Deutschland-Doppel: Wende und Pendeln Eine deutsch-deutsche Geschichte der Arbeitswege
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18. Februar 2021, 11:09 Uhr
Unser Deutschland-Doppel hat zwei Landkreise zusammengebracht, die sich zum einen durch ihre geografische Lage in den Ausläufern der Mittelgebirge rein landschaftlich ähneln, zum anderen auch eine fast identische Pendelquote aufweisen: der Main-Kinzig-Kreis und der Landkreis Mansfeld-Südharz. Dort wird überdurchschnittlich häufig zu einem weiter entfernten Arbeitsplatz "ausgependelt". Aber es fällt schnell auf, wie unterschiedlich trotzdem die Erfahrungswelten sind.
Jörg Stemmler sitzt in seinem Büro in Halle. Er ist Marketingchef eines beruflichen Bildungszentrums für Blinde und Sehbehinderte – ein Job, für welchen er täglich aus seiner Heimatstadt Hettstedt im Landkreis Mansfeld-Südharz hin und wieder zurück pendelt. Für Stemmler ist das kein Problem. Er macht seinen Job gerne, zeigt auf seinem Rechner stolz ein Video, welches er über die Arbeit des Bildungszentrums in Eigenregie gedreht hat. Mit der Kamera kann Jörg Stemmler umgehen, das sieht man sofort. Seit vielen Jahren ist er passionierter Tierfotograf, bereist die Welt auf der Suche nach Grizzlybären beim Lachsfang oder nach Greifvögeln, deren Sturzflüge er mit dem Teleobjektiv gekonnt einfangen kann. Weit fahren muss er dafür aber nicht. Vor Ort in seinem Heimatkreis gibt es viele seltene Vogelarten, die er besonders in einem verwilderten Obsthain vor die Kamera bekommt. Ein kleiner Garten Eden, wie er abseits des Mikrofons verrät. Der genaue Standort bleibt natürlich sein Geheimnis – wenn er nicht gerade befreundete Tierfotografinnen und -fotografen aus ganz Europa dorthin mitnimmt. Stemmler versucht, "seinen" Landkreis in Worte zu fassen …
"Flüchtig betrachtet ist der Landkreis Mansfelder Land, also Mansfeld-Südharz, meine ich, gar nicht so der schöne Landkreis, aber wenn man ins Detail geht, dann hat er extrem interessante Facetten. Eine davon ist auch klimatisch bedingt durch den Harz, der da im Westen ist. Dadurch ist es bei uns sehr trocken. Das mag den einen oder anderen Bauern sicher nicht so erfreuen, aber für mich als Hobby-Ornithologen ist das ideal. Das sind praktisch Bedingungen wie in der Toskana. Und es ist ein Landkreis mit einer gewissen Tradition. Die drei Landkreise, die da zusammengebunden wurden, sind so das typische alte Bergbaugebiet. Das prägt natürlich die Menschen und überhaupt alles, was da so abgeht."
… und da hat er sich gleich zu Beginn verquatscht. "Mansfelder Land" sagt Stemmler, so wie alle hier, denn der offizielle Name "Landkreis Mansfeld-Südharz" ist für seine Bewohnerinnen und Bewohner vielleicht immer noch ein wenig ungewohnt. In der jetzigen Form zusammengeschlossen war der Kreis nicht immer, obwohl die Menschen des Landstrichs – neben der religionsgeschichtlichen Selbstverortung durch Martin Luther und Thomas Müntzer – vor allem durch den von Stemmler angesprochenen Bergbau schon lange miteinander verbunden sind. Wie viele junge Menschen aus dem Mansfelder Land hatte auch er einst ein Studium absolviert, mit dem er beruflich irgendwo im Bergbau hätte unterkommen können: Er ist Diplomphysiker. Aber irgendwie kam dann ja doch alles ganz anders.
"Ich habe einen Job, mit dem ich mein Geld verdiene – das ist in Halle und das ist sicher irgendwann auch mal aus der Not heraus entstanden. Das muss man ganz klar sagen. Ich hätte gerne irgendwo in der Forschung gearbeitet, aber diese ganze Bergbau-Industrie und alles was da dranhing … da ging ja vieles kaputt nach der Wende und dementsprechend war die Arbeitslosigkeit gigantisch. Und jetzt gab's zwei Möglichkeiten: Man geht irgendwo anders hin, vielleicht in die alten Bundesländer, wo die Arbeitssituation besser war, oder man findet was in der Nähe und das war eben in Halle der Fall."
Rund zweieinhalb Wochen nur pendeln – pro Jahr
Für den Job in Halle ist Stemmler bereit, täglich zwei Stunden zu pendeln. "Jetzt muss ich mal kurz auf meine Steuererklärung gucken", witzelt er, "genau zweiundfünfzig Kilometer!" Und als gelernter Physiker rechnet er das Ganze natürlich auch noch auf seine Arbeitstage hoch. Das Ergebnis: Rund zweieinhalb Wochen Lebenszeit verbringt er jährlich nur im Auto. Viel Zeit für die gesellschaftliche Teilhabe im Mansfelder Land bleibt da nicht.
"Ich fahre früh halb sieben zu Hause weg und komme in aller Regel abends erst um sieben wieder nach Hause. Ich erlebe gar nicht so viel von dem Landkreis – außer, dass ich durchfahre. Und dann bin ich halt zu Hause. Dann merke ich nicht mehr, ob das jetzt im Kreis Mansfeld-Südharz ist oder vielleicht im Nachbarlandkreis. Ich wohne da, ich finde das auch nicht schlecht, aber ich mache mir da auch keine riesigen Gedanken. Also … ich gehe auch immer zur Wahl, da habe ich schon eine Meinung und es ist nicht so, dass ich alles dem Selbstlauf überlasse, aber meine Arbeitskraft und meinen gesellschaftlichen Beitrag leiste ich hier in Halle."
Zustand des ÖPNV ärgerlich
Besonders große Lust auf langen Aufenthalt in den Innenstädten des Mansfelder Landes habe Stemmler aber auch nicht, ergänzt er noch, weil ihn dort vieles störe. Besonders der Zustand des ÖPNV in Hettstedt ärgere ihn ziemlich. Mit der Bahn pendeln sei für ihn allein deswegen keine Option, weil der einzige Parkplatz am Bahnhof zu einer Spielbank gehöre und er nicht riskieren wolle, am Ende dort noch abgeschleppt zu werden. Ein wenig sei es wie im US-amerikanischen Hinterland, meint er, wo man draußen nur noch "mit gesenktem Blick" unterwegs sein kann – wobei er bei dem Vergleich dann doch auch selbst ein wenig lachen muss.
Wildwest in Mitteldeutschland. Mit einem gewissen Galgenhumor scheinen es hier viele zu nehmen, allen voran das Comedy-Duo Elsterglanz aus Eisleben. In einer von ihnen – mit eigenem Text in Mansfelder Mundart – nachsynchronisierten Parodie einer Szene aus dem Actionklassiker Rambo heißt es gleich zu Beginn mit unverkennbar kratziger Stimme: "Ach Rambo, hier is alles tot nach dor Wende!" Seinen persönlichen Humor träfe Elsterglanz aber eher weniger, meint Stemmler.
Zusammenbruch der Arbeitssituation nach der Wende
Ganz anders sieht es das pensionierte Ehepaar Horst und Sigrid Launert, ehemals Schulleiter und Kunstlehrerin hier im Landkreis. Besonders letztere als gebürtige Mansfelderin – und damit ist nun wirklich einmal die fürs Mansfelder Land namensgebende Stadt Mansfeld gemeint – kommt ins Schwärmen, wenn es um Elsterglanz geht und fängt an, ebenjene Rambo-Szene lose zu zitieren. Die Launerts sitzen in ihrem Wintergarten in Allstedt und erinnern sich an damals, als sie ihre Schülerinnen und Schüler direkt in den Bergbau und die damit untrennbar verknüpfte Industrie vor Ort entließen. Nach dem Ende der DDR mussten sie ihre Klassen plötzlich auf die komplett umgekrempelte Arbeitswelt eines wiedervereinigten Deutschlands vorbereiten, inklusive dem Niedergang vieler Betriebe im Zuge der schnellen Privatisierung.
Pendeln, so viel kann man nach den ersten Gesprächen mit Menschen im Mansfelder Land sagen, ist kein Thema, über welches hier vordergründig gesprochen wird. Man schweift schnell ab in die Vergangenheit: zu den für viele Mansfelderinnen und Mansfelder immer noch traumatischen Erfahrungen der zusammenbrechenden Arbeitssituation im Landkreis – fast schon personifiziert in der Institution der Treuhand, wie so oft in den nun-nicht-mehr-ganz-so-neuen Bundesländern. Gesprochen wird vor allem über die in den Westen abgewanderten Facharbeiterinnen und Facharbeiter – nicht zuletzt über die Heimgekehrten. Doch auch, wenn es sich ein wenig unter dem Radar abspielt: Wer hier im Landkreis Mansfeld-Südharz geblieben ist und vor Ort den Arbeitsplatz verloren hat, musste in den dreißig Jahren seit der Wiedervereinigung oft viele Lebenswochen für die Fahrt zum Arbeitsplatz in den nächstgelegenen Großstädten aufwenden – so wie Jörg Stemmler. Das zeigt die Statistik.
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