Covid-19 Modellsimulation: Kommende Maßnahmen entscheiden über Hunderttausende Menschenleben

19. November 2021, 12:15 Uhr

Eine komplexe Modellsimulation zeigt: Ohne neue Einschränkungen würden in Deutschland im Laufe der vierten Welle mindestens 200.000 Menschen mehr sterben als bei einer Notbremse wie im Frühjahr.

Selten sind Wissenschaftler und Mediziner so offen, eindrücklich und auch verbittert mit den Corona-Maßnahmen der jüngeren Vergangenheit ins Gericht gegangen wie am Mittwochabend bei der öffentlich im Internet übertragenen Video-Konferenz mit Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer. Ein Grund für die Verbitterung: Die Wissenschaft sage schon seit Juli, dass die vierte Welle heftiger wird als die vorherigen, wenn die Impfquote nicht hoch genug ist.

Zu den Wissenschaftlern, die schon seit Juli warnen, zählt auch Prof. Dr. Kristan Schneider. Der Experte für komplexe Modellsimulationen an der Hochschule Mittweida hat damals bei MDR WISSEN verschiedene Szenarien für die vierte Welle durchgerechnet. Solche Szenarien sind keine genauen Prognosen, wie die Zukunft aussehen wird. Aber sie zeigen eine Spanne an, aus der hervorgeht, wie viel oder wenig Einfluss bestimmte Maßnahmen auf den Verlauf von Fall- und Todeszahlen haben.

Prof. Dr. Kristan Schneider
Prof. Dr. Kristan Schneider Bildrechte: Kristan Schneider

Jetzt hat er sein Simulationsmodell an die aktuellen Ausgangszahlen angepasst. Fünf neue Szenarien zeigen, wie viele Infizierte und Tote es bei verschieden schweren Einschränkungen im Laufe der vierten Welle in Deutschland geben könnte. Die Szenarien, die er dabei einbezieht, sind:

Szenario 1: Keine Einschränkungen
Alles läuft so weiter wie in den letzten Wochen. Kein Lockdown etc.

Szenario 2: Nur Impfpflicht 12+
Alle über zwölf Jahren lassen sich nach und nach vollständig impfen. Sonst keine Einschränkungen.

Szenario 3: Nur Kitas und Schulen zu
Nur diese Einrichtungen werden geschlossen, sonst kein Lockdown im öffentlichen Leben.

Szenario 4: Notbremse
Notbremsen-Regelung wie im Frühjahr 2021: Inzidenzabhängige harte Lockdowns im öffentlichen Leben inklusive Kita- und Schulschließungen.

Szenario 5: Impfpflicht 12+ und Notbremse
Kombination der Szenarien 2 und 4.

Erkenntnisse, die man aus den Kurven ableiten kann, sind:
1. Ohne Einschränkungen wären auf dem Höhepunkt der Welle mehr als drei Millionen Menschen gleichzeitig infiziert, mehr als sechsmal so viele wie in der zweiten Welle vor einem Jahr.
2. Eine sofortige Impfpflicht für alle hilft für die vierte Welle nur noch wenig.
3. Kitas und Schulen zu schließen, würde die Fallzahlen etwa halbieren.
4. Eine Notbremsenregelung wie im Frühjahr 2021 würde die Welle sehr schnell abebben lassen.
5. Bei Notbremse verbunden mit Impfpflicht wäre die Welle noch niedriger, aber nur ein wenig.

Todeszahlen

So weit zu den reinen Infektionszahlen. Aber was bedeutet das bezogen auf die Todeszahlen? Derzeit stehen wir bei etwa 100.000 Corona-Toten insgesamt in Deutschland. Schlimmstenfalls könnten laut Simulation allein durch die vierte Welle fast 300.000 dazukommen.

Zwei Anmerkungen macht Prof. Schneider zu den errechneten Todeszahlen:
1. Das Modell zeigt den Todeszeitpunkt tendenziell etwas zu früh an. Sterbende liegen vorher oft sehr lange im Krankenhaus. Das wird hier nicht berücksichtigt, ändert aber an den Zahlen bzw. Größenordnungen nichts.
2. Das Modell berücksichtigt nicht, dass die Behandlung in den Krankenhäusern erfolgreicher werden könnte als bislang (neue Medikamente etc.).

Wieder zeigt das Modell, dass eine sofortige Notbremse deutlich am meisten bringt. Die Spanne zwischen den beiden Extremszenarien liegt gemäß Simulation bei 236.000 Menschenleben.

Zur noch deutlicheren Veranschaulichung halten wir diese beiden Extremszenarien (Notbremse und Impflicht vs. keine Einschränkungen) in einem Vergleichsbild fest. Dargestellt sind diesmal die laut Simulation zu erwartenden täglichen Todesfälle. Mit dem Schieberegler können Sie zwischen den beiden Szenarien hin und her wechseln.

Simulation: Vergleich Tote vierte Welle bei Extremszenarien

Altersstruktur Tote bei Impfpflicht 12+ und Notbremse
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Altersstruktur Tote bei Impfpflicht 12+ und Notbremse
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Altersstruktur Tote bei keinerlei Einschränkungen
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Jüngere können Ältere schützen

Die Modellsimulation von Prof. Schneider bezieht auch verschiedene Altersgruppen ein. Und dabei wird deutlich: Egal, welches Szenario am Ende in etwa Realität wird: Pandemietreiber im Sinne der reinen Infektionen werden vor allem die Jüngeren sein. Sterben hingegen werden vor allem Über-60-Jährige. Auch das haben wir in Vergleichsbildern mit Schieberegler festgehalten. Im linken Teilbild sehen Sie jeweils die Altersstruktur der Infizierten, im rechten die der Toten. Die Kurven zeigen auch die Altersstruktur seit Beginn der Pandemie.
Zuerst der Vergleich, wenn es keinerlei Einschränkungen gäbe.

Simulation: Vergleich Altersstruktur vierte Welle bei keinerlei Einschränkungen

Altersstruktur Infizierte bei keinerlei Einschränkungen
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Altersstruktur Infizierte bei keinerlei Einschränkungen
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Altersstruktur Tote bei keinerlei Einschränkungen
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Und im selben Größenmaßstab die Altersstrukturen bei Notbremse und zusätzlicher Impfpflicht.

Simulation: Vergleich Altersstruktur vierte Welle bei Notbremse und Impfpflicht 12+

Altersstruktur Infizierte bei Impfpflicht 12+ und Notbremse
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Altersstruktur Infizierte bei Impfpflicht 12+ und Notbremse
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Altersstruktur Tote bei Impfpflicht 12+ und Notbremse
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In der Modellsimulation wird davon ausgegangen, dass jedes durchgespielte Szenario ab kommenden Montag (22. November) beginnt und bis zum Ende der Simulation durchgehalten wird.
Auch daran wird deutlich, dass es hier nicht um eine konkrete Zukunftsprognose geht. Aber, wie schon oben erwähnt, lässt sich aus der Modellierung ableiten, welche Größenordnungen von Infektionen und Todesfällen die verschiedenen Maßnahmen zur Folge hätten.

Die Politik wird sicherlich auch noch andere Faktoren bei der Entscheidungsfindung einfließen lassen, zum Beispiel die Hospitalisierungsinzidenz. Diese ist in den Augen von Prof. Schneider aber nicht sonderlich brauchbar, weil sie die Auswirkungen der Infektionen nur mit Verzögerung anzeigt – dann, wenn die Infizierten erkranken und sich behandeln lassen. Schneider empfiehlt, weiter die Infektionszahlen als schnelleren und direkteren Indikator zu Rate zu ziehen.

(rr)

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