Adventskalender, Türchen 15 Buchempfehlung: Gründerzeit 1200 – Wie das Mittelalter unsere Städte erfand
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15. Dezember 2024, 05:00 Uhr
Hinter dem eher nüchternen Titel verbergen sich hochspannende Einblicke in ein alles andere als dunkles Mittelalter. Geschichts-Redakteur Alexander Roth empfiehlt ein Buch, an dem nicht nur History-Nerds Freude haben werden.
Zugegeben: Ein gewisses Geschichts-Interesse sollte die oder der zu Beschenkende bei diesem Buch mitbringen, denn: So wirklich sexy klingt das Thema ja nicht. Dabei aber hat es diese Darstellung wirklich in sich – es empfiehlt sich daher, den Konsum der "Zielperson" ein wenig genauer in Erfahrung zu bringen. Finden sich im Podcast-Feed Sachen wie "Alles Geschichte", "Weltgeschichte vor der Haustür" oder auch "Darwin gefällt das" – oder hat im Bücherregal ein dtv-Schulatlas überlebt (der Blaue in zwei Bänden) – dann ist dieses Buch absolut richtig!
Stadt-Gründungsboom im Hohen Mittelalter
Erzählt wird die "urbane Revolution", die den Grundstein legte für die Städte, in denen wir heute leben: "Um 1150 gab es weniger als 200 als städtisch zu bezeichnende Siedlungen im Heiligen Römischen Reich. 100 Jahre später waren es bereits 1.200. Und zwischen 1240 und 1300 wurden jährlich (!) etwa 300 neue Städte gegründet." Wow – das sind Zahlen!
Wer hinter dem Band nun eine eher trockene sozialgeschichtliche Betrachtung vermutet, liegt gründlich falsch: Mit den Städten als Innovations-Zentren und ihrer archäologischen Erschließung lernt man hier im wahrsten Sinne des Wortes "Geschichte von unten" – und wer im Geschichtsunterricht immer schon Zweifel an den Taten "großer Männer" als treibender Kraft geschichtlicher Entwicklungen hatte, wird begeistert sein: So nehmen uns Graichen/Wemhoff mit in die Umwelt- und Klimageschichte, hinterfragen den Einfluss kirchlicher und religiöser Entwicklungen, werten technische und kommerzielle Neuerungen aus oder geben – ein besonders gelungenes Kapitel – Einblicke in die Bedeutung der Entwicklung des Rechts am Beispiel des Sachsenspiegels und des Magdeburger Stadtrechts.
Warum beispielsweise wurde die eine römischen Garnisonsstadt zur mittelalterlichen Metropole (Regensburg) – und die andere zur Wüstung? Welchen Einfluss hatte die Vorstellung des "Himmlischen Jerusalems" auf Stadtplanungen? Wie bestimmten Klimaentwicklungen die Siedlungsgeschichte – vor allem die mittelalterliche Wärmeperiode, die dazu führte, dass an den Hängen des Oslofjords ausgezeichneter Riesling gedieh und in Köln Feigen ohne Winterfestigkeits-Züchtung reiften? Und wie verlief die Geschichte nach Ende dieser Periode um 1300 weiter?
Zwei Wissenschafts-Expert:innen für populäre Themen
An dieser Stelle ein Blick auf Autorin und Autor: Gisela Graichen ist Wissenschafts-Journalistin und Regisseurin mit einem Gespür für massenkompatible Stoffe, hat zu Geheimbünden, der Hanse, den deutschen Kolonien und jeder Menge archäologischer Themen populäre Darstellungen veröffentlicht und Serien wie "Schliemanns Erben" entwickelt. Matthias Wemhoff ist Direktor des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte, gleichzeitig Landesarchäologe und hat in seinem Werdegang nicht nur ebenfalls diverse Fernseh-Dokumentationen, u.a. aus der ZDF-Reihe Terra X, sondern einen Namen als Macher viel beachteter Ausstellungen wie "Die Wikinger" und "Die Germanen".
Mit dem Autorenduo schreiben also zwei, in kapitelweisem Wechsel, die nicht nur wissen, wovon sie reden – Wemhoff etwa greift bei Schilderungen aus Herford auf Erkenntnisse aus Grabungen zurück, an denen er selbst beteiligt war – die beiden wissen auch ganz genau, wie man Lesende durch Anknüpfungspunkte im Heute fesselt. Und wenn diese im Strategiespiel "Siedler von Catan" zu finden sind.
Probleme von heute im Leben von damals
Knappheit von Energieressourcen ist beispielsweise so etwas, wo uns das Mittelalter plötzlich sehr nahe scheint: Schon die Römer mussten in ihrer Zeit an Rhein und Mosel Holz aus den Vogesen und dem Schwarzwald heranschaffen, da die Umgebung von Trier leer gerodet war. Auch mit dem Beginn des mittelalterlichen Städte-Booms 700 Jahre später wird Holz zur Mangelware, sodass bei mancher Beerdigung der Sarg nur noch geliehen und der Verstorbene im Leintuch verscharrt wird. Und erste Regelungen gegen einen zu ausufernden Raubbau eingeführt werden.
All das wird sachlich und gut verständlich präsentiert – und immer wieder mit historischen Schilderungen in Schnurren-Qualität garniert: Etwa, wenn isländische Quellen 1125 berichten, ein Cousin Eriks des Roten (der Vater des Amerika-Fahrers Leif Eriksson) sei von seinem Bauernhof auf Grönland zu einer in Sichtweite gelegenen Weideinsel GESCHWOMMEN. Oder wenn bei einer Stadt-Neugründung an aussichtsreicher Stelle selbst ein Herrscher wie Karl der Große scheitert – weil er die ihm so lästigen Sachsen zu früh für endgültig besiegt wähnt.
Neben den großen Linien, etwa den wirtschaftlichen Verflechtungen und Entwicklungen (u.a. geht es hier um die Hanse als "heimliche Großmacht des Mittelalters") wissen die Autorin und der Autor immer wieder spannende Exkurse einzuflechten – etwa zur Situation der Juden oder auch zu Rolle und Bedeutung von Frauen in den aufstrebenden städtischen Gesellschaften. So konnten um 1200 Frauen in bestimmten Berufen eine Lehre machen und es bis zur Meisterin bringen; Witwen durften ebenfalls gemeinsam mit einem Gesellen das Geschäft des verstorbenen Mannes weiterführen. Und in Köln gab es vor allem im Bereich der Textil-Herstellung eigene Frauen-Zünfte. Eine Entwicklung, die erst in der Frühen Neuzeit zurückgedreht wurde.
Ressourcen-Bewusstsein im "Hölzernen Zeitalter"
Bei dieser Grundlage ist das Buch geradezu unschlagbar als Lieferant für Fun Facts und partytaugliche Anekdoten; um nicht zu viel zu verraten, hier nochmals ein paar Beispiele aus dem Bereich Ressourcen-Management im so genannten "Hölzernen Zeitalter". In Städten verbrauchten nicht nur die Bauhütten Holz, sondern auch Salinen, Bergwerke, Glashütten, Töpfereien und Metallschmelzen, Wagner, Drechsler, Seiler oder Salzsieder. Technik-Historiker haben errechnet, dass man zum Ausschmelzen von einem Kilo Eisen ca. 30 Kilo Holzkohle brauchte - und damit bis zu 200 Kilo Holz. Und: "Wer denkt bei einem Spaziergang durch die Lüneburger Heide daran, dass sie erst durch die Rodungen der Wälder für die Lüneburger Sudpfannen entstand?"
Klar ist: Entsprechende Gegenmaßnahmen hatten natürlich eher wirtschaftliche als Umweltschutz-Interessen. Und dennoch muss hier nun sehr stark sein, wer noch an die gute alte (weil nicht überregulierte) Zeit unter deutschen Blätterdächern glaubt: So richteten im Mittelalter immer mehr Städte Bannforste ein, in denen z.B. keine Ziegen geweidet werden durften, um Schäden durch Verbiss zu vermeiden - und Hunde an die Leine mussten. "Weil Nadelbäume zwar deutlich schneller als Laubgehölze wachsen, aber weniger Futter für Weichtiere bieten, erließ Dortmund 1343 ein ungewöhnliches Gesetz: Hausbesitzer mussten fortan Laubbäume auf ihre Grundstücke setzen." (Die Diskussion um Steingärten lässt grüßen!) Sogar die Ofenlochgröße war mancherorts festgelegt, damit nicht zu langes Holz zum Heizen genommen wurde. Die Strafen für Diebstahl waren drakonisch: Wer Bäume mit verwertbaren Früchten wie Bucheckern fällte, dem drohte das Handabschlagen. Und: "Das Erzbistum Freiburg bestimmte Anfang des 13. Jahrhunderts, wer eine Eiche köpfte, sollte selbst den Kopf verlieren, wer bei ihrer Entrindung zur Gewinnung von Gerbsäure erwischt wurde, bekam die Gedärme aus dem Leib gezogen."
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 04. Dezember 2024 | 16:10 Uhr
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