Interview mit Emotionsforscher Warum lösen Grusel-Momente Gänsehaut aus?

26. November 2021, 11:39 Uhr

Ein gruseliges Monster erschreckt uns auf der Kinoleinwand, der Protagonist unserer Lieblings-Serie stirbt oder wir hören ein trauriges Lied – und zack – bekommen wir eine Gänsehaut. Aber warum? Eugen Wassiliwizky vom Max-Planck-Institut für Empirische Ästhetik in Frankfurt am Main erforscht unter anderem "ästhetischen Emotionen", also Gefühle, die durch Wahrnehmung der Außenwelt in uns ausgelöst werden. Dabei geht er auch der Frage nach, ob uns Horror und Grusel eine Gänsehaut bescheren.

Herr Wassiliwizky, warum bekommen wir eine Gänsehaut?

Eugen Wassiliwizky, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, im Portait.
Eugen Wassiliwizky untersucht, wie Gänsehaut entsteht und was dabei in unserem Körper und Gehirn passiert. Bildrechte: MDR/Tim Wegner/Eugen Wassiliwizky

Eugen Wassiliwizky: Gänsehaut tritt zum einen auf, wenn uns kalt ist, als Schutzreflex. Das hat physikalische Gründe, die aufgestellten Haare sollen die Wärme im Körper halten. Bei uns Menschen ist das aber nur noch ein Relikt, denn wir haben so wenige Haare, dass das bei uns gar nicht mehr funktioniert. Ein anderes Phänomen, in dem Gänsehaut auch vorkommt, ist die sogenannte Abwehrreaktion, Affective Defense Behavior. Das sieht man im Tierreich sehr gut. Wenn eine Katze oder ein Hund die Haare sträubt, ist das eine Abwehrreaktion: Das Tier soll größer und gefährlicher aussehen dadurch, dass die Haare aufgestellt sind. Auch diese Abwehrreaktion dient also dem Schutz.

Warum können uns auch traurige oder gruselige Filme eine Gänsehaut bescheren, obwohl wir beim Anschauen doch gar nicht in Gefahr sind?

Wassiliwizky: Das ist das Phänomen der emotionalen Gänsehaut: Wir sind zu einem bestimmten Zeitpunkt emotional so überwältigt, dass auf einmal eine Gänsehaut entsteht. Wir nehmen an, dass diese emotionale Gänsehaut im ästhetischen Kontext auch eine Form von Schutz sein soll: Der Körper versucht, sich instinktiv zu schützen gegen etwas, das hereinkommt und irgendwie bedrohlich ist. Diese bedrohliche Komponente ist im Horrorfilm ja ganz einfach zu finden. Schwieriger ist es bei Szenen, die uns bewegen – aber auch da findet man dieses Muster. Rührung ist mit die stärkste Emotion, die Gänsehaut auslöst. Nehmen wir etwa den Film "Titanic": Da stirbt der Protagonist, mit dem ich mich über zweieinhalb Stunden lang identifiziert habe. Das ist schon eine Form von Bedrohung und mein Körper wehrt sich dagegen, ganz instinktiv, auf einem unbewussten Level.

Man kann also sagen: Sinneseindrücke, die uns extrem berühren, führen zu Gänsehaut – egal, ob sie positiv oder negativ sind?

Wassiliwizky: Ja, allerdings ist es bei der Rührung so, dass es sich hierbei um eine sogenannte gemischte Emotion handelt. Das heißt, sie ist nie pur. Zum Beispiel die Szene aus "Titanic", die wir gerade besprochen haben: Das ist eine traurige Szene. Die Traurigkeit steht im Vordergrund, aber der Protagonist opfert sein Leben für ein höheres Gut. Das heißt, da ist auch eine moralische Aufwertung drin. Und damit ist das eine gemischte Emotion.

Das ist auch typisch für bestimmte Sport-Filme: Am Ende gewinnt die Mannschaft endlich, aber der ganze Film besteht eigentlich aus Scheitern. Am Ende sind wir dann positiv gerührt über diesen Sieg, aber ohne das ganze Scheitern vorher wären wir nicht gerührt, das schwingt immer noch mit im Moment des Sieges. Wir gehen davon aus, dass es sich beim Gruseln ähnlich komplex verhalten muss: Wenn wir dabei nur pure Angst hätten, würden wir wahrscheinlich einfach nur weglaufen.

Grusel ist also nicht nur Angst, sondern es steckt noch mehr drin. Was spielt da noch mit hinein?

Wassiliwizky: Beim Gruseln ist die Spannungs-Komponente sehr groß. Wir sprechen in der Psychologie von der Antizipation: Unser Gehirn ist die ganze Zeit damit beschäftigt, die Zukunft vorherzusagen. Während ich spreche, bastelt Ihr Gehirn schon Vorhersagen, welches Wort als Nächstes kommen wird. Und wenn plötzlich ein anderes Wort kommt, ist das Gehirn überrascht. Genauso funktioniert es, wenn wir einen Film anschauen. Unser Gehirn spinnt weiter: Wie könnte es weitergehen? Und dieses Fortspinnen wird natürlich auch begünstigt durch den Film. Filmschaffende setzen da bewusst Zeichen, die mich vorhersagen lassen: So könnte es weitergehen. Und wenn unsere Vorhersagen stimmen, fühlen wir uns belohnt. Das sind Prozesse, die ganz, ganz tief im Gehirn verankert sind. Grusel und viele andere ästhetische Emotionen sprechen also nicht nur höhere kognitive Prozesse an, sondern wirklich ganz, ganz basale Bausteine unserer Neuroarchitektur.

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Ist das auch der Grund, warum man bei einigen Musikstücken an bestimmten Stellen eine Gänsehaut bekommt?

Wassiliwizky: Ja, da sind wir wieder bei der Antizipation: Ich sage etwas vorher, werde aber überrascht, weil es ganz anders weitergeht. Und dass meine Vorhersage nicht zugetroffen hat, beinhaltet wiederum einen Bedrohungsmoment. Wenn wir in die akustische Analyse schauen, dann passiert das häufig bei Momenten, die entweder laut oder harmonisch unerwartet sind.

Es gibt aber noch andere Parameter, etwa das sogenannte Looming. Das bedeutet, dass ein Ton sich ganz plötzlich an mich annähert. Visuell kann man sich das vorstellen wie ein Auto, das plötzlich auf mich zufährt. Und wenn diese Qualität hinzukommt, dann löst auch das Gänsehaut aus. Wir sind also wiederum bei diesem Bedrohungsmoment: Da kommt etwas auf mich zu!

All diese impliziten Prozesse klingen wahnsinnig komplex. Wie untersucht man solche Emotionen, die aus mehreren Bausteinen bestehen?

Wassiliwizky: Ja, vielleicht ist das auch der Grund, warum das Thema so lange liegengeblieben ist. Es gab einfach sehr lange Zeit nicht die Methoden, die notwendig sind, um das zu untersuchen. In unseren Studien messen wir zum einen die Kontraktion von bestimmten Gesichtsmuskeln. Am unteren Teil unserer Stirn sitzt ein Muskel, der sogenannte musculus corrugator. Und der kontrahiert, wenn wir negative Emotionen erleben. Das ist unser Indikator dafür, dass die Person gerade etwas erlebt, was emotional unangenehm ist.

Gleichzeitig messen wir aber auch, was im Belohnungszentrum der Person passiert. Das heißt, die Person liegt im Kernspintomografen, schaut sich eine bewegende oder eine gruselige Filmszene an, und wir beobachten: Was passiert im Gesichtsausdruck und was passiert im Belohnungszentrum? Das eine bildet die positiven Emotionen ab, das andere die negativen. Und so können wir untersuchen, ob da tatsächlich eine Gleichzeitigkeit gegeben ist von diesen antithetischen Bausteinen.

Wie kommt dabei dann die Gänsehaut ins Spiel?

Wassiliwizky: Hier haben wir eine spezielle Kamera gebaut, eine Gänsehaut-Kamera. Sie ermöglicht es, ganz genau zu erfassen, zu welchem Zeitpunkt die Person eine Gänsehaut hat. Dafür untersucht eine Software jedes einzelne Bild der aufgenommenen Videos auf eine bestimmte Frequenz. Bei Gänsehaut entstehen ja diese kleinen Hubbelchen auf der Haut. Das bedeutet, dass eine bestimmte neue Frequenz im Bild auftaucht. Und wenn es glasklar ist, dass diese Frequenz auf einmal reingekommen ist, dann haben wir eine sehr starke Gänsehaut und einen sehr starken Ausschlag.

Zusätzlich schauen wir, was in dem Moment bei den anderen Parametern passiert und natürlich auch, welchen Stimulus die Person gerade sieht. Zum Beispiel bei einer Horror-Filmszene: War da so ein Jump-Scare-Moment, also ein Schreck-Moment? Das können wir zurückverfolgen, wenn wir die Gänsehaut objektiv mit der Kamera gemessen haben. Dass Emotionen Gänsehaut auslösen können, wissen wir mit Sicherheit übrigens nur von der Rührung. Bei Horror gibt es bisher nur Vermutungen, aber ob auch da tatsächlich Gänsehaut entsteht, wurde bisher nicht bewiesen. Genau das untersuchen wir – und die ersten Ergebnisse zeigen, dass es auch so etwas tatsächlich gibt.

Sind manche Menschen "anfälliger" für Gänsehaut als andere?

Wassiliwizky: Es gibt in der Persönlichkeits-Psychologie zum Beispiel den Faktor "Offenheit für neue Erfahrungen". Einige Leute haben eine sehr, sehr große Offenheit für neue Erfahrungen, andere halten sich eher zurück und bleiben bei den ihnen vertrauten Erfahrungen. Und das ist tatsächlich auch ein Vorhersage-Faktor, ob jemand eine Gänsehaut bekommt oder nicht.

Die Leute schauen sich 30 Horror-Filmclips an, und ich erhebe nach der Studie unter anderem auch bestimmte Faktoren der Persönlichkeitsstruktur. Und dann sehe ich: Aha, die Leute, die Gänsehaut haben, das sind auch die, die eine besonders hohe Offenheit für Erfahrungen haben. Diese Ergebnisse sind aber rein korrelativ, nicht kausal. Sprich: Wo das genau herrührt, ob das eine zum anderen führt oder andersherum, kann man nicht sagen.

Das klingt ja, als könnte man mit Hilfe Ihrer Forschungsergebnisse den perfekten Horror-Film oder den perfekten Song komponieren – mit ganz vielen Gänsehaut-Momenten.

Wassiliwizky: Ich bekomme sehr viele Anfragen, auch aus der Industrie: Wie kann man das nutzen? Wie kann man das einsetzen? Wie kann man da diesen Nervenkitzel noch stärker machen? Musik-Plattformen zum Beispiel könnten so lernen, Algorithmen zu entwickeln, die zu einzelnen Personen passen, indem sie Gänsehaut als sehr starken Marker nutzen. Man könnte sich einfach eine Minikamera wie eine Uhr ums Handgelenk schnallen, die misst ein paar physiologische Daten wie etwa die Gänsehaut und sagt Ihnen dann: Mensch, hör dir doch mal dieses Lied an! Also das Interesse ist sehr, sehr groß. Aber für mich steht als allererstes einfach die ganz plakative Neugierde auf dem Plan: Der Wunsch, zu verstehen, warum wir Gänsehaut bekommen.

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