehr: 9-Euro-Ticket lockte alle Schichten in Busse und Bahnen
Zugleich sei die Nutzung auf dem Land aber nicht null gewesen. Und: Je besser das Angebot, desto mehr Nutzer, das gelte auch für den Vergleich innerhalb der Großstädte, sagt Mark Andor vom RWI Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen. Seine Arbeitsgruppe hat auch erste Berechnungen zum Klimaeffekt angestellt, kommt hier aber nur auf ein moderates Ergebnis. Zwischen 200.000 und 700.000 Tonnen CO2 seien eingespart worden, nicht all zu viel. "Die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel hat stark zugenommen, das Autofahrverhalten ist aber nicht stark zurückgegangen."
Die Forschenden sind sich aber auch einig, dass die Frage, ob Menschen durch das Ticket vom Auto auf die Bahn umgestiegen sind, kaum zu beantworten ist. Denn durch die gleichzeitig stattfindenden Sommerferien und Urlaube in vielen Bundesländern gab es parallele Verschiebungen, so dass sich die verschiedenen Effekte kaum voneinander trennen lassen. "Wegen dem 9-Euro-Ticket hat niemand sein Auto abgeschafft, aber es gab viele Schnupperverkehre", sagt Andreas Knie. Menschen, die lange Zeit nicht mehr im öffentlichen Verkehr unterwegs waren, seien durch das Ticket wieder einmal eingestiegen. Bei einem langfristig eingerichteten Angebot könnte das aber anders aussehen, glaubt Knie.
Nur 4 Prozent würden sich regelmäßig ein 69 Euro Ticket kaufen
Wie aber könnte ein Nachfolger für das 9-Euro-Ticket aussehen? "Ein einheitliches Ticket mit einem attraktiven Preis für ein Gesamtpaket ist für die Planung im Kopf total entscheidend, auch wenn ich nur einen Teil davon nutze", sagt Andreas Knie. Denn viele Menschen hätten das Ticket zwar nur regional genutzt, aber die Möglichkeit, überall im Land damit zu fahren sei dennoch wichtig. "In unserer Befragung fanden zwei Drittel die bundesweite Gültigkeit sehr gut, auch wenn deutlich weniger Menschen davon auch Gebrauch gemacht haben", sagt Claudia Nobis. Es sei einfach schön gewesen, sich über Gültigkeitsgrenzen keine Gedanken machen zu müssen.
Ein einheitliches Ticket mit einem attraktiven Preis für ein Gesamtpaket ist für die Planung im Kopf total entscheidend, auch wenn ich nur einen Teil davon nutze.
Ob ein Nachfolge-Ticket Erfolg haben kann, hängt stark von seinem Preis ab. Bei den Befragungen der Forscher haben über 50 Prozent an, sich für 9 Euro auch weiterhin das Ticket zu kaufen. Würde es 29 Euro kosten, wären nur noch 26 Prozent bereit, sich das Ticket zu leisten, bei 69 Euro nur noch vier Prozent. Es sei für Politik und Verkehrsbetriebe ein schwieriger Spagat, zugleich das Angebot auszubauen und beim Preis attraktiv zu sein, sagt Claudia Nobis.
Verkehrswende: Die Autofahrer auch ins Visier nehmen
Die Wissenschaftler glauben, dass eine Reform zugleich den Autoverkehr ins Visier nehmen muss. "Deutschland hängt bei den Klimazielen gerade im Verkehrsbereich weit hinterher. Hier müssen wir etwas tun", sagt Andreas Knie. Gerade Autofahrer seien häufig eine Gratismentalität gewohnt, etwa was das Parken in den Städten angehe. In den meisten Wohngebieten sei Parken kostenlos, obwohl die Pflege der Abstellflächen die Kommunen tausende Euro pro Jahr koste. Ein weiteres Mittel könnte eine Pkw-Maut für Städte sein, schlägt Mark Andor vor, aber eine solche Maut genieße bislang in Umfragen nur eine sehr geringe Akzeptanz.
(ens/smc)
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